"Sehr wichtige Dokumente bisher noch nicht erforscht"
Nach dem Tod von Cornelius Gurlitt ist der Fall noch nicht erledigt, sagt der Provenienzforscher Uwe Hartmann. Er geht davon aus, dass sich noch viele weitere Objekte im Besitz von Privatleuten befinden.
Marietta Schwarz: Max Pechstein, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff – die Gemälde, die 2012 in der Schwabinger Wohnung von Cornelius Gurlitt gefunden wurden, lösten damals eine weltweite Debatte um NS-Raubkunst aus. Erst vor wenigen Wochen einigte sich der Kunsterbe mit dem Staat über die Zukunft seiner riesigen Sammlung. Die Bilder sollten von Experten untersucht und unter Raubkunst-Verdacht stehende Werke gegebenenfalls zurückgegeben werden. Jetzt ist Cornelius Gurlitt im Alter von 81 Jahren gestorben. Uwe Hartmann ist Leiter der Arbeitsstelle für Provenienzforschung. Hallo und guten Morgen, Herr Hartmann!
Uwe Hartmann: Guten Morgen!
Schwarz: Hat sich mit dem Tod Gurlitts auch der Fall Gurlitt erledigt?
Hartmann: Das denke ich nicht. Ich weiß nicht genau, inwieweit die Vereinbarung, die Sie angesprochen haben, vom Anfang April weiter Bestand hat. Das werden wir sicherlich in den nächsten Tagen erfahren. Aber die Aufklärung der Provenienzen der Sammlung, die wir als Mitarbeiter der Taskforce vorgenommen haben, die ist längst noch nicht abgeschlossen. Dafür ist die Sammlung oder ist der Bestand viel zu umfangreich, die Quellenlage nicht einfach. Und viele schwierige Fragen sind noch nicht beantwortet.
Schwarz: Können Sie uns da mal eine zeitliche Perspektive geben, wie lange das dauern wird?
Ziel: bis Ende des Jahres Objekte an Eigentümer zurückgeben
Hartmann: Wir sind davon ausgegangen, dass wir das bis Jahresende so weit klären können, dass die wirklichen Verdachtsfälle, die wir ermitteln konnten – damals gingen wir immer davon aus, in Zusammenarbeit mit Herrn Gurlitt und seinen Beratern und Anwälten –, dass wir diese Fälle klären können, und so, wie er sich verpflichtet hatte, dann diese Objekte auch im Sinne der Washingtoner Prinzipien analog, wie wir es in den öffentlichen Einrichtungen dann tun, im Sinne von gerechten und fairen Lösungen entweder den Anspruchsberechtigten zurückgeben werden oder wie gesagt andere einvernehmliche Lösungen gefunden werden.
Schwarz: Dieser Fall hat ja zum ersten Mal überhaupt in dieser Dimension die Rolle der Museen, Kunsthändler und Provenienzforscher beleuchtet, auch infrage gestellt. Welche Bilanz ziehen Sie, Herr Hartmann?
Hartmann: Ja, es ist wirklich so, dass, seitdem ich auf dem Gebiet tätig bin, keine so intensive, vor allen Dingen auch im Ausland so intensiv geführte Diskussion zu dieser Problematik stattgefunden hat. Wir als Mitarbeiter in den öffentlichen Einrichtungen sind zunächst davon etwas überrascht worden. Auch meine persönliche Einschätzung war im November, das ist eine Privatangelegenheit, das berührt nicht die Arbeit in den öffentlichen Einrichtungen. Das mussten wir erfahren, dass hier dann doch von diesem Einzelfall geschlossen wurde auf die Gesamtsituation in Deutschland.
Wir haben immer wieder auf unsere Arbeit, auf unsere Fortschritte hingewiesen. Wir müssen jetzt aber auch sehen, dass wir in den vergangenen Jahren nach der Washingtoner Konferenz '98 ausschließlich auf die öffentlichen Sammlungen geschaut haben. Die Menschen, die Betroffenen im Ausland, aber auch politische Funktionsträger, möchten da diesen Unterschied nicht sehen. Das heißt, wir müssen in Deutschland auch in Zukunft stärker sehen, wie können wir gemeinsam mit privaten Kunstsammlern, mit privaten Museen, die auch solche Objekte, die möglicherweise eine belastete Provenienz haben, besitzen, wie können wir da gemeinsam Lösungen finden.
Museen habe klares Interesse an Aufklärung
Schwarz: Die Provenienzforschung hat also an Bedeutung gewonnen. Das ist für Ihren Bereich sehr erfreulich. Aber die große Frage, die sich in den letzten Jahren im Zuge dieses Falles ja auch immer wieder gestellt hat, ist die, ob die Beteiligten, die Museen, die Kunsthändler, die Sammler, überhaupt ein Interesse an Aufklärung haben.
Hartmann: Aus der Sicht der öffentlichen Einrichtungen muss ich das eindeutig unterstreichen. Alle in Museen und öffentlichen Sammlungen tätigen Mitarbeiter, von der Direktion bis hin zu den Restauratoren, wollen einen rechtssicheren Raum. Das heißt, die Objekte, die den Mitarbeitern anvertraut sind, da muss eine Rechtssicherheit herrschen, insbesondere eben was die Herkunft angeht, die Umstände der Erwerbung. Nur wenn das moralisch, ethisch und rechtlich einwandfrei ist, dann können die Mitarbeiter mit diesen Objekten umgehen, also sie erforschen, sie vermitteln, sie ausstellen. Sobald dort Unsicherheiten vorhanden sind, überträgt sich das auf das gesamte Arbeitsklima in den öffentlichen Einrichtungen.
Schwarz: Aber geklärt ist das bislang ja nicht, ob in den Archiven nicht noch viel Dunkles schlummert?
Hartmann: Ja. Es ist in vielen Fällen nicht geklärt, was insbesondere auch die Sammlungsobjekte selbst angeht, weil insbesondere durch die Geschichte, die deutsche Geschichte, durch Teilung, durch Kriegsverluste und so weiter viele Überlieferungen auch verloren gegangen sind. Auch das haben wir selbstkritisch immer wieder gesagt. In Deutschland, im vereinigten Deutschland haben wir viel zu spät dieses Thema wieder auf der Tagesordnung gehabt durch diese schon erwähnte Washingtoner Konferenz. Aber wir müssen auch sagen, dass in einer Vielzahl von Archiven, dadurch, dass wir in den vergangenen Jahren doch nicht so viele Kolleginnen und Kollegen hatten, die sich damit beschäftigt haben, möglicherweise auch noch sehr wichtige Dokumente bisher nicht erforscht sind, nicht erschlossen sind, und – das zeigte der Fall Gurlitt – wir gehen auch ganz sicher davon aus, dass in einer Vielzahl von Familien im Privatbesitz sowohl Objekte wie aber auch wichtige Dokumente sich befinden, deren Existenz weitgehend unbekannt ist nach wie vor.
Schwarz: Also noch einiges zu tun?
Hartmann: Ja.
Schwarz: Uwe Hartmann ist der Leiter der Arbeitsstelle für Provenienzforschung, und ich danke Ihnen, Herr Hartmann, für das Gespräch.
Hartmann: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.