Die Bücher, die nun nach Woronesch zurückkehren, haben eine "ganz eigene Geschichte, die noch erforscht werden muss", erläutert Wolfgang Eichwede im Interview. [AUDIO] Die Universität in der russischen Stadt bekomme mit der Rückgabe "nicht nur ein Geschenk, sondern auch eine richtig große Forschungsaufgabe", ist der Experte überzeugt.
Beutebücher kehren nach Russland zurück
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Eigentlich verlangt die Rückgabe von im Krieg geraubten Kulturgütern jahrelange Verhandlungen. Umso erstaunlicher ist die Geschichte eines wertvollen Bücherpakets aus dem Zweiten Weltkrieg, das sich nun auf die Reise zurück nach Russland macht.
Als die Wehrmacht vor 80 Jahren die Sowjetunion überfiel, wurden Millionen Menschen getötet, Städte und Dörfer zerstört, Industrie vernichtet und Kunst geraubt. Nach dem Ende des Krieges transportierte dann die sogenannte sowjetische Trophäenkommission von 1945 bis 1947 Kunstgüter waggonweise aus der sowjetisch besetzten Zone ab. Das Allermeiste verschwand auf Nimmerwiedersehen. Soll tatsächlich einmal etwas zurückgegeben werden, muss oft jahrelang verhandelt werden.
"Anfangs dachte ich, das ist irgendeine Gaunerei", sagt Dmitri Jendowitzky. Der Rektor der Universität Woronesch konnte es zunächst nicht glauben, dass sich 91 Bücher, alles wertvolle historische Exemplare, auf dem Weg zu seiner Universität befinden. 80 Jahren waren die Bände, die bis zur Oktoberrevolution 1917 Adligen und Gutsbesitzern gehörten, verschollen. Hans Erich Freys Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass die Kostbarkeiten nun doch in ihre russische Heimat zurückkehren.
"Dieser Wunsch, diese Bücher zurückzugeben, hatte den Hintergrund, dass mir inzwischen völlig klar geworden war, dass die Entnahme der Bücher aus - ich dachte - Privathäusern, rechtswidrig gewesen ist", sagt Frey.
Als Kind enttäuscht über die Bücher
Hans Erich Freys Vater war nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 in Woronesch stationiert und sollte in der von den Nazis völlig zerstörten Stadt die Wasser- und Stromversorgung wiederherstellen. Die Freys waren Baltendeutsche aus Riga. Der Vater sprach und las Russisch. Er holte sich aus den zerstörten Häusern die zurückgelassenen Bücher. Mindestens 91 Bände, die er mit der Feldpost der Wehrmacht Stück für Stück nach Hause schickte, was sein damals siebenjähriger Sohn Hans Erich mitbekam.
"In diesem Sommer 1942 kamen dann in großer Zahl Feldpostpäckchen an meine Mutter. Ich fand es immer ganz toll", erzählt Frey, "Und doch war ich auch ein bisschen enttäuscht, da in den Päckchen immer nur Bücher drin waren."
Als erst Hans Erich Freys Vater und schließlich 2002 seine Mutter starb, nahm die Bücher niemand mehr zur Hand. "Ich habe gesehen, dass er in diesen Büchern auch gelesen hat. Wir haben damals gedacht, wenn mein Vater sie nicht aus der Vernichtung gerettet hätte, gäb es die gar nicht mehr. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Das ist auch keine Rechtfertigung."
Unbezahlbares Grammatikbuch
Der Sohn, Hans Erich Frey, lange Kommunalpolitiker in Hessen für die SPD, wollte handeln und die Bücher zurückgeben, wusste aber nicht wie, wohin und an wen. Es dauerte Jahre, bis er von Wolfgang Eichwede erfuhr, dem Experten für deutsch-sowjetische Beutekunst.
"Als er mir die Fotos schickte, war mir klar, dass das eine schöne und große Sache ist. Es ist auch schön, muss man sagen, dass nicht im Sinne großer Diplomatie und auch nicht im Sinne eines Austausches – es wird zurückgegeben. Diese Haltung finde ich richtig", meint Eichwede.
Der Bremer Professor recherchierte, wohin die wertvolle Fracht gehörte. Dazu musste er auflisten, um welche bibliografischen Kostbarkeiten es sich genau handelt. Hans Erich Frey schickte ihm die Bücher nach Berlin. In mehreren Reihen stapelten sie sich einzeln eingewickelt in Eichwedes Berliner Wohnung.
Eichwede sagt, die Bücher seien nicht "so ganz ordentlich verpackt", er müsse da doch immer mal hineinschauen: "Sie müssen sich vor Augen halten: Das sind fast die gesamten Werke von Karamsin, dem großen russischen Historiker, eine ganz frühe Ausgabe, aus dem frühen 19. Jahrhundert", sagt er und zeigt erst auf ein Buch, dann auf ein anderes.
"Das ist wahrscheinlich die Erstausgabe der Werke von Puschkin. Und dieses hier enthält Beschreibungen der Gouvernements von Woronesch oder von Kursk angrenzendes Gouvernement. Und der kleine Band ist eine Besonderheit: eine slawische Grammatik". Eichwede habe mit seinen Moskauer Kolleginnen und Kollegen recherchiert. Das Grammatikbuch könne aus dem 17. Jahrhundert stammen.
"Und das ist jetzt die Puschkin-Ausgabe mit Eugen Onegin?", fragt die Reporterin. "Das ist die Puschkin-Ausgabe von 1838. Er ist 1837 gestorben", antwortet der Professor.
Die Volksdiplomatie
Rektor Jendowitzky möchte den Büchern einen würdigen Empfang in Woronesch organisieren, sie würden künftig in der Bibliothek oder als Scan Wissenschaftlern aus aller Welt zugänglich gemacht.
Am meisten freut er sich über eine historische Abhandlung der slawischen Kultur und Schrift aus dem 18. Jahrhundert, sie habe geopolitische Bedeutung, sei unbezahlbar. Kein Auktionshaus der Welt könnte dafür einen angemessenen Preis erzielen.
Nach dem jahrzehntelangen Stillstand, als weder die russische noch die deutsche Seite im Krieg geraubte Kunstschätze zurückbekam, ist die jetzt fast lautlose Rückkehr der 91 historischen Bücher nach Woronesch ganz ohne Scheinwerfer und große politische Bühne eine Geste, die Hoffnung macht.
"Die Verantwortung für diesen Krieg haben wir", sagt der Beutekunstspezialist Eichwede, "Doch ist es für mich einfach schön, zu sehen, wie Deutsche doch Dinge nach Russland zurückgeben, die damals ihre Väter mitgenommen haben, aber auch umgekehrt in der Ukraine oder in Russland. Manchmal muss man einfach sagen, sind die Bürger beider Länder viel weiter als die Regierung."
Rektor Jendowitzky nennt es Volksdiplomatie. Trotz der schwierigen Zeiten verbinde die Menschen in Russland und Deutschland eindeutig mehr, als sie trenne.