Rassismusdebatte in den USA

Ist George Floyds Tod der Wendepunkt?

25:43 Minuten
Ein Protestmarsch der Black Lives Matter Bewegung in El Paso, Texas, USA.
George Floyd ist zum Symbol geworden: Ein Protestmarsch der Black Lives Matter Bewegung in El Paso, Texas. © imago images / ZUMA Wire / Joel Angel Juarez
Von Julia Kastein, Arthur Landwehr, Torsten Teichmann |
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Der gewaltsame Tod von George Floyd ist der Auslöser für Demonstrationen weltweit. In den USA kehrt damit die Debatte über Rassismus und Polizeigewalt vehement in die Öffentlichkeit zurück. Es gibt die Hoffnung, dass diesmal echter Wandel eintritt.
Ein goldener Sarg wird aus der Fountain of Praise Kirche in Houston getragen. Als einer der Wartenden vor dem Ausgang ruft: Sagt seinen Namen.
Andere stimmen ein: "George Floyd", antworten sie, bevor Helfer den Sarg in ein schwarzes, langes Auto laden. Später wird der Leichnam von George Floyd mit einer weißen Pferdekutsche auf den Friedhof gefahren. All das, die Kutsche, die dunklen, gemieteten Limousinen, die festlichen Kleider, der goldene Sarg, lässt die Beerdigung würdevoll wirken.
Mehrere Männer tragen den goldenen Sarg von George Floyd.
Sagt seinen Namen: Der goldene Sarg von George Floyd wird aus der Kirche getragen.© Getty Images / Pool
Eine Würde, die Goerge Floyd genommen wurde, als ein weißer Polizist in Minneapolis fast neun Minuten lang sein Knie in Floyds Nacken gedrückt hielt - bis der schwarze Amerikaner starb.

Rassismuserfahrungen beginnen mit der Geburt

Die Bilder von Floyds gewaltsamem Tod sind derzeit weltweit Auslöser für Demonstrationen. In den Vereinigten Staaten kehrt damit die Debatte über Rassismus in das öffentliche Interesse zurück. Das heißt für schwarze Amerikaner war das Problem nie verschwunden, wie Albert Sykes aus Jackson in Mississippi berichtet. Es ist ein Problem, das mit der Geburt beginnt.
"Meine Angst ist, ich muss einen schwarzen Jungen in Mississippi aufziehen", erzählt er. "Und schwarze Jungs haben eine Wahrscheinlichkeit von eins zu drei, dass sie ins Gefängnis gehen."
Stehen die Vereinigten Staaten dieses Mal an einem Wendepunkt? Als erstes sind es Demonstranten in Minneapolis, die ein Ende der Polizeigewalt und die Festnahme der tatverdächtigen Polizisten verlangen.

Reformresistent? Polizeistrukturen in den USA - Verschiedene Gemeinden in den USA, unter anderem Minneapolis, New York City, Seattle und Sacramento haben seit dem gewaltsamen Tod George Floyds angekündigt, den Polizeiapparat grundsätzlich reformieren zu wollen.

Die US-Demokraten haben einen weitgehenden Gesetzesentwurf gegen Polizeigewalt und rassistische Diskriminierung erarbeitet. In Zukunft sollen dann zum Beispiel Opfer bei Polizeifehlverhalten auf Schadenersatz klagen können.

"Das geht ans Selbstbild der Polizei", sagt US-Korrespondent Thilo Kößler, über die geplanten Polizeireformen. Bisher kämpften Polizisten wie einsame Krieger gegen das Verbrechen. "Gewissermaßen Einzelkämpfer mit der Waffe in der Hand, bereit zu jeder Eskalation. Stattdessen soll es einen Paradigmenwechsel geben. Es soll in den Vordergrund geschoben werden, dass man Menschenleben schützen muss."

Auch Donald Trump will demnächst Pläne für eine Polizeireform vorlegen, die allerdings wohl nicht so weitreichend sein werden wie die Vorschläge der US-Demokraten. Hören Sie hier das Gespräch mit Thilo Kößler:


Auch am Tag nachdem die Proteste gegen den Tod von George Floyd zum ersten Mal gewalttätig geworden waren, ziehen wieder Menschen über die Straßen: Friedlich, laut. Dass George Floyd mit dem Knie eines Polizisten auf dem Hals starb war zu viel.
"Hast du jemals ein Video mit einem Weißen gesehen, dem jemand auf dem Hals kniet?" Der Protestzug erreicht die Kreuzung E-Street Ecke 26te. Sie ist abgesperrt. In der Nacht zuvor hat hier die Polizeistation gebrannt. Geblieben ist ein schwarzes, noch immer leicht rauchendes Gerippe.
"Ich war damit nicht so ganz einverstanden, aber ich kann es verstehen. Das muss aufhören. Und wenn einer im Gefängnis sitzt, dann werden die anderen freigelassen. Darum sind wir hier", sagt ein Demonstrant.
Ein anderer: "Das sind nicht wir. Wir sind friedliche Demonstranten. Die Kräfte von draußen machen uns gewalttätig"

Kämpfen für das, woran man glaubt

Den Demonstranten gegenüber stehen bewaffnete Staatspolizisten. Männer und Frauen mit kurzen Ärmeln, aber deutlich sichtbaren kugelsicheren Westen, Gewehr im Anschlag. In Reih und Glied warten sie, schauen nach vorn, niemand spricht.
"Man muss für das kämpfen woran man glaubt, für das kämpfen, was richtig ist."
Aber wie kämpfen? Das wird auch auf der Straße diskutiert. Heiligt das große Ziel "Gerechtigkeit", dass nachts Häuser brennen und Geschäfte ausgeraubt werden? Vor allem, nützt es etwas?
"Wie auch immer wir protestieren, es wird doch nichts ändern. Die hören nicht auf unsere Sorgen und unser Leid", sagt diese junge Frau, fast resigniert.
"Oh nein", antwortet ihre Freundin. "Erst die Pandemie", bei der ja besonders viele Afroamerikaner betroffen sind, "und dann die Proteste, da kann nicht einfach alles wieder sein wie vorher."
"Ich glaube auch, dass wir zu lange still waren. Ein friedlicher Protest wie dieser ist ja gut. Aber auch das, was in der Nacht passiert - ich unterstütze das nicht völlig, aber ich verstehe, warum sie es tun. All diese Wut und die Frustration."
"Nein, da muss es einen besseren Weg geben seine Wut zu zeigen. Einen besseren Weg."
Als die Proteste die US-Hauptstadt Washington D.C. erreichen, ziehen US-Präsident Trump und Justizminister Barr die Nationalgarde und zusätzliche Sicherheitsdienste in den Straßen der Stadt zusammen. Trump droht anderen Bundesstaaten mit dem Einsatz des Militärs.
Ein Haus brennt nördlich des Weißen Hauses in Washington.
Ende Mai erreichen die Proteste in den USA auch die Hauptstadt Washington D.C..© imago images / ZUMA Wire / Jay Mallin
"Wenn eine Stadt oder ein Bundesstaat sich weigern, alles Notwendige tun, um Leben und Besitz ihrer Bürger zu schützen, werde ich flink das US-Militär stationieren und das Problem für sie lösen", erklärt Donald Trump.
Am Pfingstmontag, kurz vor Beginn der Ausgangssperre in Washington versuchen sich Demonstranten vor dem Weißen Haus in Sicherheit zu bringen.

Mit Gewalt gegen die Demonstranten

Als die Militärpolizei mit Pferden auf ihn zukam, sei er auf die Knie gegangen und habe die Hände hochgehalten, erklärt ein Familienvater im Lokalfernsehen.
"Und ich bin so zehn Mal von Gummigeschossen getroffen worden. Ich wollte aufstehen, da haben sie mich mit einer Tränengasgranate getroffen." Die Familie steht sichtbar unter Schock. Die Eltern und zwei Töchter waren aus Maryland gekommen, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu demonstrieren.
Er sei der Präsident für Recht und Ordnung hatte Trump kurz zuvor im Rosengarten des Weißen Hauses verkündet. Er sei ein Verbündeter aller friedlichen Demonstranten – dann aber ließ er den friedlichen Protest räumen. Um für ein Foto mit einer Bibel in der Hand durch den Lafayette Park vor dem Weißen Haus gehen zu können.
Ein Bild, das die Demonstranten in ihrer Wut bestätigt, dass sie nicht gehört werden.
Jedes Jahr werden in den USA 1000 Menschen durch die Polizei getötet. Für Afroamerikaner ist das Risiko, Opfer zu werden, zweieinhalb Mal so hoch wie für Weiße. In den allermeisten Fällen gibt es kein Video der Übergriffe. Keine öffentliche Empörung. Keine Demonstrationen. Die Familien bleiben allein - mit ihrer Trauer, ihrer Wut und in ihrem Kampf für Gerechtigkeit.

Polizisten erschossen ihren Sohn – in ihrem eigenen Haus

Greta Willis sitzt in ihrer Kirche im Südwesten von Baltimore. Das "Pillar Worship Center" ist ein fensterloser großer Raum, den auch ein halbes Dutzend billiger Leuchter nicht hell bekommen. Einen Altar gibt es nicht, genauso wenig wie Kirchenbänke. Nur ein schlichtes Holzkreuz lässt ahnen, dass dieser Raum eine religiöse Funktion hat.
Greta, eine kräftige, herzliche Endfünfzigerin, ist Pfarrerin und zuständig für die Lebensmittelspenden für die vielen armen Familien in ihrer Nachbarschaft. Ein Viertel der Bewohner von Baltimore leben unterhalb der Armutsgrenze. Früher arbeitete Greta als Justizvollzugsbeamtin. Bis zu dem Tag im August 2006, an dem ihr 14-jähriger Sohn erschossen wurde. Von der Polizei. In ihrem eigenen Haus.
"Ich habe die Polizei gerufen", erzählt Greta Willis, "weil Kevin einen emotionalen Zusammenbruch hatte. Und ich hoffte sie würden mit ihm reden und ihn dazu bringen, mit ins Krankenhaus zu gehen."

Ein Leben für eine Kehrschaufel

Kevin sei ein schwieriger Teenager gewesen, depressiv und traumatisiert, weil sein älterer Bruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, erklärt Greta. Die beiden Beamten hätten Kevin zuerst erfolgreich beruhigt. Der eine Polizist ging nach ein paar Minuten wieder. Der andere blieb.
"Er lief Kevin durchs ganze Haus hinterher", sagt Greta Willis. Er hat ihn richtig gegen sich aufgebracht. Dann hat Kevin eine Plastik-Kehrschaufel in die Hand genommen. Der Polizist hat erst Pfefferspray eingesetzt. Dann hat er ihn erschossen. Kevin hat sein Leben verloren, weil er eine Kehrschaufel in der Hand hielt."
Im Polizeibericht stand später, Kevin habe den Polizisten nicht nur bedroht, sondern auch geschlagen. Der Polizist hätte in Notwehr gehandelt. Ein "Justifiable Homicide", also berechtigter Totschlag.
Aber warum werden Afroamerikaner überproportional häufig Opfer von Polizeigewalt? - Rassismus spielt natürlich eine Rolle, sagt Greta. Aber es reicht als Erklärung nicht aus. Der Beamte, der ihren Sohn erschoss, war selbst Afroamerikaner und erst seit einem Jahr Polizist.
"In unserem Fall war es Unerfahrenheit", sagt sie. "Übereifer. Kein Respekt für uns. Weil wir in einem sozialen Brennpunkt leben. Und da wird man einfach anders behandelt."

Der Graben zwischen Bürgern und Polizei ist tief

Der Frust über tödliche Polzeigewalt führte auch in Baltimore schon zu Demonstrationen und Unruhen: Im Frühjahr 2015 nahmen Zivilbeamte den 25-jährigen Freddy Gray fest, weil er ein Messer bei sich trug. Auf der Fahrt zur Wache erlitt der Afroamerikaner so schwere Rückenmarksverletzungen, dass er erst ins Koma fiel und später starb. Die Umstände seines Todes wurden nie völlig geklärt, die beteiligten Beamten freigesprochen. Es folgten Proteste in vielen US-Städten.
Die Leute seien einfach nicht länger bereit gewesen, die Gewalt durch die Polizei hinzunehmen, sagt Greta: "Da hat sich etwas aufgestaut, dieser Graben zwischen den Menschen und der Polizei. Die Leute hatten diese jahrlange Misshandlung durch die Polizei einfach satt."
Nach dem Tod von Freddy Gray untersuchte das US-Justizministerium die Polizei von Baltimore - und attestierte der Behörde Diskriminierung und Menschenrechtsverstöße. Weil Vorgesetzte ihre Beamten beispielsweise angewiesen hatte, "alle schwarzen Kapuzen-Pulli-Träger" in einem Viertel festzunehmen. Diese Polizeimaßnahmen waren nicht nur diskriminierend und brutal. Sie änderten für die Sicherheit der Bewohner auch nichts: In keiner anderen Stadt in den USA sterben so viele Menschen durch Waffengewalt. 309 Fälle waren es allein 2018, fast jeden Tag einer.
Auch bei den Protesten nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd verlangen Demonstranten Gerechtigkeit für schwarze Amerikaner und andere Menschen mit dunkler Hautfarbe. Weniger Polizeigewalt! Chancengleichheit! Aber an welcher Stelle soll die US-amerikanische Gesellschaft beginnen, etwas zu ändern?

Ohne Bildung geht es nicht

"Die wichtigsten Themen für Afroamerikaner sind die gleichen wie für die meisten Amerikaner", sagt Ravi Perry. "Gute Bildung, Gesundheit, Justizreform und eine sichere Umgebung."
Ravi Perry ist Politologe an der Howard University in Washington. Eine Hochschule, die während der Rassentrennung für Schwarze gegründet wurde, deren Studenten auch heute zu 99 Prozent schwarze Amerikaner sind.
Bildung ist ein gutes Beispiel und zentraler Ansatzpunkt für Veränderung, meint auch diese Mutter: "Schulbildung sollte für alle gleich sein. Es sollte keine Rolle spielen wo du wohnst, wenn es darum geht, was für eine Bildung zu bekommst."
Aber so sieht afroamerikanische Lebenswirklichkeit aus: Für sie gilt besonders, was für alle ärmeren Wohnbezirke gilt. Die Schulen sind dramatisch schlechter, weil Schulen aus den Immobiliensteuern des Wohnbezirks finanziert werden. Teure Wohnviertel mit wenigen Kindern, heißt gute Schulen. Enge Wohnverhältnisse und viele Kinder heißt schlechte Schulen, kaum Chancen auf Aufstieg.

"Schulen spiegeln die Wohnviertel, in denen sie liegen"

"Die Schulen reflektieren wohin die Leute ziehen", erklärt Neil McClusky. "Schulen spiegeln die Wohnviertel, in denen sie liegen. Menschen wollen da wohnen, wo Leute wie sie selbst leben. Also wohnen Reiche bei Reichen. Deshalb fällt es ärmeren Menschen schwer in die besseren Schulen zu kommen. Sie können sich ein teures Haus nicht leisten und leben mit ärmeren Menschen."
Neil McClusky ist Bildungsexperte beim Washingtoner Thinktank Cato. Ein Ansatz für mehr Gerechtigkeit und weniger Rassismus wäre es, die Schulen nicht lokal, sondern auf Ebene der Bundesstaaten zu finanzieren. Aber genau das wird nicht passieren, sagt Neil McClusky.
"Das wäre schwer, selbst wenn man Mittel vom wohlhabenden Stadtteil in den ärmeren überweisen würde", erklärt er. "Wir erleben es oft, dass die besser gestellten Leute dann freiwillig ihr eigenes Geld aufbringen, um es in ihre Schulen zu investieren."
An der Stelle endet der Wille zum Ausgleich. Die Bildung, und damit zu einem großen Teil die Schule, entscheidet darüber, ob die eigenen Kinder den sozialen Status der Familie halten können. Oder ob ihnen der Abstieg aus der Mittelschicht droht.

Beten und auf den echten Wandel hoffen

Der politische Handlungsspielraum für große Reformen fehlt im Wahljahr 2020 in den USA. Trotzdem will der Bischof der lokalen Baptistengemeinde in Houston, James Dixon, die Hoffnung so leicht nicht aufgeben.
"Die Leute wollen etwas tun", sagt er. "Und es ist ein weltweites Phänomen. Als George Floyd stürzte, stand die Welt auf. Es ist diesmal anders."
Von einer Bewegung ist die Rede. George Floyd ist zum Symbol geworden. In seinem Viertel in Houston, in dem er aufgewachsen ist, erinnert ein übergroßes Wandbild an "Big Floyd". Houston könne das Zentrum einer neuen Bürgerrechtsbewegung sein, so Bischof Dixon. Aber vielleicht ist auch das nur Wunschdenken.
Sie hoffe und bete, dass George Floyd nicht nur ein weiteres Opfer von Polizeigewalt ist, dass es diesmal anders wird, sagt Julie. Sie ist mit einer Tochter und ihrem Sohn Cameron am Tag von Floyds Beisetzung zur Kirche gekommen.
"Es hat schon mal viele Menschen aufgeweckt – auf der ganzen Welt", sagt sie. "Selbst aus dem Ausland kommt Unterstützung. Ich bete und hoffe, dass es einen Wandel gibt."
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