Rathenow: Stasi-Unterlagen-Gesetz oft nicht im Sinne der Opfer
Dem Landesbeauftragten der sächsischen Stasiunterlagenbehörde, Lutz Rathenow, geht die geplante Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes nicht weit genug. Namen auf Kopien sollten seiner Ansicht nach nur dann geschwärzt werden, wenn schützenswerte Interessen Dritter betroffen seien. So könnten Betroffene erlittenes berufliches Unrecht besser nachweisen und Ansprüche anmelden.
Susanne Führer: Seit zwei Monaten ist der Schriftsteller Lutz Rathenow der Landesbeauftragte des Freistaats Sachsen für die Stasi-Unterlagen. Mit denen kennt er sich aus, denn Lutz Rathenows eigene Stasi-Akte umfasst 15.000 Seiten. Über 30 Jahre lang hat er als freischaffender Schriftsteller gelebt, nun ist er Leiter einer Behörde, so dass ich Lutz Rathenow, als wir heute Vormittag das Interview aufgezeichnet haben, als erstes gefragt habe, wie ihm denn dieser Wechsel bekommen sei.
Lutz Rathenow: Ja, eine sehr anregende Lebenswechselperspektive. Das ist ja keine Behörde, die mit der Stasi-Unterlagenbehörde zu tun hat. Die Landesbeauftragten sind sozusagen das föderale Gegenstück zur Kontrolle, zu den Auswirkungen der Wirkungen der Akten. Also, sehr viel Opferberatungen, aber auch in der Schule spezielle Auftritte. Ausstellungen werden präsentiert, vor Gerichten werden mitunter Opfer begleitet – ich arbeite gerade an drei Gesetzesumgestaltungen mit, soweit man das als Einzelner ohnehin kann –, der Aufbau einer neuen Buchreihe. Also, Streitschlichtung zwischen Menschen mit schwierigen DDR-Vergangenheiten – es gibt sehr, sehr viel Verschiedenes zu tun.
Führer: Als Einzelner, haben Sie gesagt – wie viele Mitarbeiter haben Sie denn?
Rathenow: Drei Festangestellte, und dann noch zwei, die sehr regelmäßig für mich arbeiten. Aber ich habe schon das Bedürfnis jedes Bürokraten, eigentlich zu expandieren. Es wäre dringend nötig, mehr Mitarbeiter zu bekommen, da die DDR-Vergangenheit mir auf überraschende Weise sehr aktuell zu sein scheint.
Das habe ich hier in Dresden gespürt! Und das spüre ich jeden Tag. Denn es ist einfach wirklich so, dass jetzt 20 Jahre nach dem Ende der DDR viele Leute das Bedürfnis haben, doch noch mal Dinge regeln zu wollen. Bestimmte Traumatisierungen sind stärker geworden – also ich bin überrascht über die Härte der Nachwirkungen. Zum Beispiel bei den Frauen aus dem Frauenzuchthaus Hoheneck. Kinder, die zwangsadoptiert worden sind, die heute ihren Eltern Vorwürfe machen oder eben auch nicht. Es gibt den Missbrauch in den Jugendwerkhöfen. Es gibt nicht die Gleichberechtigung zum Beispiel der Opfer aus dieser Richtung her – die werden jetzt nicht so behandelt wie die in der alten Bundesrepublik.
Es gibt auch sehr viel Ungerechtigkeit, sehr viel Nachbesserungsbedarf in den Gesetzen. Und da wären wir dann schon bei einem ganz zentralen Thema für mich: Das Stasiakteneinsichts-Gesetz und das StUG, die Änderungen daran.
Führer: Eine Sekunde, Herr Rathenow, bevor wir dazu kommen: Mich würde noch mal interessieren, weil Sie gesagt haben, die Traumatisierungen werden stärker – man würde sich ja eigentlich sonst fragen, über 20 Jahre nach der Wende: Was gibt es da noch zu leisten an Opferhilfe und Opferbetreuung, was machen Sie denn da?
Rathenow: Fast alles auf allen Ebenen, also einerseits machen vor allen Dingen eine sehr gut geschulte Mitarbeiterin und ein anderer Schriftsteller, Utz Rachowski, der durch das ganze sächsische Land reist, die beraten jeden Tag vier bis 40, 50, 60 Leute, wie sie Rehabilitationsansprüche stellen können.
Es geht um Kapitalentschädigung, es geht um die Opferrenten, es geht aber eben auch – und da landen dann sehr viele bei mir am Telefon, oder bei meinen Mitarbeiterinnen – um Menschen, die darunter leiden, unter denen, die politisch instrumentalisiert waren aus DDR-Zeiten, die auch Opfer von Zersetzungsmaßnahmen geworden sind, die aber vielleicht auch nicht in Haft waren, und da ist das gar nicht so leicht beweisbar.
Und es ist eine Mischung von therapeutischer Tätigkeit und von aufklärerischer Tätigkeit zur Wahrnehmung der Gesetze. Und wir als Behörde sind dann gefragt, auch den Gesetzesnachbesserungsbedarf anzumelden.
Führer: Sagt Lutz Rathenow, der Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen, im Deutschlandradio Kultur. Herr Rathenow, jetzt kommen wir zum Stasi-Unterlagen-Gesetz und der Einsicht. Was kritisieren Sie da?
Rathenow: Also, erstens mal geht das in eine richtige Richtung für mehr Öffentlichkeit und für mehr Öffnung …
Führer: Sie sprechen jetzt von der geplanten …
Rathenow: … von der geplanten Novellierung, einer erweiterten Einsichtsmaßnahme für Betroffene. Ich kritisiere zum Beispiel, dass eigentlich eine Erschließung der Staatssicherheitsakten nach 20 Jahren nach sachlichen Kriterien – zum Beispiel der Personalakten, der IM-Akten – noch gar nicht richtig stattgefunden, ja, noch gar nicht begonnen hat.
Wenn heute ein Journalist kommt und sagt: Ich möchte zehn Fluchtopfer überprüfen, wie weit sie im Nachhinein unter traumatischen Folgen [zu leiden] hatten und in psychotherapeutische Behandlung sich begeben mussten, dann muss er die Namen mitbringen. Weil alle Akten, die herausgegeben wurden, nicht nachhaltig über die Logik der Staatssicherheit hinaus zusätzlich erschlossen werden.
Vor Ort wird zum Beispiel in Dresden, Leipzig, Chemnitz sehr gute Arbeit gemacht. Es ist eine sehr anstrengende Arbeit, es nimmt die Menschen mit, die in die Akten hineinschauen wollen, die müssen begleitet werden, es muss ihnen etwas erklärt werden – das ist nicht einfach ein normales Archiv.
Sie haben Ansprüche, sie möchten etwas erfahren, es geht um Vertrauen, es geht um politische Bildung, es geht um die Auswertbarkeit für Wissenschaft und für die Journalisten auch.
Zum Beispiel möchte ich vorschlagen, dass die herausgegebenen Akten, wo die Betroffenen – also alle Dritten – eigentlich geschwärzt werden müssen, auf Kopien, das muss erst kopiert werden, dann wird es noch mal geschwärzt nach der Herausgabe. Das ist alles sehr, sehr, sehr mühsam, das wirklich Schwärzungen nur da stattfinden, wo ganz klar schützenswerte Interessen Dritter betroffen sind. Das würde sehr viel Energien freilegen …
Führer: Aber ich dachte, das ist doch bisher auch so. Also, es gibt ja immer mit diesem Stasiunterlagen den Konflikt zwischen Datenschutz und Informationsrecht, und zwischen Personenschutz und Informationsrecht. Ich sag' mal ein Beispiel: In Ihrer Stasiakte wird eben darüber berichtet, Weil einer der IMs irgendwie bei Ihnen auf einem Fest war, dass einer ihrer Freunde seine Frau betrügt. Das geht Sie dann ja nichts an, wenn Sie in Ihre Stasiakte Einblick erhalten. Das ist doch logisch, dass das geschwärzt wird, oder?
Rathenow: Ja, diese besonders schützenswerten Interessen Dritter – interessanterweise denkt immer jeder zuerst an den intimen Betrug, die Intimdaten werden ohnehin geschwärzt. Es wird faktisch alles geschwärzt. Es gibt ja auch einen Spielraum – heute schon, das ist richtig –, aber es wird von der falschen Seite her angegangen!
Führer: Was meinen Sie mit: Es wird faktisch alles geschwärzt?
Rathenow: Es wird faktisch alles geschwärzt, was Dritte betrifft, wo kein Einverständnis vorliegt, und ich kann Ihnen sagen, da ich die Akten, meine persönlichen, in verschiedenen Stadien der Schwärzungsintensität im Verlaufe der 20 Jahre bekommen habe, die 15.000 bis 20.000 Seiten, dass ich sie am Anfang fast ungeschwärzt bekam und dann mit zunehmender Schwärzung.
Manchmal die identische Seite vier mal aus verschiedenen Zusammenhängen in vier verschiedenen Graden geschwärzt. Und da würde ein Passus – die Daten über Betroffene oder Dritte werden nicht anonymisiert herausgegeben, soweit sie offensichtlich schützenswerte Interessen Dritter nicht betreffen – würde zum Beispiel einen ganz anderen Freiraum geben. 80 bis 90 Prozent des Geschwärzten heute ist sinnlos und schützt keine Interessen.
Führer: Nennen Sie mal ein Beispiel, was meinen Sie mit alles geschwärzt? Wenn wir jetzt wieder diesen Freund erwähnen, dann geht es jetzt nicht um den Ehebruch, sondern ein Gespräch mit dem Freund?
Rathenow: Es geht um irgendein belangloses Gespräch, es geht um die Teilnahme, vielleicht die Absicht, ein Buch zu lesen. Ich habe Akten gesehen, wo es um Kriegstote geht, die im Nachhinein geschwärzt wurden.
Führer: Aber liegt es dann an dem falschen Gesetz oder dann vielleicht an der Auslegung oder an einer …
Rathenow: Es liegt an der Auslegung …
Führer: … größeren Sensibilität für den Datenschutz heute?
Rathenow: Es liegt nicht einmal groß an Sensibilität für den Datenschutz, sondern an einer größeren Insensibilität für den Datenschutz. Es liegt daran, dass einige Ratgeber innerhalb der Leitung der Behörde sich zu sehr mit datenrechtlichen, künftigen juristischen Dissertationen über ein wahnsinnig interessantes Forschungsfeld begreifen und nicht daran denken, dass hier Menschen darauf warten, um ihr erlittenes berufliches Unrecht nachweisen zu können, dringendst ihrer Akten bedürfen, um Ansprüche anmelden zu können!
Dass man Verschwörungstheorien, die überall im Umlauf sind, zurückweisen muss, dass die wissenschaftliche Forschung Quervergleiche machen muss. Wieso ist es heute nicht möglich, einem Journalisten zehn Fluchtversuchakten vorzulegen mit den schützenswerten – wirklich schützenswerten – intimen Daten. Die werden natürlich geschwärzt. Die werden immer geschwärzt – die werden sogar bei IMs geschwärzt. Warum? Weil die Mitarbeiter noch nicht dazu gekommen sind, diese Vorarbeiten zu machen. Ich glaube, das ist die Erstaufgabe der Behörde, diese Akten so rasch als möglich zu erschließen. Und davon sind wir leider noch sehr weit entfernt.
Führer: Ich fasse zusammen, Herr Rathenow: Sie sind mit der geplanten Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes insofern einverstanden, als der Personenkreis wieder ausgeweitet wird und die Frist auch verlängert wird bis 2019, Sie hätten aber gerne noch, dass auch die Vereinfachung der Akteneinsicht Eingang fände in die Novelle, richtig?
Rathenow: Unter anderem. Es muss auch möglich sein, eine Aufarbeitung der Staatssicherheitsaufarbeitung nach 1990 zu beginnen, um diese überhaupt sinnvoll abschließen zu können. Also die Wissenschaft muss Forschung, muss Zugang bekommen zu den Unterlagen der Aktenbehörde selbst, wie 1989, '90, '91 ihre Vorarbeiten, die ja im Stehen bewerkstelligt wurde. Das kann die Behörde selbst nicht leisten. Das sollte ermuntert werden.
Die Landesbeauftragten brauchen ungeschwärzten Zugang zu einigen Daten, um besser ihre Beratungstätigkeit ausüben zu können. Es gibt also da eine ganze Menge Dinge, die noch verbessert werden könnten. Und die sollten noch mal im Herbst kurz und intensiv diskutiert werden und vielleicht in einigen weiteren, konstruktiven Änderungen dann auch Einlass finden in das Gesetz.
Führer: Der Schriftsteller Lutz Rathenow, seit Mai auch Landesbeauftragter des Freistaats Sachsen für die Stasi-Unterlagen, und, wie wir hören, mit vollem Engagement bei seinem neuen Behördenjob dabei. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Rathenow!
Rathenow: Besten Dank!
Lutz Rathenow: Ja, eine sehr anregende Lebenswechselperspektive. Das ist ja keine Behörde, die mit der Stasi-Unterlagenbehörde zu tun hat. Die Landesbeauftragten sind sozusagen das föderale Gegenstück zur Kontrolle, zu den Auswirkungen der Wirkungen der Akten. Also, sehr viel Opferberatungen, aber auch in der Schule spezielle Auftritte. Ausstellungen werden präsentiert, vor Gerichten werden mitunter Opfer begleitet – ich arbeite gerade an drei Gesetzesumgestaltungen mit, soweit man das als Einzelner ohnehin kann –, der Aufbau einer neuen Buchreihe. Also, Streitschlichtung zwischen Menschen mit schwierigen DDR-Vergangenheiten – es gibt sehr, sehr viel Verschiedenes zu tun.
Führer: Als Einzelner, haben Sie gesagt – wie viele Mitarbeiter haben Sie denn?
Rathenow: Drei Festangestellte, und dann noch zwei, die sehr regelmäßig für mich arbeiten. Aber ich habe schon das Bedürfnis jedes Bürokraten, eigentlich zu expandieren. Es wäre dringend nötig, mehr Mitarbeiter zu bekommen, da die DDR-Vergangenheit mir auf überraschende Weise sehr aktuell zu sein scheint.
Das habe ich hier in Dresden gespürt! Und das spüre ich jeden Tag. Denn es ist einfach wirklich so, dass jetzt 20 Jahre nach dem Ende der DDR viele Leute das Bedürfnis haben, doch noch mal Dinge regeln zu wollen. Bestimmte Traumatisierungen sind stärker geworden – also ich bin überrascht über die Härte der Nachwirkungen. Zum Beispiel bei den Frauen aus dem Frauenzuchthaus Hoheneck. Kinder, die zwangsadoptiert worden sind, die heute ihren Eltern Vorwürfe machen oder eben auch nicht. Es gibt den Missbrauch in den Jugendwerkhöfen. Es gibt nicht die Gleichberechtigung zum Beispiel der Opfer aus dieser Richtung her – die werden jetzt nicht so behandelt wie die in der alten Bundesrepublik.
Es gibt auch sehr viel Ungerechtigkeit, sehr viel Nachbesserungsbedarf in den Gesetzen. Und da wären wir dann schon bei einem ganz zentralen Thema für mich: Das Stasiakteneinsichts-Gesetz und das StUG, die Änderungen daran.
Führer: Eine Sekunde, Herr Rathenow, bevor wir dazu kommen: Mich würde noch mal interessieren, weil Sie gesagt haben, die Traumatisierungen werden stärker – man würde sich ja eigentlich sonst fragen, über 20 Jahre nach der Wende: Was gibt es da noch zu leisten an Opferhilfe und Opferbetreuung, was machen Sie denn da?
Rathenow: Fast alles auf allen Ebenen, also einerseits machen vor allen Dingen eine sehr gut geschulte Mitarbeiterin und ein anderer Schriftsteller, Utz Rachowski, der durch das ganze sächsische Land reist, die beraten jeden Tag vier bis 40, 50, 60 Leute, wie sie Rehabilitationsansprüche stellen können.
Es geht um Kapitalentschädigung, es geht um die Opferrenten, es geht aber eben auch – und da landen dann sehr viele bei mir am Telefon, oder bei meinen Mitarbeiterinnen – um Menschen, die darunter leiden, unter denen, die politisch instrumentalisiert waren aus DDR-Zeiten, die auch Opfer von Zersetzungsmaßnahmen geworden sind, die aber vielleicht auch nicht in Haft waren, und da ist das gar nicht so leicht beweisbar.
Und es ist eine Mischung von therapeutischer Tätigkeit und von aufklärerischer Tätigkeit zur Wahrnehmung der Gesetze. Und wir als Behörde sind dann gefragt, auch den Gesetzesnachbesserungsbedarf anzumelden.
Führer: Sagt Lutz Rathenow, der Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen, im Deutschlandradio Kultur. Herr Rathenow, jetzt kommen wir zum Stasi-Unterlagen-Gesetz und der Einsicht. Was kritisieren Sie da?
Rathenow: Also, erstens mal geht das in eine richtige Richtung für mehr Öffentlichkeit und für mehr Öffnung …
Führer: Sie sprechen jetzt von der geplanten …
Rathenow: … von der geplanten Novellierung, einer erweiterten Einsichtsmaßnahme für Betroffene. Ich kritisiere zum Beispiel, dass eigentlich eine Erschließung der Staatssicherheitsakten nach 20 Jahren nach sachlichen Kriterien – zum Beispiel der Personalakten, der IM-Akten – noch gar nicht richtig stattgefunden, ja, noch gar nicht begonnen hat.
Wenn heute ein Journalist kommt und sagt: Ich möchte zehn Fluchtopfer überprüfen, wie weit sie im Nachhinein unter traumatischen Folgen [zu leiden] hatten und in psychotherapeutische Behandlung sich begeben mussten, dann muss er die Namen mitbringen. Weil alle Akten, die herausgegeben wurden, nicht nachhaltig über die Logik der Staatssicherheit hinaus zusätzlich erschlossen werden.
Vor Ort wird zum Beispiel in Dresden, Leipzig, Chemnitz sehr gute Arbeit gemacht. Es ist eine sehr anstrengende Arbeit, es nimmt die Menschen mit, die in die Akten hineinschauen wollen, die müssen begleitet werden, es muss ihnen etwas erklärt werden – das ist nicht einfach ein normales Archiv.
Sie haben Ansprüche, sie möchten etwas erfahren, es geht um Vertrauen, es geht um politische Bildung, es geht um die Auswertbarkeit für Wissenschaft und für die Journalisten auch.
Zum Beispiel möchte ich vorschlagen, dass die herausgegebenen Akten, wo die Betroffenen – also alle Dritten – eigentlich geschwärzt werden müssen, auf Kopien, das muss erst kopiert werden, dann wird es noch mal geschwärzt nach der Herausgabe. Das ist alles sehr, sehr, sehr mühsam, das wirklich Schwärzungen nur da stattfinden, wo ganz klar schützenswerte Interessen Dritter betroffen sind. Das würde sehr viel Energien freilegen …
Führer: Aber ich dachte, das ist doch bisher auch so. Also, es gibt ja immer mit diesem Stasiunterlagen den Konflikt zwischen Datenschutz und Informationsrecht, und zwischen Personenschutz und Informationsrecht. Ich sag' mal ein Beispiel: In Ihrer Stasiakte wird eben darüber berichtet, Weil einer der IMs irgendwie bei Ihnen auf einem Fest war, dass einer ihrer Freunde seine Frau betrügt. Das geht Sie dann ja nichts an, wenn Sie in Ihre Stasiakte Einblick erhalten. Das ist doch logisch, dass das geschwärzt wird, oder?
Rathenow: Ja, diese besonders schützenswerten Interessen Dritter – interessanterweise denkt immer jeder zuerst an den intimen Betrug, die Intimdaten werden ohnehin geschwärzt. Es wird faktisch alles geschwärzt. Es gibt ja auch einen Spielraum – heute schon, das ist richtig –, aber es wird von der falschen Seite her angegangen!
Führer: Was meinen Sie mit: Es wird faktisch alles geschwärzt?
Rathenow: Es wird faktisch alles geschwärzt, was Dritte betrifft, wo kein Einverständnis vorliegt, und ich kann Ihnen sagen, da ich die Akten, meine persönlichen, in verschiedenen Stadien der Schwärzungsintensität im Verlaufe der 20 Jahre bekommen habe, die 15.000 bis 20.000 Seiten, dass ich sie am Anfang fast ungeschwärzt bekam und dann mit zunehmender Schwärzung.
Manchmal die identische Seite vier mal aus verschiedenen Zusammenhängen in vier verschiedenen Graden geschwärzt. Und da würde ein Passus – die Daten über Betroffene oder Dritte werden nicht anonymisiert herausgegeben, soweit sie offensichtlich schützenswerte Interessen Dritter nicht betreffen – würde zum Beispiel einen ganz anderen Freiraum geben. 80 bis 90 Prozent des Geschwärzten heute ist sinnlos und schützt keine Interessen.
Führer: Nennen Sie mal ein Beispiel, was meinen Sie mit alles geschwärzt? Wenn wir jetzt wieder diesen Freund erwähnen, dann geht es jetzt nicht um den Ehebruch, sondern ein Gespräch mit dem Freund?
Rathenow: Es geht um irgendein belangloses Gespräch, es geht um die Teilnahme, vielleicht die Absicht, ein Buch zu lesen. Ich habe Akten gesehen, wo es um Kriegstote geht, die im Nachhinein geschwärzt wurden.
Führer: Aber liegt es dann an dem falschen Gesetz oder dann vielleicht an der Auslegung oder an einer …
Rathenow: Es liegt an der Auslegung …
Führer: … größeren Sensibilität für den Datenschutz heute?
Rathenow: Es liegt nicht einmal groß an Sensibilität für den Datenschutz, sondern an einer größeren Insensibilität für den Datenschutz. Es liegt daran, dass einige Ratgeber innerhalb der Leitung der Behörde sich zu sehr mit datenrechtlichen, künftigen juristischen Dissertationen über ein wahnsinnig interessantes Forschungsfeld begreifen und nicht daran denken, dass hier Menschen darauf warten, um ihr erlittenes berufliches Unrecht nachweisen zu können, dringendst ihrer Akten bedürfen, um Ansprüche anmelden zu können!
Dass man Verschwörungstheorien, die überall im Umlauf sind, zurückweisen muss, dass die wissenschaftliche Forschung Quervergleiche machen muss. Wieso ist es heute nicht möglich, einem Journalisten zehn Fluchtversuchakten vorzulegen mit den schützenswerten – wirklich schützenswerten – intimen Daten. Die werden natürlich geschwärzt. Die werden immer geschwärzt – die werden sogar bei IMs geschwärzt. Warum? Weil die Mitarbeiter noch nicht dazu gekommen sind, diese Vorarbeiten zu machen. Ich glaube, das ist die Erstaufgabe der Behörde, diese Akten so rasch als möglich zu erschließen. Und davon sind wir leider noch sehr weit entfernt.
Führer: Ich fasse zusammen, Herr Rathenow: Sie sind mit der geplanten Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes insofern einverstanden, als der Personenkreis wieder ausgeweitet wird und die Frist auch verlängert wird bis 2019, Sie hätten aber gerne noch, dass auch die Vereinfachung der Akteneinsicht Eingang fände in die Novelle, richtig?
Rathenow: Unter anderem. Es muss auch möglich sein, eine Aufarbeitung der Staatssicherheitsaufarbeitung nach 1990 zu beginnen, um diese überhaupt sinnvoll abschließen zu können. Also die Wissenschaft muss Forschung, muss Zugang bekommen zu den Unterlagen der Aktenbehörde selbst, wie 1989, '90, '91 ihre Vorarbeiten, die ja im Stehen bewerkstelligt wurde. Das kann die Behörde selbst nicht leisten. Das sollte ermuntert werden.
Die Landesbeauftragten brauchen ungeschwärzten Zugang zu einigen Daten, um besser ihre Beratungstätigkeit ausüben zu können. Es gibt also da eine ganze Menge Dinge, die noch verbessert werden könnten. Und die sollten noch mal im Herbst kurz und intensiv diskutiert werden und vielleicht in einigen weiteren, konstruktiven Änderungen dann auch Einlass finden in das Gesetz.
Führer: Der Schriftsteller Lutz Rathenow, seit Mai auch Landesbeauftragter des Freistaats Sachsen für die Stasi-Unterlagen, und, wie wir hören, mit vollem Engagement bei seinem neuen Behördenjob dabei. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Rathenow!
Rathenow: Besten Dank!