Raus aus dem Kosovo

Wer sichert Frieden nach EU und NATO?

Friedenssoldaten der NATO in der geteilten Stadt Mitrovica im Norden des Kosovo, aufgenommen am 3.10.2011
Friedenssoldaten der NATO in der geteilten Stadt Mitrovica im Norden des Kosovo © picture alliance / dpa EPA/VALDRIN XHEMAJ
Von Christoph Kersting |
Seit zehn Jahren ist der Kosovo unabhängig: Doch die Menschen dort sind eigentlich noch nicht soweit, ihr Land alleine zu regieren. Christlichen Serben und muslimische Albaner misstrauen sich zutiefst. Aber weder NATO noch die EU wollen länger bleiben.
"Die Umwandlung der Kosovo Security Forces in eine Armee ist ein Riesenthema im Land. Die größte Partei der Kosovo-Serben, die Srpska Lista, die im Parlament sitzt und drei Minister stellt, sagt aber ganz klar: Wir werden niemals dafür stimmen, dass der Kosovo eine eigene Armee bekommt. Präsident Thaci hat trotzdem versucht, das im Hauruckverfahren durchzubringen – bislang erfolglos. Irgendwann wird es aber soweit sein, da bin ich mir sicher."
Sagt die serbische Konfliktforscherin Jovana Radosavljević aus Mitrovica, einer geteilten Stadt im Nordkosovo. Geteilt heißt: In Mitrovica leben auf der Nordseite des Flusses Ibar fast nur Serben, im Süden Albaner. Bislang stehen die einheimischen Kosovo Security Forces unter dem Kommando der internationalen KFOR-Truppen. Doch die KFOR baut nach und nach ihre Kräfte zurück: Die Bundeswehr etwa bricht zum Jahresende ihre Zelte ab, zumindest in Prizren, der zweitgrößten Stadt nach Pristina.

80 Bundeswehrsoldaten bleiben länger als 2018

Noch aber sind sie da: die Kosovo-Forces, kurz KFOR. Und zwar nicht nur in der Hauptstadt, wo 80 deutsche Soldaten auch über 2018 hinaus im KFOR-Hauptquartier Dienst tun werden. Sondern auch im Bundeswehr-Feldlager, einem Gelände am Stadtrand von Prizren, 40 Hektar groß – in etwa so viel wie 60 Fußballfelder.
Das KFOR-Feldlager in Prizren im Kosovo, aufgenommen am Mittwoch (08.12.2010) aus einem Bundeswehr-Hubschrauber anlässlich eines vorweihnachtlichen Besuchs des Bundesverteidigungsministers Zu Guttenberg.
Das KFOR-Feldlager in Prizren im Kosovo, aufgenommen im Jahr 2010 © dpa / Maurizio Gambarini
Oberfeldwebel Marc S. und zehn weitere Soldaten haben es heute mit "G 36" zu tun, dem Standardgewehr der deutschen Bundeswehr. Der Oberfeldwebel steht in der sogenannten Materialschleuse des deutschen KFOR-Feldlagers und prüft die eingestanzte Seriennummer auf jedem Gewehr, eine Soldatin hakt die Nummer auf einer Bestandsliste ab.
Das Sagen in der Materialschleuse hat Torsten S. Der Oberstleutnant schaut auch an diesem Morgen nach dem Rechten, vergewissert sich, dass alle Arbeitsabläufe nach Vorschrift erledigt werden.
"Wir haben hier heute Gewehre übernommen von der Materialgruppe des deutschen Einsatzkontingents. Diese Gewehre werden hier überprüft, ob alle Teile, die dazugehören, vorhanden sind: Zubehör wie Magazintaschen, Magazine, Reinigungsgerät, das Gewehr selber. Und nach der Überprüfung werden diese Waffen verpackt und für den Lufttransport vorbereitet und nach Deutschland zurückgeschickt."
Alles, was das Feldlager in Richtung Heimat verlässt, muss hier durch: auch Panzer, Geländewagen, LKW. Allein 400 Gewehre werden so bis Jahresende auf die Reise nach Deutschland geschickt.

Bar, Kapelle, Sporthalle – für deutsche Soldaten

Abgeschirmt von hohen Mauern und Zäunen wirkt das deutsche KFOR-Feldlager wie ein eigenes kleines Dorf: Rund 300 deutsche Soldaten sind hier aktuell stationiert.
Auf der Fahrt über die Einbahnstraßen des Lagers deutet Presseoffizier Ulrich V. durch die beschlagenen Scheiben eines Kleintransporters immer wieder nach links und rechts: Hier die "Millennium-Bar", wo man sich nach Dienstschluss auf ein Bier trifft. Dahinter die Lager-Kapelle, weiter oben am Hang eine Sporthalle, Volleyball- und Basketball-Felder. Vor einem Gedenkstein brennt eine Kerze: Hier wird der 27 deutschen KFOR-Soldaten gedacht, die seit 1999 gestorben sind – nicht bei Kampfeinsätzen, sondern vor allem durch Unfälle. Sogar kleine Läden gibt es im Lager, in denen Einheimische alles Mögliche für den täglichen Bedarf verkaufen.
Oberstleutnant Christian Kiesel sitzt in Uniform vor einer Deutschlandfahne
Oberstleutnant Christian Kiesel© Deutschlandradio / Christoph Kersting
Über 200 Kosovaren, Männer und Frauen, aus Prizren und Umgebung arbeiten im Feldlager, vor allem in der Kantine und als Reinigungskräfte. Sie müssen sich nun langsam nach einem neuen Job umsehen. Die Sicherheitslage sei heute eine andere als noch vor zehn Jahren, berichtet Christian Kiesel. Der Oberstleutnant leitet das 49. deutsche KFOR-Kontingent – und nur er darf als Kommandeur mit vollem Namen genannt werden:
"Die Aufgabe war zunächst mal, gerade in der Region Prizren als deutsches Kontingent hier ein stabiles und sicheres Umfeld zu schaffen – ganz platt gesagt: Damit die Bevölkerung hier in Ruhe leben kann, um sich eine Existenz aufzubauen. Das haben wir, denke ich, über die letzten knapp 20 Jahre gut erreicht."

Kosovos Polizei arbeitet gut

Vor zehn Jahren etwa hätten die deutschen KFOR-Soldaten noch klassische Polizei-Aufgaben übernommen in der Region, man sei regelmäßig Patrouille gefahren, habe Checkpoints eingerichtet, um gegen kriminelle Banden vorzugehen. All das mache mittlerweile die kosovarische Polizei – und das gut.
"Gleichwohl es noch politische Probleme gibt, die leider auch seit 15 Jahren, glaube ich, dieselben sind, so höre ich das immer. Als Beispiel organisierte Kriminalität, Korruption, auch die alten Machteliten, die noch hier das politische Sagen haben. Aber dann sagt auch eben jeder: Wir wissen, dass ihr da als Streitkräfte nichts mehr tun könnt. Das müssen wir selber lösen. Die Probleme können wir nur selber in den Griff bekommen."
Und so ist der Hauptjob der Soldaten im Moment: Rück- und Abbau des Feldlagers. Überall wird entrümpelt und abgerissen, die Hälfte des Materials ist schon weg. Anfang 2019 dann wird die Bundeswehr das Feldlager an die Vereinten Nationen übergeben: Auf dem Gelände soll dann ein Innovations- und Ausbildungspark entstehen.

Bis heute schwierig: Serben und Albaner

Innovation, Bildung, Arbeitsmöglichkeiten – genau daran mangele es schließlich im Kosovo fast 20 Jahre nach Kriegsende und zehn Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung, findet auch Florian Bieber. Der Südosteuropa-Experte von der Uni Graz ist regelmäßig im Kosovo unterwegs und kennt die alltäglichen Probleme der Menschen nur allzu gut, auch wenn es um das bis heute schwierige Zusammenleben von Serben und Albanern geht.
Ein Auto ohne Nummernschild steht vor einer Wand mit einem Street-Art-Porträt eines Manes, der die Zunge rausstreckt.
Mitrovica symbolisiert immer noch den Konflikt zwischen Serben und Albanern.© Jan Schmidt-Whitley / Le Pictori / MAXPPP / dpa
"Die Beziehung von Serben und Albanern im Kosovo ist eigentlich seit einem Jahrhundert von Spannungen geprägt. Das heißt nicht, dass es nur Spannungen gab, aber es gab eben keine Einigkeit, welchem Staat man angehören will. Der Kosovo kam in den Balkan-Kriegen vor einem Jahrhundert an Serbien, trotz einer großen albanischen Bevölkerung, die nicht zu Albanien kam, das damals auch aus der Taufe gehoben wurde. Und damit fühlten sich viele Albaner nicht zu Serbien zugehörig.
Und das setzte sich dann in der Zwischenkriegszeit und auch im sozialistischen Jugoslawien fort, das heißt, die Albaner des Kosovo sahen sich mehrheitlich nicht als Jugoslawen, sie sind auch keine Slawen, und damit war eine große Unzufriedenheit verbunden, die sich immer wieder in Versuchen einer Status-Änderung entlud. Das heißt, es gab eine Vorgeschichte. Das heißt nicht, dass es unweigerlich zu Krieg führen musste und Unterdrückung. Aber es hat etwas geschaffen, was im jugoslawischen Kontext die Ausnahme war."
Serbien, Slowenien, Montenegro, Mazedonien, Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina: So lauten die Namen der sechs jugoslawischen Teilrepubliken. Pristina aber bleibt auch nach dem Tod von Staatschef Tito lediglich die Hauptstadt einer autonomen Provinz namens Kosovo. Die albanischen Kosovaren fühlen sich so stets als Bürger zweiter Klasse.

Experte kritisiert "jugoslawisches Apartheid-System"

Unter Slobodan Milosevic verschärfte sich der albanische Widerstand, denn der Serbenführer etablierte das, was der Balkan-Experte Florian Bieber als eine Art "jugoslawisches Apartheid-System" bezeichnet: Wichtige Posten in Politik und Verwaltung werden im Kosovo nur noch mit Serben besetzt. Ab Mitte der 1990er Jahre gehen die Albaner mit Gründung der UCK zum organisierten bewaffneten Widerstand über. Es gibt Gräueltaten und Massaker – auf beiden Seiten, bei Serben wie Albanern.
Friedenssicherung mit Patrouillen und der Waffe in der Hand – das ist deshalb auch fast 20 Jahre nach Kriegsende noch immer notwendig, im äußersten Westen des Landes zum Beispiel. Dort steht das serbisch-orthodoxe Kloster Dečani.
Die Klosterkirche Decani im Kosovo, aufgenommen am 17.07.2014. Foto: Thomas Brey/dpa (zu dpa "Serbische Kosovo-Klöster leiden unter albanischen Attacken") 
Klosterkirche Dečani im Kosovo© dpa / picture-alliance / Thomas Brey
Mit 21 weiteren Mönchen lebt auch Vater Andrej im Kloster. Er ist spät dran an diesem Morgen, eilt zur Sonntagsmesse, und sitzt fünf Minuten später neben seinen Brüdern auf einer Holzbank im Innern der düsteren Kloster-Kirche. Sie stammt wie das gesamte Kloster aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und ist das größte serbische Bauwerk aus dieser Zeit. Ebenso einzigartig sind die Freskenmalereien nach byzantinischem Vorbild. Und: Anfang der 1960er Jahre war das Kloster Kulisse für den Karl-May-Streifen "Der Schut".

Am häufigsten attackierter Ort: das Kloster Dečani

Zwei christlich-orthodoxe Pilgergruppen aus Serbien und Montenegro besuchen heute das Kloster, und die meisten Gläubigen gehen auch zur Sonntagsmesse. Die Grenzen zu Albanien und Montenegro sind nur wenige Kilometer entfernt, genauso wie die gleichnamige Kleinstadt Dečani – wo allerdings seit dem Kosovo-Krieg keine Serben – also Christen – mehr leben.
Nach der Messe verabschiedet Vater Andrej auch einige Uniformierte, die innerhalb der Klostermauern patrouillieren: italienische und österreichische KFOR-Soldaten. Dass die Schutztruppe in und um das Kloster herum überall präsent sei, habe gute Gründe, erzählt der 45-jährige Vater Andrej.
"Wir sind hier der am häufigsten attackierte Ort seit dem Ende des Kosovokrieges 1999. Seitdem wurde das Kloster vier Mal beschossen, zuletzt im Jahr 2007. Da wurde aus dem Wald oberhalb des Klosters eine Mörsergranate abgefeuert, die die Klostermauer beschädigt hat. Zum Glück ist nie jemand verletzt worden."
Denn zum Glück waren sofort italienische KFOR-Soldaten zur Stelle, um die Anlage zu schützen. Ein Albaner wurde für den Angriff später zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Bis heute wird das Kloster rund um die Uhr von der KFOR bewacht, die Soldaten am großen Torbogen kontrollieren jeden Besucher, jedes Fahrzeug, das auf dem Platz vor dem Kloster parkt.

Die Situation bleibt fragil

Zuständig für die Sicherheit in diesem Landesteil und damit auch für Dečani ist die "Multinational Battle Group West". Die 750 KFOR-Soldaten unter italienischem Kommando sind im 20 Kilometer entfernten Peja stationiert. Neben Italienern gehören der Einheit Soldaten aus Moldau, Slowenien und Österreich an. An diesem Sonntag haben Soldaten des österreichischen Bundesheeres Dienst am Eingang zum Kloster.
Drei junge Rekruten mit Schnellfeuergewehren laufen vor ihrem Wachhäuschen aus Holz auf und ab, kontrollieren die Besucher. Und im Umfeld des Klosters seien stets weitere Soldaten sofort einsatzbereit, erzählt der österreichische Kompaniechef Christoph Seirer. Wie groß diese "Eingreiftruppe" ist und wo sie sich befindet, das ist laut dem österreichischen Hauptmann Militärgeheimnis. Nur soviel:
"Das Kloster in Dečani ist unser einziges Schutzobjekt, das KFOR noch direkt bewacht, und dementsprechend haben wir hier 24 Stunden, sieben Tage die Woche, eine Bewachung sicherzustellen. Ich bin jetzt seit sechs Monaten hier, in unserer Zeit gab es keine nennenswerten Vorfälle, also wir haben hier einen ganz ruhigen Wachdienst."
Doch immer wieder gibt es Vorfälle, die zeigen, wie fragil die Situation nach wie vor ist. Die tödlichen Schüsse etwa, die Mitte Januar dieses Jahres auf den serbischen Politiker Oliver Ivanović abgegeben wurden. Täter und Motiv sind noch im Dunkeln. Doch der Mordanschlag im nordkosovarischen Mitrovica belastet erneut das Verhältnis zwischen Belgrad und Pristina, genauso wie die spektakuläre Verhaftung des Belgrader Chefunterhändlers für den Kosovo, Marko Djuric, Ende März.

"Ich will nicht als Märtyrer enden"

Auch in Dečani sei der letzte ernsthafte Vorfall noch gar nicht so lange her, betont Vater Andrej. Vor zwei Jahren wurde eine Gruppe Salafisten vor dem Kloster festgenommen, in ihrem Auto waren Schusswaffen gefunden worden. Immer wieder gebe es auch Drohungen über die sozialen Netzwerke, er und seine Mitbrüder müssten stets wachsam sein. Allein oder gemeinsam mit anderen Mönchen ins nahe Städtchen Dečani fahren? Der serbische Geistliche antwortet mit einem leicht zynischen Lächeln im Gesicht:
"Wenn ich als Märtyrer enden wollte, könnte ich das tun. Da ich es aber nicht wert bin, als Märtyrer zu enden, werde ich das lieber lassen. Nein, es ist einfach zu gefährlich für uns dort. Dabei haben wir vielen Albanern geholfen im Kosovokrieg, ihnen Unterschlupf gewährt. Aber wir werden hier von den Muslimen zuallererst als Serben gesehen, nicht als Christen oder Mönche. Und man kann sich vorstellen, wie sich jene Serben im Kosovo fühlen müssen, die nicht von der KFOR und dicken Klostermauern beschützt werden."
Anhänger von Ramush Haradinaj feiern seinen Freispruch in Den Haag.
Anhänger von Ramush Haradinaj feiern seinen Freispruch in Den Haag.© Koen Van Weel/dpa/picture-alliance
Irgendwann, so die Befürchtung vieler Serben im Kosovo, wird auch die KFOR ihre Zelte komplett abbrechen - und dann den Stab weitergeben an die einheimischen Kosovo Security Forces, kurz KSF.

Kosovo-Armee macht den Serben Angst

Die KSF sind bislang keine Armee, sondern eine bewaffnete Truppe unter dem Kommando der KFOR. Die 2500 Männer und Frauen unterstützen die Zivilbevölkerung in Krisensituationen und leisten Hilfe beim Katastrophenschutz. In der Praxis heißt das: Die Soldaten rücken aus, wenn ein Haus brennt, räumen Minen oder stellen auch schon mal die medizinische Versorgung in entlegenen Dörfern sicher.
Vor allem Staatspräsident Hashim Thaci macht sich aber immer wieder dafür stark, die KSF in eine echte Armee umzuwandeln – die westlichen Bündnisse, vor allem aber Serbien und die im Kosovo lebenden Serben hingegen lehnen das konsequent ab. Die serbische Konfliktforscherin Jovana Radosavljević aus Mitrovica kennt die Gründe hierfür:
"Die Sache ist die, dass niemand mit den serbischen Kommunen über das Thema 'Armee' spricht von offizieller Seite. Wir als NGO haben darum eine Befragung durchgeführt mit dem Ergebnis: Die Serben im Kosovo haben Angst vor einer Armee, sie wollen das nicht. Warum? Weil sie die KSF als Neuauflage der UCK sehen."
Der UCK, jener albanischen Untergrundarmee also, die in den 1990er Jahren gegen die Serben gekämpft hat. Nicht nur das: Auch ein Großteil der heutigen politischen Elite in Pristina hat eine UCK-Vergangenheit, darunter Premier Ramush Haradinaj und Staatspräsident Hashim Thaci.
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