"Ratko Mladic gilt in der Bevölkerung als Kriegsheld"
Der wegen Völkermordes in Den Haag angeklagte bosnisch-serbische Ex-General Ratko Mladic verfügte über Ausweispapiere, die nur das Innenministerium ausgestellt haben konnte. Womöglich habe Mladic in Serbien Hunderte Fluchthelfer und Mitwisser gehabt, so Marie-Janine Calic.
Gabi Wuttke: Ratko Mladic wird seinen Richtern in Den Haag nicht entgehen. Nachdem der Einspruch seines Anwalts gestern in Belgrad abgelehnt worden war, vergingen nur wenige Stunden, bis ihn die serbische Regierung an das Jugoslawien-Tribunal in den Niederlanden überstellte. – Ich begrüße jetzt am Telefon Marie-Janine Calic, sie ist Professorin am Institut für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Guten Morgen!
Marie-Janine Calic: Guten Morgen!
Wuttke: Kann der serbische Präsident Boris Tadic gegenüber der EU nun darauf pochen, alle Hausaufgaben zur Vergangenheitsbewältigung erledigt zu haben?
Calic: Nein, sicherlich nicht, denn in Den Haag standen ja nur die wichtigsten Kriegsverbrecher vor Gericht. Einer von ihnen ist übrigens noch auf freiem Fuß und muss noch geschnappt werden. Die Anklagebehörde hat mal ausgerechnet, dass eigentlich 15.000 bis 20.000 Personen der Prozess gemacht werden müsste. Und in der Tat finden auch in Serbien jetzt vor nationaler Jurisdiktion Kriegsverbrecherprozesse statt, zum Beispiel gegen Angehörige einer paramilitärischen Einheit, die im Bosnien-Krieg Muslime ermordet hat.
Die eigentliche Aufgabe, denke ich, ist, in die Öffentlichkeit zu wirken und sich mit den Fragen der Kriegsvergangenheit intensiver auseinanderzusetzen, denn für viele Serben ist es ein Problem der Verdrängung. Man leugnet einfach, dass Serbien an diesem Krieg teilgenommen hat und auch maßgeblich an den Kriegsverbrechen Mitverantwortung trägt.
Wuttke: Wie erklären Sie sich denn, dass Tadic, nachdem Kostunica von der großen politischen Bühne abgetreten war, Karadzic schnell dingfest machen konnte, aber drei weitere Jahre für Mladic brauchte?
Calic: Der Ratko Mladic gilt in der Bevölkerung als Kriegsheld. Er gilt als einer, der die Serben in Bosnien verteidigt hat und die serbische nationale Ehre verteidigt hat. Er hat ein ganz anderes Ansehen als Militärführer, als das der Karadzic hatte, der doch letztlich als ein bosnischer Politiker, ein bosnisch-serbischer Politiker galt, der auch ein bisschen skurril und schräg war als Psychiater und Dichter. Er hatte nie dieses Ansehen wie Mladic.
Mladic hatte auch viel bessere Verbindungen in die Volksarmee. Er war ja ein hoher Funktionär, hatte einen hohen militärischen Posten dort, hatte gute Verbindungen in die Sicherheitskräfte und ins Innenministerium, und deshalb war es eine politische Frage und auch eine Sicherheitsfrage, Mladic gefangen zu nehmen.
Wuttke: Das heißt, Sie gehen davon aus, dass man zumindest einige Zeit wusste, wo er steckt, bevor man dann zugegriffen hat?
Calic: Das kann man sich gar nicht anders vorstellen. Die Anklagebehörde in Belgrad hat ja mittlerweile erklärt, dass sich Mladic in den letzten sechs Jahren sicherlich in und um Belgrad aufgehalten hat, dass er sich wo möglich sogar in einem Krankenhaus hat behandeln lassen.
Man kann sich nicht vorstellen, dass das ohne Wissen der Behörden stattgefunden hat. Er hat falsche Papiere gehabt, Ausweispapiere, die muss das Innenministerium ihm ausgestellt haben. Es ist also ganz klar: Er hat wichtige Mitwisser und Beschützer gehabt in der Armee, in den Sicherheitskräften, in den Ministerien. Und wenn wir daran denken, dass im Falle von Karadzic die bosnischen Behörden allein gegen mehr als 100 Personen als Fluchthelfer und Mitwisser ermitteln, können wir uns ungefähr vorstellen, wie viele da in Belgrad auch beteiligt waren.
Wuttke: Genau das, was Sie jetzt schildern, stößt ja auch bei der EU bitter auf. Sie haben ja schon gesagt, welcher Unterschied in der Wahrnehmung zwischen Karadzic und Mladic bestand beziehungsweise besteht. Ist denn der Rückhalt für Mladic an Einzelpersonen festzumachen, oder kann man sagen, es gibt eine Art von Netzwerk?
Calic: Es gibt sicherlich noch Personennetzwerke in Belgrad, die aktiv sind. Allerdings sind die schwächer. Und die Regierung hat ja erklärt, dass sie gegen diese Netzwerke jetzt auch entschlossen vorgehen will. Es gibt ein rechtsnationalistisches populistisches Spektrum, das Stimmung macht für ihn, und es gibt sicherlich auch immer noch viele Menschen, die ihn weiterhin als Held betrachten und gegen diese Auslieferung sind. Allerdings wissen wir auch aus Umfragen, dass mindestens jeder zweite Serbe auch die Auslieferung gutheißt. Und viele Menschen wünschen sich einfach Normalisierung, wünschen sich gute Beziehungen zur Europäischen Union und möchten mit der Kriegsvergangenheit abschließen. Und deshalb ist ihnen die Auslieferung von Mladic entweder egal, oder sogar eher recht.
Wuttke: Es ist inzwischen acht Jahre her, dass Zoran Dindic ermordet wurde. Führt Boris Tadic ein riskantes Leben?
Calic: Er führt höchst wahrscheinlich ein riskantes Leben. Auf der anderen Seite haben sich die Zeiten auch geändert. Es sind doch einige Jahre ins Land gegangen. Die Regierung hat sich konsolidiert und mit einigen alten Strukturen auch aufgeräumt. Die europäische Perspektive ist jetzt sehr viel greifbarer, als das noch zu Dindics Zeiten war, und ich denke, man muss jetzt nicht gleich davon ausgehen, dass er mit dem Leben bedroht wird, weil er den Mladic ausgeliefert hat.
Wuttke: Ratko Mladic muss in Den Haag jetzt auf seinen Prozess warten. In der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur Marie-Janine Calic. Sie ist Professorin, Historikerin an der Uni München. Ich danke Ihnen sehr für diese Erläuterungen und wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Calic: Ja, danke sehr!
Marie-Janine Calic: Guten Morgen!
Wuttke: Kann der serbische Präsident Boris Tadic gegenüber der EU nun darauf pochen, alle Hausaufgaben zur Vergangenheitsbewältigung erledigt zu haben?
Calic: Nein, sicherlich nicht, denn in Den Haag standen ja nur die wichtigsten Kriegsverbrecher vor Gericht. Einer von ihnen ist übrigens noch auf freiem Fuß und muss noch geschnappt werden. Die Anklagebehörde hat mal ausgerechnet, dass eigentlich 15.000 bis 20.000 Personen der Prozess gemacht werden müsste. Und in der Tat finden auch in Serbien jetzt vor nationaler Jurisdiktion Kriegsverbrecherprozesse statt, zum Beispiel gegen Angehörige einer paramilitärischen Einheit, die im Bosnien-Krieg Muslime ermordet hat.
Die eigentliche Aufgabe, denke ich, ist, in die Öffentlichkeit zu wirken und sich mit den Fragen der Kriegsvergangenheit intensiver auseinanderzusetzen, denn für viele Serben ist es ein Problem der Verdrängung. Man leugnet einfach, dass Serbien an diesem Krieg teilgenommen hat und auch maßgeblich an den Kriegsverbrechen Mitverantwortung trägt.
Wuttke: Wie erklären Sie sich denn, dass Tadic, nachdem Kostunica von der großen politischen Bühne abgetreten war, Karadzic schnell dingfest machen konnte, aber drei weitere Jahre für Mladic brauchte?
Calic: Der Ratko Mladic gilt in der Bevölkerung als Kriegsheld. Er gilt als einer, der die Serben in Bosnien verteidigt hat und die serbische nationale Ehre verteidigt hat. Er hat ein ganz anderes Ansehen als Militärführer, als das der Karadzic hatte, der doch letztlich als ein bosnischer Politiker, ein bosnisch-serbischer Politiker galt, der auch ein bisschen skurril und schräg war als Psychiater und Dichter. Er hatte nie dieses Ansehen wie Mladic.
Mladic hatte auch viel bessere Verbindungen in die Volksarmee. Er war ja ein hoher Funktionär, hatte einen hohen militärischen Posten dort, hatte gute Verbindungen in die Sicherheitskräfte und ins Innenministerium, und deshalb war es eine politische Frage und auch eine Sicherheitsfrage, Mladic gefangen zu nehmen.
Wuttke: Das heißt, Sie gehen davon aus, dass man zumindest einige Zeit wusste, wo er steckt, bevor man dann zugegriffen hat?
Calic: Das kann man sich gar nicht anders vorstellen. Die Anklagebehörde in Belgrad hat ja mittlerweile erklärt, dass sich Mladic in den letzten sechs Jahren sicherlich in und um Belgrad aufgehalten hat, dass er sich wo möglich sogar in einem Krankenhaus hat behandeln lassen.
Man kann sich nicht vorstellen, dass das ohne Wissen der Behörden stattgefunden hat. Er hat falsche Papiere gehabt, Ausweispapiere, die muss das Innenministerium ihm ausgestellt haben. Es ist also ganz klar: Er hat wichtige Mitwisser und Beschützer gehabt in der Armee, in den Sicherheitskräften, in den Ministerien. Und wenn wir daran denken, dass im Falle von Karadzic die bosnischen Behörden allein gegen mehr als 100 Personen als Fluchthelfer und Mitwisser ermitteln, können wir uns ungefähr vorstellen, wie viele da in Belgrad auch beteiligt waren.
Wuttke: Genau das, was Sie jetzt schildern, stößt ja auch bei der EU bitter auf. Sie haben ja schon gesagt, welcher Unterschied in der Wahrnehmung zwischen Karadzic und Mladic bestand beziehungsweise besteht. Ist denn der Rückhalt für Mladic an Einzelpersonen festzumachen, oder kann man sagen, es gibt eine Art von Netzwerk?
Calic: Es gibt sicherlich noch Personennetzwerke in Belgrad, die aktiv sind. Allerdings sind die schwächer. Und die Regierung hat ja erklärt, dass sie gegen diese Netzwerke jetzt auch entschlossen vorgehen will. Es gibt ein rechtsnationalistisches populistisches Spektrum, das Stimmung macht für ihn, und es gibt sicherlich auch immer noch viele Menschen, die ihn weiterhin als Held betrachten und gegen diese Auslieferung sind. Allerdings wissen wir auch aus Umfragen, dass mindestens jeder zweite Serbe auch die Auslieferung gutheißt. Und viele Menschen wünschen sich einfach Normalisierung, wünschen sich gute Beziehungen zur Europäischen Union und möchten mit der Kriegsvergangenheit abschließen. Und deshalb ist ihnen die Auslieferung von Mladic entweder egal, oder sogar eher recht.
Wuttke: Es ist inzwischen acht Jahre her, dass Zoran Dindic ermordet wurde. Führt Boris Tadic ein riskantes Leben?
Calic: Er führt höchst wahrscheinlich ein riskantes Leben. Auf der anderen Seite haben sich die Zeiten auch geändert. Es sind doch einige Jahre ins Land gegangen. Die Regierung hat sich konsolidiert und mit einigen alten Strukturen auch aufgeräumt. Die europäische Perspektive ist jetzt sehr viel greifbarer, als das noch zu Dindics Zeiten war, und ich denke, man muss jetzt nicht gleich davon ausgehen, dass er mit dem Leben bedroht wird, weil er den Mladic ausgeliefert hat.
Wuttke: Ratko Mladic muss in Den Haag jetzt auf seinen Prozess warten. In der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur Marie-Janine Calic. Sie ist Professorin, Historikerin an der Uni München. Ich danke Ihnen sehr für diese Erläuterungen und wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Calic: Ja, danke sehr!