Vanessa E. Thompson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Sie forscht und lehrt im Bereich der kritischen Rassismus- und Migrationsforschung, postkolonial-feministischen Theorien sowie den Black Studies. In ihrem aktuellen Projekt analysiert sie Formen des Polizierens von Schwarzen Menschen in Europa.
Daniel Loick ist Professor für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Er ist Herausgeber des Bandes "Kritik der Polizei", der 2018 im Campus-Verlag erschienen ist.
Was tun, damit alle atmen können?
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Polizeigewalt gibt es auch in Deutschland. Dass sie zu wenig problematisiert wird, hat auch damit zu tun, dass Weiße oft die Perspektive der Polizei einnehmen. Das muss sich ändern, meinen Vanessa Thompson und Daniel Loick.
"Enough is enough" and "I can’t breathe", die allgegenwärtigen Slogans der Proteste, verweisen nicht nur auf die Tötung von George Floyd und weiterer Schwarzer Menschen wie Breanna Taylor, sie sind auch Symbol einer historisch gewachsenen rassistischen Ungleichheit und der Widerstände dagegen.
Im Video von George Floyds Ermordung erscheint die Polizei als repressive, militarisierte Staatsgewalt, die den Tod ihrer eigenen Bürger in Kauf nimmt. Das ist aber nur die eine Seite.
Polizei: Entmächtigung und Ermächtigung
Um die Bedeutung der Polizei wirklich zu verstehen, ist es hilfreich, noch ein anderes Video zu analysieren, das nur wenige Tage vor George Floyds Ermordung in den sozialen Medien zirkulierte. Es zeigt eine weiße Frau, Amy Cooper, die ihren Hund im New Yorker Central Park laufen lässt. Als sie von dem Vogelbeobachter Christian Cooper höflich gebeten wird, ihrem Hund eine Leine anzulegen, ruft sie die Polizei und behauptet, sie werde von einem "afro-amerikanischen Mann" bedroht.
Obwohl sie es war, die die Regeln gebrochen hatte, wusste Amy Cooper in diesem Moment genau, dass sie die Polizei zur Durchsetzung ihrer privaten Interessen einsetzen konnte. Sie wusste, dass sie das Leben eines Schwarzen Mannes in ihren Händen hielt.
Beide Videos gehören zusammen, weil sie die beiden Seiten der rassistischen Funktionsweise der Polizei beleuchten: Die Polizei ist beides, unterdrückend und ermächtigend – sie ermächtigt die einen, indem sie die anderen unterdrückt.
Wer jetzt aber denkt, Rassismus und Polizeigewalt seien nur Probleme der USA, macht es sich zu leicht und blendet die Erfahrungen von Schwarzen und rassifizierten Menschen in Deutschland aus. Auch in Deutschland sind zahlreiche Schwarze Menschen durch Polizeigewalt ums Leben gekommen.
Oury Jalloh, der 2005 in einer Polizeizelle in Dessau ermordet wurde, ist nur der bekannteste Fall. Andere Namen wie Achidi John, Laya-Alama Condé, Ndeye Marieme Sarr, Christy Schwundeck, Yaya Jabbie oder Amad Ahmad haben nicht einmal eine angemessene mediale Aufmerksamkeit erfahren.
Prägender noch als diese dramatischen Todesfälle ist die unspektakuläre und normalisierte Gewalt, die Polizistinnen und Polizisten routinemäßig gegen marginalisierte Gruppen ausüben. Dazu gehört das racial profiling, die "verdachtsunabhängige" Personenkontrolle, von der Schwarze und migrantische Menschen weit überproportional betroffen sind.
Wer jeden Tag damit rechnen muss, auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule angehalten, vor den Augen anderer an die Wand gestellt, durchsucht und möglicherweise auch schikaniert, beleidigt und körperlich angegangen zu werden, erfährt gravierendes psychosoziales Leid, und erlebt die Polizei nicht als Schutz, sondern als das Gegenteil.
Aber racial profiling prägt ebenso die Subjektivität weißer Menschen: Sie werden darauf trainiert, Menschen of color als potentielle Kriminelle oder Gefahr wahrzunehmen. Sie lernen, sich mit der polizeilichen Perspektive zu identifizieren. Im Gegensatz zu Schwarzen fällt es Weißen darum auch in der Regel nicht schwer, bei Problemen die Polizei zu rufen.
Mit dem Blick der Polizei brechen
Die gegenwärtigen Proteste in den USA offenbaren also die gegensätzlichen Erfahrungen, die Menschen mit der Polizei machen. Zugleich eröffnen sie die Möglichkeit, diese Ungleichheit in Frage zu stellen, herauszufordern und zu beenden.
Die Kämpfe um Schwarzes Leben gehen uns alle an – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Es muss darum gehen, polizeiliches Fehlverhalten endlich konsequent zu ahnden. Wir müssen Ressourcen aus dem Polizeiapparat abziehen und in Institutionen der ökonomischen, sozialen und politischen Teilhabe reinvestieren.
Und weiße Menschen müssen verlernen, sich mit der polizeilichen Perspektive zu identifizieren – sie müssen sich aus der gewohnten Übernahme des polizeilichen Blicks herausarbeiten. Das wäre nur eine Voraussetzung für eine Welt, in der alle atmen können.