"Mein Rollstuhl bedeutet mir Freiheit"
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Die App TikTok wurde bekannt mit kurzen Tanz- und Singvideos von Teenagern. Raul Krauthausen nutzt das Medium, um über das Leben behinderter Menschen in Deutschland zu berichten. Fast 150.000 Nutzer folgen dem 40-jährigen Inklusionsaktivisten.
"Viele Leute sagen ja, dass Menschen an den Rollstuhl gefesselt seien. Aber: So fühle ich mich nicht. Ich fühle mich nicht an meinen Rollstuhl gefesselt. Ganz im Gegenteil: Mein Rollstuhl bedeutet mir Freiheit und Unabhängigkeit. Und Selbstbestimmung. Es ist also das Gegenteil von Fesselung."
Denkanstöße wie diese verschickt Raul Krauthausen über TikTok. Die Video-App des chinesischen Konzerns ByteDance verbreitet sich seit einigen Jahren rasant, vor allem bei Jüngeren. Der 40-Jährige fing vor knapp einem Jahr an, hier zu posten.
"Ich habe mich damals, als TikTok in meiner Bubble ankam, wirklich überwinden müssen, die App überhaupt zu installieren und mir die Sachen anzugucken. Es hat mir unglaublich gestresst. Und dann habe ich mich gefragt: ‚Warum stresst mich das eigentlich?’ Ich hatte Angst, einer dieser Erwachsenen zu werden, die alles verteufeln, was neu ist."
Also überwindet sich Raul Krauthausen. Er guckt erst einmal täglich viele der maximal 60 Sekunden langen Videos – und fragt sich dann, was er selbst auf der Plattform machen könnte:
"Meine Idee ist jetzt, einmal die Woche in kurzen Clips über das Leben behinderter Menschen in Deutschland zu erzählen."
Keine Menschen mit Behinderungen im Bekanntenkreis?
Jeder zehnte Mensch hat hierzulande eine Behinderung. Krauthausen selbst hat Glasknochen, ist kleinwüchsig und fährt mit dem Rollstuhl durch Berlin. 2004 gründete er den Verein Sozialhelden.
Der sammelte unter anderem mit Pfandflaschen-Bons Geld für soziale Zwecke, initiierte die Online-Karte Wheelmap für rollstuhlgerechte Orte in Deutschland und soll mit der Internetseite Leidmedien helfen, diskriminierungsfreie Sprache zu benutzen.
Inklusion ist Krauthausens Lebensthema. Dafür ist er bekannt, mischt mit – und ist und bleibt eine Ausnahme.
"Eine Frage, die sich jeder selbst stellen kann: Habe ich Menschen mit Behinderungen direkt im Kollegium, im Studium, in der Schulklasse, in der Ausbildung, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft. Oder in meinem Instagram-Feed. Oder TikTok, Twitter, Facebook? Wenn nein – warum nicht? Und würdest Du das gerne ändern? Schaue einfach in meine Follower. Da findest Du eine Menge Inspiration."
Die vielen Kommentare unter seinen Videos schaffe er nicht immer alle zu lesen, verrät Raul Krauthausen. Das tue ihm leid. Inzwischen folgen ihm auf TikTok fast 150.000 Nutzer.
"Ich muss ganz ehrlich sagen: Mich hat die App überrascht. Dass sie so schnell soviel Reichweite erzeugt – ich traue diesen Zahlen nicht so ganz."
Bis zur fünften Klasse inklusiver Sportunterricht
TikTok selbst spricht von einer Zielgruppe zwischen 14 und 20 Jahren. Anfangs haben vor allem Teenager die App genutzt, um einander Tanzvideos zu schicken oder Songs lippensynchron nachzusingen.
Mit jungen Leuten über ganz andere Themen in einen Dialog auf Augenhöhe zu kommen – das ist das Ziel von Raul Krauthausen. Dafür erzählt er auch mal ganz persönlich aus seinem Leben:
"Bis zur fünften Klasse war ich zusammen mit meinen nichtbehinderten Freunden im Sportunterricht. Ja, richtig gehört. Ganz normal, genauso wie meine nicht behinderten Klassenkameraden durfte ich auf Rollbrettern herumfahren und Sport machen.
Doch dann, eines Tages, durfte ich nicht mehr mitmachen. Der Grund: Den Lehrern war es zu gefährlich, dass ich mit meinen Glasknochen am Sportunterricht teilnehme. Sie fürchteten, dass ich verletzt werden könnte. Ich musste im Nebenraum Krankengymnastik machen. Kinder müssen sich leider in der Schule dem System fügen – statt dass sich das System den Kindern anpasst."
Großartige Accounts von Menschen mit Downsyndrom
Der Berliner ist kritisch gegenüber jeglichen Barrieren, denen Menschen mit Behinderungen im Alltag ausgesetzt sind. Gerade die Plattform TikTok sei hier recht inklusiv, weil es wenig um Texte gehe, sondern man einfach auf Aufnahme drücken könne:
"Was ich spannend finde – und das wird mir viel zu wenig beleuchtet: was für Leute auf TikTok noch unterwegs sind. Gerade im angelsächsischen Raum gibt es unglaublich viele junge Menschen – mit Trisomie 21, mit Downsyndrom –, die eigenmächtig diese Kanäle bespielen und betreuen.
Daa ist nicht irgendein Erwachsener, der sie filmt, sondern die Jugendlichen machen das selbst, mit ihrer Behinderung. Und das habe ich so auf Twitter, Instagram und Facebook noch nicht gesehen. Man kann supergroßartigen Accounts folgen von Menschen mit Downsyndrom, die tanzen, die zeigen, was sie machen – und das bringt einen am Ende auch einander näher, als die ganze Zeit nur über Menschen mit Behinderungen zu sprechen."
Eine Stunde Arbeit steckt der 40-Jährige in jedes Video. Leider könne er keine Links posten – TikTok sei da wie eine Einbahnstraße. Ob er weiter macht?
"Ich kann nicht sagen, ob das so mega mein nächster Kanal wird. Fakt ist: Es ist weniger Arbeit als YouTube. Es ist mehr Bewegung als Instagram. Und das wollte ich mal ausprobieren. Zumal ich jemand bin, der sich nicht viel bewegt. Das heißt: Wie kann ich Bewegung interessant machen? Das mache ich mit Jumpcuts, oder mit Untertiteln – oder mit Humor."
Erfolgsrezept: Humor
Raul Krauthausen schwimmt im Pool in einem roten Schwimmreifen für Babys. Zu sehen auf einem privaten Bild – dazu ein Song. Auch Schmunzeln gehört auf seinem TikTok-Kanal dazu.
"Ich möchte nicht der Lehrer sein, der den Leuten sagt: ‚So musst Du das in Zukunft machen.’ Ich möchte eigentlich nur zum Nachdenken anregen. Und sagen: ‚Wenn Du auf dem Schulhof meinst, Deine Kumpels mit ‚behindert’ beschimpfen zu müssen – dann mach das. Aber dann lebe auch mit den Konsequenzen, wenn das andere doof finden. Ich kann Dir als Mensch mit Behinderung sagen, dass das nicht so geil ist. Ich versuche das irgendwie zu erklären und stelle in den Kommentaren darunter fest, dass Leute sagen: ‚Ja, stimmt eigentlich.’"