Raphaela Edelbauer: "Das flüssige Land"
Klett-Cotta, Stuttgart 2019
350 Seiten, 22 Euro
Eine unschuldige Heimat gibt es nicht
05:15 Minuten
Nur auf den ersten Blick ist in Groß-Einland die Welt noch in Ordnung. Im Untergrund rumort es. Raphaela Edelbauers Debütroman "Das flüssige Land" ist für den Deutschen Buchpreis nominiert - vollkommen zurecht, findet Anne Kohlick.
Es beginnt mit einem Schock und exakt 200 Millilitern verschüttetem Kaffee: Ein Polizist ruft an und erklärt Ruth, einer Physikerin Mitte 30, ihre Eltern seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen. So weit, so realistisch der Anfang des Debütromans "Das flüssige Land" von Raphaela Edelbauer.
Doch dann begibt sich die Ich-Erzählerin auf eine Irrfahrt mit dem Auto. Und je weiter sie sich von ihrer Wohnung in Wien entfernt, umso fantastischer und skurriler entwickelt sich die Handlung. Ruths Ziel ist der Heimatort ihrer Eltern, in dem die beiden begraben werden wollten. Sie selbst war noch nie dort und seltsamerweise findet sich die Gemeinde auf keiner Karte.
Gliedmaße wie aufgedunsene Bockwürste
Der Ort Groß-Einland, an den Ruth schließlich gelangt, erinnert in seiner Undurchschaubarkeit an Kafkas "Schloss" und ist der eigentliche Protagonist des Romans. Das pittoreske Städtchen ist Privateigentum einer ominösen Gräfin. Vom Schloss aus herrscht sie über verwinkelte Gassen, saubere Häuschen, umgeben von atemberaubend schöner Natur, in der Ruth zum ersten Mal Heimatgefühle verspürt.
Raphaela Edelbauer beschreibt das von der Außenwelt abgeschiedene Groß-Einland, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint - niemand benutzt Smartphones, das Internet spielt keine Rolle - voll abgründigem Humor und Übertreibung, detailreich mit einer geradezu barocken Erzähllust. Ihre Sätze sind komplex, ihre Vergleiche überraschen. Die Atmosphäre im Wirtshaus? Ganz nah dran an der Fleischertheke: "Durch die getrübte Scheibe konnte ich Schemen heiter zusammengedrängten Menschenfleisches ausmachen – Gliedmaßen, die wie aufgedunsene Bockwürste über den Platten hingen."
Die ganze Stadt ist einsturzgefährdet
Ruth, die Fremde aus der Großstadt, blickt fasziniert und gleichzeitig angewidert auf diese Provinz-Idylle. Schnell wird ihr klar, dass Groß-Einlands schöner Schein trügt. Er wird - im wahrsten Sinne des Wortes - untergraben von einem riesigen Loch, das unter der Gemeinde klafft. Jahrhundertelang haben Bergarbeiter den Boden unter der Siedlung ausgebeutet, immer weiter unterhöhlt, bis nun die ganze Stadt einsturzgefährdet ist. Aber die Groß-Einländer machen weiter, als sei alles normal.
Kollektive Verdrängung ist das Schlüsselthema des Romans. Im Loch sind am Ende des Zweiten Weltkriegs hunderte Zwangsarbeiter verschollen. Ein Massenmord? Wer sind die Verantwortlichen? Diese Fragen interessieren niemanden in Groß-Einland außer der Erzählerin. Aber die Natur rächt sich in dieser Anti-Heimat-Parabel - ähnlich wie in Hans Leberts "Wolfshaut" von 1960 - an denen, die von Schuld nichts wissen wollen. Ihr zünftiger Alltag voller Schnitzel und Frühschoppen bröckelt unter ihren Füßen.
Vergangenheit schwappt in die Gegenwart
Immer wieder unterbricht Raphaela Edelbauer den Erzählfluss, um scheinbar wissenschaftliche Texte über die Dimensionen der Zeit einzustreuen – das Habilitationsthema von Physikerin Ruth. Dann wieder lesen wir gemeinsam mit der Erzählerin in jahrhundertealten Schriften, die sie im Archiv von Groß-Einland aufstöbert. Die Zeitbezüge verschwimmen.
Die Vergangenheit schwappt in die Gegenwart und bleibt untrennbar mit ihr verbunden - das ist die These der 1990 geborenen Autorin. Eine unschuldige Heimat kann es in Österreich deshalb nicht geben, genauso wenig wie einen Schlussstrich unter der NS-Geschichte. Ein starkes Statement in einem Roman von surreal-schnörkeliger Schönheit, zurecht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.