Der Exodus nach Europa
Mehr als 800.000 Afghanen sind im eigenen Land auf der Flucht. Rund 2,5 Millionen Afghanen schlagen sich in den Nachbarländern Pakistan und Iran durch. Und immer mehr machen sich auf Richtung Europa, fliehen vor Krieg und Gewalt.
Afghanistan im Herbst 2015. Die Schlange vor dem nationalen Passamt in Kabul wird immer länger. Die ersten kommen schon mitten in der Nacht, wenn es noch dunkel ist.
Farida hat es nach mehreren erfolglosen Anläufen in den vergangenen Tagen endlich bis in den Innenhof geschafft. Sie bahnt sich einen Weg durch die Menge. Ein Gerücht macht die Runde.
"Ich habe gesehen, wie Sie hier die Leute befragen. Viele hier denken, dass Sie extra aus Deutschland gekommen sind, um uns zu beraten, dass wir nicht weggehen sollen und dass unsere Pässe nichts nützen. Stimmt das?"
Farida, ihr Mann und ihre sieben Kinder sind entschlossen zu gehen. Nach Deutschland. Schritt 1: die Flucht nach Kabul. Schritt 2: afghanische Reisepässe für alle beantragen. Schritt 3: Visa für den Iran organisieren, um legal ins Nachbarland einzureisen. Danach sollen dann Schlepper weiterhelfen. Farida und ihre Angehörigen wollen sich im Iran in zwei Gruppen aufteilen, um die Erfolgschancen zu erhöhen, Europa zu erreichen. Das ist der Plan der Familie.
"Wir haben nicht so viel Geld. Wir werden versuchen, getrennt über den Iran in die Türkei zu kommen, und dann wollen wir von dort aus mit anderen Leuten weiter Richtung Deutschland."
Faridas Familie stammt aus der umkämpften Provinz Nangarhar im Osten Afghanistans. Hier kontrollieren die Taliban große Gebiete. Sie liefern sich Gefechte mit afghanischen Sicherheitskräften und mit abtrünnigen Kämpfern, die sich heute zum selbsternannten Islamischen Staat bekennen. Der IS hat in Nangarhar Fuß gefasst. Nach Geheimdienstinformationen fließt viel Geld, um neue Kämpfer anzuwerben.
Die Zivilisten sind der Gewalt zwischen den unklaren Fronten ausgeliefert. Farida weiß, dass die Reise Richtung Europa lebensgefährlich ist. Auch die afghanischen Medien berichten über die Ertrunkenen, die an europäischen Stränden angespült werden.
"Es ist besser, es zu versuchen und auf der Reise zu sterben, als hier zu sterben. Hier sterben wir jeden Tag ein bisschen mehr. Ich habe einen Sohn, er ist 16 Jahre alt. Die Taliban wollen, dass unsere Söhne für sie kämpfen. Meine beiden ältesten Töchter sind 15 und 17 Jahre alt und in Gefahr, zwangsverheiratet zu werden. Wir wollen nicht länger in dieser Unsicherheit leben."
Die Klimaanlage brummt. Die Überwachungskameras reichen bis in den kleinsten Winkel. Brigadegeneral Sayed Omar Sabur beobachtet das Treiben auf der Straße, im Innenhof, auf den Treppen, in den engen Gängen und an den Schaltern auf zehn Flachbildschirmen, die in seinem Büro an der Wand hängen. Sabur ist der Chef der afghanischen Passbehörde.
"Bist du aus Deutschland? Der Grund, warum wir hier so viel zu tun haben, ist, dass Deutschland die Tür geöffnet hat. Und solange die Tür offen ist, wird das hier so weitergehen. Die Leute verfolgen die Nachrichten. Und sie glauben zu hören, dass in Deutschland alle Grenzen offen sind."
Die Zahlen, die er vorlegt, sprechen für sich.
"Es gibt einen deutlichen Anstieg. Bis vor ein paar Monaten hatten wir im Durchschnitt vielleicht 2.000 Bewerbungen täglich. Heute sind es zwischen 7.000 und 8.000 Antragsteller am Tag."
Es kommen ständig Menschen mit neuen Anträgen in das Büro von Brigadegeneral Sabur, die der Chef so schnell wie möglich unterschreiben soll. Mal sind es uniformierte Mitarbeiter, mal sind es Familiendelegationen mit Beziehungen. Hinter vorgehaltener Hand heißt es draußen bei den Wartenden im Innenhof, Schmiergeld könne einen Antrag erheblich beschleunigen.
"Das macht mich natürlich traurig. Ich würde mir wünschen, dass alle diese Bewerber hier Schlange stehen, weil sie als Touristen ins Ausland reisen wollen. Es tut mir auch leid, dass wir hier nicht schnell genug arbeiten können. Es dauert immer länger, bis ein Pass fertig ist. Zurzeit sind es im Durchschnitt vier Monate Wartezeit. Ich kann diese Leute nicht wegschicken. Sie haben ein Recht auf einen Pass. Unsere Verfassung sagt das. Die Menschenrechte sagen das. In einer Demokratie haben alle ein Recht auf einen Reisepass."
Sog der Perspektivlosigkeit
Kabul am 30. September 2015 um 9 Uhr morgens. Sima Samar sitzt in ihrem zur Festung ausgebauten Büro in der afghanischen Menschenrechtskommission. Die sonst so unerschütterliche Berufsoptimistin kämpft mit den Tränen. Die Taliban haben vor zwei Tagen im Handstreich die Provinzhauptstadt Kundus im Norden Afghanistans gestürmt. Es ist der größte militärische Erfolg der Islamisten seit dem Sturz ihres Regimes vor 14 Jahren.
"Es wird immer schlimmer", sagt die Vorsitzende der Afghanischen Menschenrechtskommission. Sie lacht gequält und ergänzt:
"Ich weine öfter, aber ich will nicht vor dir weinen."
Die Nachrichten aus Kundus, das Blutvergießen, die Not der Menschen – der Schock sitzt tief. Sima Samar liegen erste Berichte vor, dass die Taliban in Kundus gezielt Jagd auf Regierungsmitarbeiter und ihre Familien machen und sie hinrichten.
"Wir zahlen einen sehr hohen Preis für den Fall von Kundus, das setzt das ganze Land unter Druck. Wir können die ganze Dimension noch gar nicht erfassen, den Angstfaktor! Und wenn die Menschen erst mal das Vertrauen in den Staat und in die Sicherheitskräfte verlieren, ist es unendlich schwer, das verlorene Vertrauen zurück-zugewinnen."
Der Vertrauensverlust ist groß. Am 30. September, zwei Tage nach dem Fall von Kundus, beginnen die afghanischen Sicherheitskräfte damit, die Stadt zurückzuerobern. Sie werden unterstützt von US-Spezialeinheiten und Kampffliegern. Ein fataler amerikanischer Luftangriff trifft in der Nacht zum 3. Oktober das bekannte Krankenhaus der "Ärzte ohne Grenzen" in Kundus. Mehr als 20 Ärzte und Patienten kommen ums Leben. Einige verbrennen in ihren Betten. Die internationale Hilfsorganisation spricht von einem Kriegsverbrechen, das US-Militär von einem bedauerlichen Fehler.
Den höchsten Preis für den Fall von Kundus zahlen die Zivilisten. Das ausgebrannte Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen war die beste Klinik in ganz Nordafghanistan. Die Helfer haben die Stadt aber verlassen. Die Regierung versichert am 6. Oktober zum wiederholten Mal, dass Kundus vollständig zurückerobert sei. Doch die Taliban stoßen immer wieder vor. Sie kontrollieren das Umland in der gleichnamigen Provinz. Sie starten Angriffe in den Nachbarprovinzen Faryab, Baghlan, Takhar und Badakshan. Auch internationale Dschihadisten und lokale Milizen terrorisieren die Bevölkerung.
Tausende Familien fliehen aus dem Norden Afghanistans Richtung Kabul. Sie flüchten aus dem Gebiet, in dem die Bundeswehr zehn Jahre lang das Regionalkommando für die NATO-Kampftruppen führte. In keiner anderen Provinz sind mehr deutsche Soldaten gefallen als in Kundus. Gerade hier buhlen viele bewaffnete Gruppen um die Macht, während der Staat für die leidende Bevölkerung oft unsichtbar bleibt.
Menschenrechtlerin Sima Samar spricht von einem Sog der Perspektivlosigkeit.
Es ist unendlich schwer, seine Identität zu verlieren
"Du denkst an deine eigenen Kinder, es ist schwer", flüstert sie unter Tränen, als sie versucht, den afghanischen Exodus zu erklären. Die Afghanen waren in den vergangenen drei Jahrzehnten die größte Flüchtlingsgruppe der Welt. Heute sind sie hinter den Syrern die zweitgrößte – obwohl in den vergangenen 14 Jahren viele Milliarden Euro Richtung Afghanistan geflossen sind.
Sima Samar, eine studierte Ärztin, war selber Flüchtling – rund 20 Jahre lang, in Pakistan. Sie flüchtete Anfang der 80er-Jahre vor der sowjetischen Besatzung. Sie blieb in Pakistan, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der afghanische Bürgerkrieg ausbrach, der die Taliban an die Macht spülte. Die heute 58-Jährige kehrte erst nach dem US-Einmarsch Ende 2001 nach Kabul zurück.
"Es ist unendlich schwer, seine Identität zu verlieren. Das Leben als Flüchtling ist furchtbar. Ich möchte den jungen Menschen in meinem Land sagen: Wir gehen durch eine sehr schwierige, furchtbare Zeit. Aber Afghanistan ist eure Heimat. Hier sprecht ihr die Sprache. Hier sind eure Wurzeln. Hier habt ihr eine Identität. Hier stößt euch niemand ins Wasser. Es gibt so viele, die auf der Flucht ihr Leben verlieren, und niemand weiß, was mit ihnen passiert ist."
Afghanistan steckt in einem gefährlichen Kreislauf
Auch Richard Danziger lebt und arbeitet in Kabul hinter hohen Schutzwällen und Sprengschutzmauern. Er leitet das Afghanistan-Büro der Internationalen Organisation für Migration, kurz IOM, die weltweit Flucht- und Migrationsbewegungen analysiert.
"Wir werden jetzt vielleicht ein Muster finden, wonach alle, die in Europa ankommen, sagen werden, dass sie aus Kundus sind. Weil Kundus gerade in den Medien ist. Wir haben es hier mit einem Exodus zu tun, ja, aber wir haben keine konkreten Zahlen. Wir wissen nur, wie viele Menschen in Europa ankommen. Wir wissen, dass mehr Bustickets Richtung Iran verkauft werden. Wir wissen, dass die Flüge nach Teheran voll sind mit jungen Männern, während die Rückflüge leer sind. Ja, das ist ein Exodus, aber wir können einfach keine Zahlen vorlegen."
Für viele ist es eine Flucht in Etappen, weil sie zwischendurch Geld verdienen müssen. Im Iran und in der Türkei. Viele Afghanen, die zurzeit in Deutschland ankommen, haben sich schon vor Wochen oder Monaten auf den Weg gemacht. Bei einigen dauert es Jahre, bis sie ankommen. Afghanistan steckt in einem gefährlichen Kreislauf, warnt IOM-Chef Richard Danziger in Kabul.
"Es ist eine Mischung aus fehlender Sicherheit und schlechter Wirtschaftslage. Das eine verstärkt das andere. Wenn ein Gebiet unsicher ist, gibt es keine Arbeitsplätze. Und wenn es keine Jobs gibt, wird das Gebiet anfälliger für Aufständische. Hinzu kommt dann noch der Glaube daran, dass Deutschland alle aufnimmt. Afghanistan verliert sein menschliches Kapital. Es ist ein Zeichen schwindenden Vertrauens. Es ist ein massives Problem. Wir müssen Wege finden, den Strom aufzuhalten."
Für Abdullah und seinen Bruder Hamidullah gibt es nach eigenen Angaben kein Zurück mehr. Die beiden sind Mitte 20, haben studiert und schlafen jede Nacht woanders. Die vergangene Nacht haben sie in der Wohnung von wohlhabenden Verwandten in einer modernen Hochhaussiedlung in Kabul verbracht.
Abdullah hat bis März als Teilzeitlehrer an einer Sekundarschule gearbeitet. Dann verliebte er sich in eine seiner Schülerinnen. Ein verhängnisvoller Fehler.
"Ich wusste nicht, dass sie die Tochter eines mächtigen Kriegsfürsten ist, der gegen die Sowjets gekämpft hat. Als ihr Vater herausfand, dass wir Kontakt zueinander haben, hat er mich und meine Familie bedroht. Er will uns aus Rache umbringen. Seine Milizionäre verfolgen uns. Wir müssen uns ständig verstecken. Deswegen wollen wir das Land verlassen. Ich will nach Deutschland. Da kriege ich Unterstützung. Da geben sie mir Arbeit. Die Deutschen helfen Flüchtlingen."
Den Namen des Kriegsfürsten will er nicht nennen. Aus Angst, wie er sagt. Der Mann soll aber im afghanischen Parlament sitzen und gute Kontakte zur Polizei haben.
Abdullah sieht gequält aus, überprüfbar ist seine tragische Liebesgeschichte nicht. Doch in einem Land, in dem es keine Rechtssicherheit gibt und in dem Waffen, Kriegsfürsten und Ehrenmorde zum Alltag gehören, sind Taliban und Islamischer Staat nicht die einzige Gefahr für Zivilisten. Abdullah bereitet seine Flucht gemeinsam mit seinem Bruder Hamidullah vor.
"Wenn sie mich finden, finden sie auch meinen Bruder. Wenn die Lage besser wäre, würden wir nicht fliehen. Keiner verlässt seine Heimat freiwillig. Dein Land ist doch wie deine Mutter. Aber wenn ich rausgehe, kann jederzeit eine Bombe explodieren. Wie lange soll das noch so weitergehen? Ein Jahr? Zwei Jahre? Unsere Wirtschaft läuft schlecht. Hier sind fast alle arm. Selbst wenn wir einen Uni-Abschluss haben, kann uns die Regierung nicht mit Jobs versorgen. Eines Tages sterben wir alle. Es ist besser, auf der Reise zu sterben."
Eine Schwester der Brüder lebt in England. Sie ist dort verheiratet. Sie schickt Geld, mehr kann sie nicht tun. Hamidullah und Abdullah haben eine Reiseagentur kontaktiert, die früher auf Pilgerreisen nach Mekka spezialisiert war und jetzt mit Schleppern zusammenarbeitet. Die Brüder sollen pro Person 15.000 Dollar zahlen, um von Kabul in den Iran und weiter in die Türkei geschleust zu werden.
Viele Kriegsakteure ringen um die Vormachtstellung
Der militärische, wirtschaftliche und humanitäre Rückzug des Westens aus Afghanistan ist überall zu spüren. Die Taliban sind in der Offensive. Mit dem Islamischen Staat ist ein neuer Akteur auf das afghanische Schlachtfeld gezogen. Geld und vor allem Waffen gibt es im Überfluss.
Die verfeindeten Nachbarländer Pakistan und Indien fechten in Afghanistan einen Stellvertreterkrieg aus. Auch der Iran, Saudi-Arabien, China und Russland mischen mit - es ist auch ein Ringen um die Vormachtstellung in der Region.
Die afghanische Regierung von Präsident Ashraf Ghani ist durch interne Machtkämpfe gelähmt, während afghanische Kriegsfürsten mit ihren Waffen in das Machtvakuum stoßen.
Afghanistans Zivilisten haben viele Feinde. Deutschland bekommt die Folgen direkt zu spüren. In den ersten neun Monaten des Jahres haben mehr als 300.000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt – darunter über 16.000 Afghanen. In allen EU-Staaten zusammen waren es von Januar bis September knapp 80.000 Afghanen. Tendenz: steigend.
Für die große Mehrheit der afghanischen Flüchtlinge ist Deutschland unerreichbar. Qandi Gul ist nie zur Schule gegangen und wurde früh verheiratet. Die 25-Jährige hat acht kleine Kinder und ist mit dem neunten schwanger. Qandi Gul ist mit ihrer Familie aus der Provinz Kapisa nordöstlich von Kabul in die Hauptstadt geflohen.
"Wir sind vor ein paar Tagen hier angekommen. Bei uns gibt es Kämpfe zwischen den Taliban und den Soldaten. Wenn die Taliban dein Haus wollen, hast du keine Wahl. Wenn sie dein Essen wollen, hast du keine Wahl."
Mehr als 800.000 Afghanen sind - wie Qandi Gul - im eigenen Land auf der Flucht. Rund 2,5 Millionen Afghanen schlagen sich in den Nachbarländern Pakistan und Iran durch. An den Grenzen fallen regelmäßig tödliche Schüsse.
Afghanistan lebt seit mehr als 30 Jahren mit Krieg und Gewalt. Ein verwundetes Volk ist in Bewegung. Nur ein starker Staat kann den Exodus seiner klugen, jungen Köpfe stoppen. Europas Grenzen können es nicht.