"Raus aus dieser Ihr-und-wir-Debatte"
Der Psychologe Ahmad Mansour fordert einen "innerislamischen Dialog". Dazu gehörten vor allem Fragen nach der sogenannten "wahren Religion" und der Abwertung Andersdenkender. Nach seiner Einschätzung sind die Salafisten zwar gefährlich, aber trotz ihrer Radikalisierung erreichbar.
Susanne Führer: Solingen gilt als eine der Hochburgen des Salafismus. Heute veranstaltet die Stadt eine Fortbildung unter dem Titel "Über den Umgang mit Salafisten" für Pädagogen, Sozialarbeiter, Multiplikatoren von Moscheen und Migrantenvereinen und für alle Bürger Solingens. Einer der Referenten ist der Psychologe Ahmad Mansour, er ist Gruppenleiter des Projekts "Heroes – gegen Unterdrückung im Namen der Ehre", das gestern mit dem Preis "Botschafter für Demokratie und Toleranz" ausgezeichnet wurde. Ich habe Achmad Mansour gefragt, wie er die Salafisten beschreiben würde.
Ahmad Mansour: Das ist eine islamische Strömung, die eigentlich ihren Ursprung in Saudi-Arabien hat, aber mittlerweile fast überall in den arabischen Ländern und in Europa existiert. Es handelt sich um eine Strömung, die die Moderne einfach ablehnt, die den Koran buchstäblich interpretiert - kein Platz für Erneuerung, für Moderne. Und die auch die Art und Weise, wie Mohammed gelebt hat, einfach buchstäblich nachahmen.
Führer: Wer wird denn Salafist? Für wen ist diese Richtung attraktiv, also jetzt heute auf Deutschland geblickt?
Mansour: Es handelt sich um junge Männer, meistens, die zwischen 20 und 30 Jahre alt sind. Es ist auch attraktiv für junge Muslime, die konvertiert zum Islam sind, weil es einfach die einzige Möglichkeit ist, sich über den Islam auf Deutsch zu informieren. Die meisten Moscheen und Verbände werden ihre Freitagsgebete, aber auch ihren Islamunterricht, einfach auf die Herkunftssprache begrenzen, und die Salafisten sind fast die ersten, die ein deutschsprachiges Angebot auch anbieten.
Führer: Also die machen deutsche Predigten, haben einen deutschen Internetauftritt …
Mansour: Genau: Meistens im Internet. Also nicht in einer Moschee oder in einer Gemeinde sondern im Internet finden die meisten Predigten und Informationen statt.
Führer: Das heißt also, dass auch junge deutsche Männer, die auf der Suche nach Orientierung sind und konvertieren, leichter bei den Salafisten landen als in einer türkischen Moscheengemeinde zum Beispiel.
Mansour: Sie können zum Beispiel das Wort Islam in Google schreiben, und die meisten Ergebnisse werden halt irgendwelche Prediger oder Internetseiten von Salafisten sein.
Führer: Aber wie sieht denn der Alltag so eines Salafisten aus?
Mansour: Sehr strukturiert, fünf mal beten, die Kleidung ist schon vorgeschrieben, man findet auch sozialen Halt, das heißt, man hat neue Freunde, die sich gegenseitig kontrollieren und unterstützen, meistens arbeitslos – das heißt, sie haben ganz viel Freizeit, um sich halt über den Islam zu informieren. Und ein wichtiger Aspekt ist "Da’wa". Und "Da’wa" ist: Die Nichtmuslime oder die, die diese Strömung nicht verfolgen, zu überzeugen, dass es die einzige wahre Religion ist, um sie dann auf den richtigen Weg zu bringen.
Führer: Wenn ich das recht verstehe, wenn Sie sagen, es sind junge Männer, orientierungslos, es gibt auch dem Leben einen Rahmen? Und gibt es dem Leben auch einen Sinn?
Mansour: Definitiv, definitiv. Wir leben in einer Welt, die viel Unsicherheit mit sich bringt, besonders für junge Männer, die viele Entscheidungen treffen müssen, die sich über ihre Zukunft Gedanken machen müssen. Und dann kommen die Salafisten und sagen, ihr braucht keine Entscheidungen zu treffen, wir entscheiden für euch. Es gibt eine sehr klare Hierarchie und Imame, die immer Antworten haben. Also dieses Frage-Antwort-System ist sehr etabliert im Salafismus. Das sind junge Männer, die eigentlich nach Halt suchen, die orientierungslos meistens waren, die nicht wussten, was sie mit ihrem Leben anfangen müssen oder können, und da kommen die Salafisten und bauen drauf auf und geben diesen Menschen einfach Halt. Halt ist eigentlich ein riesengroßer Schwerpunkt bei Salafisten.
Führer: Was meinen Sie jetzt mit Frage-Antwort-Systemen?
Mansour: Dass man keine Entscheidung mehr trifft. Also es ist egal, wen ich heirate, welche Partnerschaft ich eingehe, welche Arbeit ich annehmen muss. Das sind alles Sachen, die ich nicht mehr alleine entscheiden soll, sondern es gibt die Imame, die sogenannten Gelehrten, und diese Gelehrten werden für mich entscheiden. Das heißt, ich versuche, mein Leben so strukturiert aufzubauen, dass ich eigentlich jede Frage und jede Entscheidung im Leben nicht selber treffe, sondern zurück zu diesen Gelehrten, die immer den Exklusivitätsanspruch haben, die "besserwissen", die islamisch "besserwissen" und islamisch argumentieren, um für mich Entscheidungen zu treffen.
Führer: Sie haben gerade von dieser Missionierung gesprochen – wie hieß das?
Mansour: Da’wa auf Arabisch, ja.
Führer: Da’wa – wie wird die denn vorgenommen? Wie werben die denn neue Anhänger?
Mansour: Also das ist meiner Meinung nach auch ein Aspekt, der Salafismus auch sehr gefährlich macht, weil: Diese Da’wa, wenn ich Leute aus ihrem elenden Leben retten will, bedeutet, dass ich mich aufwerte, dass ich den Exklusivitätsanspruch habe: 'Ich habe die einzige Wahrheit, und alle anderen müssen gerettet werden vor ihrem Leben.' Das heißt, die anderen werden abgewertet. Und das bedeutet, dass ich einfach auf der Straße, im Internet … – Sie haben das auch jetzt gesehen mit der Koranverteilung…
Führer: Die Koranverteilung, ja.
Mansour: … - das ist einfach der Versuch, diese Gesellschaft zu islamisieren und Leute sozusagen zu retten vor ihrer anderen Religion, die eigentlich für sie ein Unglaube ist.
Führer: … für sie ein Unglaube ist, ja. Und was meinen Sie, warum hat denn der Salafismus in der letzten Zeit – offenbar ja nicht nur in Deutschland, Sie haben eingangs gesagt, kommt aus Saudi-Arabien, aber breitet sich in Europa und in den arabischen Ländern aus –, warm hat der jetzt, gerade jetzt, so viel Zulauf gewonnen?
Mansour: Das hat viele Gründe. Erstens, dass Saudi-Arabien in den letzten Jahren auch politische Macht ausübt in verschiedenen arabischen Ländern, besonders nach der arabischen Revolution, wo sie versuchen, ihre Männer sozusagen, ihre Hintermänner zu verstärken. Das heißt, Salafismus in Saudi-Arabien, in Tunesien, überall in den arabischen Ländern. Zweitens ist Nationalismus gescheitert in den arabischen Ländern, und die Alternative ist islamisch, und deshalb wird die Re-Islamisierung in den arabischen Ländern eigentlich großgeschrieben in den letzten zehn, zwanzig Jahren, und man sieht das in Saudi-Arabien, man sieht das in Ägypten, in Palästina, im Libanon, eigentlich überall. In Europa hat das auch viel mit der gescheiterten Integration zu tun. Das heißt, diese Opferrolle, dieses Nicht- angekommen-Sein in Deutschland oder in dieser Gesellschaft ist ein Grund, wieso das so attraktiv für junge Männer ist. Weil: Es gibt Halt, Orientierung. Es gibt mir das Gefühl: 'Das ist nicht das einzige Leben, nach dem Tod gibt es eine Belohnung, wenn ich mich richtig an den Islam halte, wie Salafisten das verstehen.' Und dann kommen Salafisten und bauen darauf, dass es ein anderes Leben gibt nach dem Tod, wo ich belohnt werde, wo ich dann der Bessere bin.
Führer: Ahmad Mansour erklärt uns den Salafismus im Deutschlandradio Kultur. Herr Mansour, nach dem, was Sie gesagt haben: "sehr hierarchisch", "buchstäbliche Auslegung des Korans", daraus schließe ich: Salafisten per se müssten eigentlich Feinde der westlichen Demokratie sein.
Mansour: Das Wort Gewalt spielt eine große Rolle. Es wird so argumentiert, dass es in Deutschland zwischen 4.000 und 5.000 Salafisten gibt. Davon gibt es vielleicht ein paar Hunderte, die gewaltbereit sind. Für mich aber: Gewalt fängt vorher an. Gewalt ist, wenn man Demokratie ablehnt, wenn man bestimmte Menschenrechte ablehnt und nicht akzeptiert, und sie fängt bei Abwertung an - was ich vorher gesagt habe - von Andersgläubigen, von Aufwertung von sich selber, von Geschlechtertrennung, von Tabuisierung der Sexualität, von Ablehnung bestimmter demokratischer Aspekte, wie zum Bespiel Gerichte, und so weiter und so fort. Und deshalb finde ich das sehr gefährlich.
Führer: Was kann denn jetzt – wenn wir mal jetzt auf diese jungen orientierungslosen Männer gucken, wie Sie gesagt haben – was könnten denn jetzt Eltern oder auch Lehrer tun, um die jungen Menschen vor den Salafisten zu schützen?
Mansour: Also von Früherkennung bis Sensibilisierung, bis De-Radikalisierung - das sind alles Schwerpunkte, die man eigentlich überhaupt nicht macht, leider, in vielen, vielen Schulen. Das heißt, die meisten Lehrkräfte, Sozialarbeiter sind nicht so sensibilisiert, um zu erkennen, dass ein junger Mann jetzt in die Richtung von Radikalisierung geht. Die haben keine Antwort, sie haben keine Gegenstrategie:
Augenhöhe und Diskussion! Dass die Lehrer und Lehrerinnen nicht als jene dastehen, die von der Mehrheitsgesellschaft kommen und die Wahrheit kennen und sagen: "Das ist alles falsch, was ihr macht!" Sondern: Eine Art und Weise von Vertrauen aufbauen und Diskussionen mit diesen Menschen, Fragen stellen.
Ein sehr wichtiger Aspekt im Salafismus ist das Verbot, Fragen zu stellen. Zu hinterfragen ist nicht erlaubt, da es buchstäblich im Koran steht. Und das müssen wir verfolgen. Und wenn die jungen Männer einfach allgemein im Schulsystem das Gefühl bekommen, dass Hinterfragen erlaubt ist, wenn sie es lernen zu hinterfragen, wenn sie lernen, Fragen zu stellen, dann sind sie eigentlich immun gegen den Salafismus. Weil: Wer nachdenkt, wer selber Entscheidungen trifft, wer alles in Frage stellt, ist jemand, der nicht in die Richtung von Salafismus gehen würde.
Führer: Und Sie haben ja Erfahrung in solchen Diskussionen mit Jugendlichen. Aber meinen Sie denn, wenn jemand schon Salafist ist, ist der überhaupt noch zu erreichen über Argumente?
Mansour: Es gibt diese Aussage von Amos Oz, der sagt: "Diskutiert bitte nicht mit Fanatikern, weil sie werden immer gewinnen. Man kann sie nicht überzeugen." Ich bin der Meinung aber, dass wir unbedingt einen innerislamischen Dialog brauchen. Und wenn man Salafismus bekämpfen will, dann muss man bestimmte Inhalte innerhalb der muslimischen Community diskutieren, wie zum Beispiel diese Aufwertung, Abwertung, diese einzig wahre Religion zum Beispiel, Umgang mit anderen, Geschlechtertrennung, Tabuisierung der Sexualität, das sind alles Inhalte, die eigentlich tabu sind. Man redet nicht darüber, man stellt nicht Fragen. Und wir brauchen eine Generation von Muslimen, aber auch von der Mehrheitsgesellschaft, die in der Lage ist, Fragen zu stellen, auf Augenhöhe Diskussionen zu führen und die Menschen, besonders die Salafisten, dazu zu bringen, zu hinterfragen. Weil wenn sie anfangen zu hinterfragen, dann ist Salafismus nicht mehr da.
Führer: Ja, aber Sie haben vorhin noch gesagt, die Salafisten sind gefährlich. Also ist die Frage sozusagen, um noch mal auf den israelischen Schriftsteller Amos Oz noch mal zurückzukommen, sollte man mit ihnen diskutieren oder soll man sie verbieten?
Mansour: Wir haben keine Alternative, sie sind gefährlich, aber sie sind erreichbar. Nicht alle!. Das ist aber nie der Fall bei Radikalisierung. Es gibt Menschen, die man nicht erreichen muss … kann, und dann muss man halt irgendwie gucken, wie sie neutralisiert werden, dass sie nicht irgendwie jetzt Amok laufen auf den Straßen. Aber die Mehrheit der Salafisten ist zu erreichen. Sie brauchen aber eine Alternative, sie brauchen Menschen, mit denen man diskutieren kann. Die Debatte, die in Deutschland geführt wird, ist eine vom "Ihr und Wir", von "Muslimen und Nichtmuslimen", von "Islamophobie", von "Opferrolle" – da müssen wir raus. Wir müssen anfangen, einfach eine Debatte auf Augenhöhe zu führen und diese Menschen zu erreichen, mit Argumentation, mit Hinterfragen.
Führer: Jetzt veranstaltet ja die Stadt Solingen diese Fortbildung über den Umgang mit Salafismus für Pädagogen, aber eben auch für Mitglieder von Moscheegemeinden und auch für alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt Solingens, und verbunden mit diesem öffentlichen Bekenntnis: Solingen hält zusammen! Das wäre dann sozusagen der Weg, den Sie gerade geschildert haben?
Mansour: Ja, definitiv. Also ich gehe auch hin, weil diese Veranstaltung ist nicht ein Art von Hysteriemachen, sondern es geht darum, einfach Strategien zu entwickeln: Wie kann man damit umgehen? Wie kann man zum Beispiel Radikalisierung stoppen? Wie kann man Antiradikalisierungsprozesse schaffen, die nicht existieren, leider, auch nicht im Schulsystem, aber auch nicht bei Sozialarbeitern. Und dafür finde ich diese Veranstaltung einen Anfang.
Führer: Ein Anfang, denn sie dauert nur einen Nachmittag. Was hoffen Sie sich, da zu erreichen?
Mansour: Sensibilisierung, besonders. Ich will raus aus dieser Ihr-und-wir-Debatte, ich will eine Debatte, wo die Menschen erst mal erkennen, wie vielfältig überhaupt Islam ist und Salafismus. Ich will, dass sie die Gefahren erkennen, und ich will ihnen ein paar Ansätze geben, wie sie damit umgehen. Das ist - wie gesagt - aber nur der Anfang.
Links auf dradio.de:
Kämpfen für den rechten Glauben? - Geschichte und Gegenwart der Salafisten
Wie Salafisten und Pro NRW die gegenseitige Provokation nutzen
Steinberg: Salafistische Szene in Deutschland wächst
Koranwissenschaft als Integrationsarbeit - Die deutsche Gesellschaft und das Buch der Bücher des Islam
Ahmad Mansour: Das ist eine islamische Strömung, die eigentlich ihren Ursprung in Saudi-Arabien hat, aber mittlerweile fast überall in den arabischen Ländern und in Europa existiert. Es handelt sich um eine Strömung, die die Moderne einfach ablehnt, die den Koran buchstäblich interpretiert - kein Platz für Erneuerung, für Moderne. Und die auch die Art und Weise, wie Mohammed gelebt hat, einfach buchstäblich nachahmen.
Führer: Wer wird denn Salafist? Für wen ist diese Richtung attraktiv, also jetzt heute auf Deutschland geblickt?
Mansour: Es handelt sich um junge Männer, meistens, die zwischen 20 und 30 Jahre alt sind. Es ist auch attraktiv für junge Muslime, die konvertiert zum Islam sind, weil es einfach die einzige Möglichkeit ist, sich über den Islam auf Deutsch zu informieren. Die meisten Moscheen und Verbände werden ihre Freitagsgebete, aber auch ihren Islamunterricht, einfach auf die Herkunftssprache begrenzen, und die Salafisten sind fast die ersten, die ein deutschsprachiges Angebot auch anbieten.
Führer: Also die machen deutsche Predigten, haben einen deutschen Internetauftritt …
Mansour: Genau: Meistens im Internet. Also nicht in einer Moschee oder in einer Gemeinde sondern im Internet finden die meisten Predigten und Informationen statt.
Führer: Das heißt also, dass auch junge deutsche Männer, die auf der Suche nach Orientierung sind und konvertieren, leichter bei den Salafisten landen als in einer türkischen Moscheengemeinde zum Beispiel.
Mansour: Sie können zum Beispiel das Wort Islam in Google schreiben, und die meisten Ergebnisse werden halt irgendwelche Prediger oder Internetseiten von Salafisten sein.
Führer: Aber wie sieht denn der Alltag so eines Salafisten aus?
Mansour: Sehr strukturiert, fünf mal beten, die Kleidung ist schon vorgeschrieben, man findet auch sozialen Halt, das heißt, man hat neue Freunde, die sich gegenseitig kontrollieren und unterstützen, meistens arbeitslos – das heißt, sie haben ganz viel Freizeit, um sich halt über den Islam zu informieren. Und ein wichtiger Aspekt ist "Da’wa". Und "Da’wa" ist: Die Nichtmuslime oder die, die diese Strömung nicht verfolgen, zu überzeugen, dass es die einzige wahre Religion ist, um sie dann auf den richtigen Weg zu bringen.
Führer: Wenn ich das recht verstehe, wenn Sie sagen, es sind junge Männer, orientierungslos, es gibt auch dem Leben einen Rahmen? Und gibt es dem Leben auch einen Sinn?
Mansour: Definitiv, definitiv. Wir leben in einer Welt, die viel Unsicherheit mit sich bringt, besonders für junge Männer, die viele Entscheidungen treffen müssen, die sich über ihre Zukunft Gedanken machen müssen. Und dann kommen die Salafisten und sagen, ihr braucht keine Entscheidungen zu treffen, wir entscheiden für euch. Es gibt eine sehr klare Hierarchie und Imame, die immer Antworten haben. Also dieses Frage-Antwort-System ist sehr etabliert im Salafismus. Das sind junge Männer, die eigentlich nach Halt suchen, die orientierungslos meistens waren, die nicht wussten, was sie mit ihrem Leben anfangen müssen oder können, und da kommen die Salafisten und bauen drauf auf und geben diesen Menschen einfach Halt. Halt ist eigentlich ein riesengroßer Schwerpunkt bei Salafisten.
Führer: Was meinen Sie jetzt mit Frage-Antwort-Systemen?
Mansour: Dass man keine Entscheidung mehr trifft. Also es ist egal, wen ich heirate, welche Partnerschaft ich eingehe, welche Arbeit ich annehmen muss. Das sind alles Sachen, die ich nicht mehr alleine entscheiden soll, sondern es gibt die Imame, die sogenannten Gelehrten, und diese Gelehrten werden für mich entscheiden. Das heißt, ich versuche, mein Leben so strukturiert aufzubauen, dass ich eigentlich jede Frage und jede Entscheidung im Leben nicht selber treffe, sondern zurück zu diesen Gelehrten, die immer den Exklusivitätsanspruch haben, die "besserwissen", die islamisch "besserwissen" und islamisch argumentieren, um für mich Entscheidungen zu treffen.
Führer: Sie haben gerade von dieser Missionierung gesprochen – wie hieß das?
Mansour: Da’wa auf Arabisch, ja.
Führer: Da’wa – wie wird die denn vorgenommen? Wie werben die denn neue Anhänger?
Mansour: Also das ist meiner Meinung nach auch ein Aspekt, der Salafismus auch sehr gefährlich macht, weil: Diese Da’wa, wenn ich Leute aus ihrem elenden Leben retten will, bedeutet, dass ich mich aufwerte, dass ich den Exklusivitätsanspruch habe: 'Ich habe die einzige Wahrheit, und alle anderen müssen gerettet werden vor ihrem Leben.' Das heißt, die anderen werden abgewertet. Und das bedeutet, dass ich einfach auf der Straße, im Internet … – Sie haben das auch jetzt gesehen mit der Koranverteilung…
Führer: Die Koranverteilung, ja.
Mansour: … - das ist einfach der Versuch, diese Gesellschaft zu islamisieren und Leute sozusagen zu retten vor ihrer anderen Religion, die eigentlich für sie ein Unglaube ist.
Führer: … für sie ein Unglaube ist, ja. Und was meinen Sie, warum hat denn der Salafismus in der letzten Zeit – offenbar ja nicht nur in Deutschland, Sie haben eingangs gesagt, kommt aus Saudi-Arabien, aber breitet sich in Europa und in den arabischen Ländern aus –, warm hat der jetzt, gerade jetzt, so viel Zulauf gewonnen?
Mansour: Das hat viele Gründe. Erstens, dass Saudi-Arabien in den letzten Jahren auch politische Macht ausübt in verschiedenen arabischen Ländern, besonders nach der arabischen Revolution, wo sie versuchen, ihre Männer sozusagen, ihre Hintermänner zu verstärken. Das heißt, Salafismus in Saudi-Arabien, in Tunesien, überall in den arabischen Ländern. Zweitens ist Nationalismus gescheitert in den arabischen Ländern, und die Alternative ist islamisch, und deshalb wird die Re-Islamisierung in den arabischen Ländern eigentlich großgeschrieben in den letzten zehn, zwanzig Jahren, und man sieht das in Saudi-Arabien, man sieht das in Ägypten, in Palästina, im Libanon, eigentlich überall. In Europa hat das auch viel mit der gescheiterten Integration zu tun. Das heißt, diese Opferrolle, dieses Nicht- angekommen-Sein in Deutschland oder in dieser Gesellschaft ist ein Grund, wieso das so attraktiv für junge Männer ist. Weil: Es gibt Halt, Orientierung. Es gibt mir das Gefühl: 'Das ist nicht das einzige Leben, nach dem Tod gibt es eine Belohnung, wenn ich mich richtig an den Islam halte, wie Salafisten das verstehen.' Und dann kommen Salafisten und bauen darauf, dass es ein anderes Leben gibt nach dem Tod, wo ich belohnt werde, wo ich dann der Bessere bin.
Führer: Ahmad Mansour erklärt uns den Salafismus im Deutschlandradio Kultur. Herr Mansour, nach dem, was Sie gesagt haben: "sehr hierarchisch", "buchstäbliche Auslegung des Korans", daraus schließe ich: Salafisten per se müssten eigentlich Feinde der westlichen Demokratie sein.
Mansour: Das Wort Gewalt spielt eine große Rolle. Es wird so argumentiert, dass es in Deutschland zwischen 4.000 und 5.000 Salafisten gibt. Davon gibt es vielleicht ein paar Hunderte, die gewaltbereit sind. Für mich aber: Gewalt fängt vorher an. Gewalt ist, wenn man Demokratie ablehnt, wenn man bestimmte Menschenrechte ablehnt und nicht akzeptiert, und sie fängt bei Abwertung an - was ich vorher gesagt habe - von Andersgläubigen, von Aufwertung von sich selber, von Geschlechtertrennung, von Tabuisierung der Sexualität, von Ablehnung bestimmter demokratischer Aspekte, wie zum Bespiel Gerichte, und so weiter und so fort. Und deshalb finde ich das sehr gefährlich.
Führer: Was kann denn jetzt – wenn wir mal jetzt auf diese jungen orientierungslosen Männer gucken, wie Sie gesagt haben – was könnten denn jetzt Eltern oder auch Lehrer tun, um die jungen Menschen vor den Salafisten zu schützen?
Mansour: Also von Früherkennung bis Sensibilisierung, bis De-Radikalisierung - das sind alles Schwerpunkte, die man eigentlich überhaupt nicht macht, leider, in vielen, vielen Schulen. Das heißt, die meisten Lehrkräfte, Sozialarbeiter sind nicht so sensibilisiert, um zu erkennen, dass ein junger Mann jetzt in die Richtung von Radikalisierung geht. Die haben keine Antwort, sie haben keine Gegenstrategie:
Augenhöhe und Diskussion! Dass die Lehrer und Lehrerinnen nicht als jene dastehen, die von der Mehrheitsgesellschaft kommen und die Wahrheit kennen und sagen: "Das ist alles falsch, was ihr macht!" Sondern: Eine Art und Weise von Vertrauen aufbauen und Diskussionen mit diesen Menschen, Fragen stellen.
Ein sehr wichtiger Aspekt im Salafismus ist das Verbot, Fragen zu stellen. Zu hinterfragen ist nicht erlaubt, da es buchstäblich im Koran steht. Und das müssen wir verfolgen. Und wenn die jungen Männer einfach allgemein im Schulsystem das Gefühl bekommen, dass Hinterfragen erlaubt ist, wenn sie es lernen zu hinterfragen, wenn sie lernen, Fragen zu stellen, dann sind sie eigentlich immun gegen den Salafismus. Weil: Wer nachdenkt, wer selber Entscheidungen trifft, wer alles in Frage stellt, ist jemand, der nicht in die Richtung von Salafismus gehen würde.
Führer: Und Sie haben ja Erfahrung in solchen Diskussionen mit Jugendlichen. Aber meinen Sie denn, wenn jemand schon Salafist ist, ist der überhaupt noch zu erreichen über Argumente?
Mansour: Es gibt diese Aussage von Amos Oz, der sagt: "Diskutiert bitte nicht mit Fanatikern, weil sie werden immer gewinnen. Man kann sie nicht überzeugen." Ich bin der Meinung aber, dass wir unbedingt einen innerislamischen Dialog brauchen. Und wenn man Salafismus bekämpfen will, dann muss man bestimmte Inhalte innerhalb der muslimischen Community diskutieren, wie zum Beispiel diese Aufwertung, Abwertung, diese einzig wahre Religion zum Beispiel, Umgang mit anderen, Geschlechtertrennung, Tabuisierung der Sexualität, das sind alles Inhalte, die eigentlich tabu sind. Man redet nicht darüber, man stellt nicht Fragen. Und wir brauchen eine Generation von Muslimen, aber auch von der Mehrheitsgesellschaft, die in der Lage ist, Fragen zu stellen, auf Augenhöhe Diskussionen zu führen und die Menschen, besonders die Salafisten, dazu zu bringen, zu hinterfragen. Weil wenn sie anfangen zu hinterfragen, dann ist Salafismus nicht mehr da.
Führer: Ja, aber Sie haben vorhin noch gesagt, die Salafisten sind gefährlich. Also ist die Frage sozusagen, um noch mal auf den israelischen Schriftsteller Amos Oz noch mal zurückzukommen, sollte man mit ihnen diskutieren oder soll man sie verbieten?
Mansour: Wir haben keine Alternative, sie sind gefährlich, aber sie sind erreichbar. Nicht alle!. Das ist aber nie der Fall bei Radikalisierung. Es gibt Menschen, die man nicht erreichen muss … kann, und dann muss man halt irgendwie gucken, wie sie neutralisiert werden, dass sie nicht irgendwie jetzt Amok laufen auf den Straßen. Aber die Mehrheit der Salafisten ist zu erreichen. Sie brauchen aber eine Alternative, sie brauchen Menschen, mit denen man diskutieren kann. Die Debatte, die in Deutschland geführt wird, ist eine vom "Ihr und Wir", von "Muslimen und Nichtmuslimen", von "Islamophobie", von "Opferrolle" – da müssen wir raus. Wir müssen anfangen, einfach eine Debatte auf Augenhöhe zu führen und diese Menschen zu erreichen, mit Argumentation, mit Hinterfragen.
Führer: Jetzt veranstaltet ja die Stadt Solingen diese Fortbildung über den Umgang mit Salafismus für Pädagogen, aber eben auch für Mitglieder von Moscheegemeinden und auch für alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt Solingens, und verbunden mit diesem öffentlichen Bekenntnis: Solingen hält zusammen! Das wäre dann sozusagen der Weg, den Sie gerade geschildert haben?
Mansour: Ja, definitiv. Also ich gehe auch hin, weil diese Veranstaltung ist nicht ein Art von Hysteriemachen, sondern es geht darum, einfach Strategien zu entwickeln: Wie kann man damit umgehen? Wie kann man zum Beispiel Radikalisierung stoppen? Wie kann man Antiradikalisierungsprozesse schaffen, die nicht existieren, leider, auch nicht im Schulsystem, aber auch nicht bei Sozialarbeitern. Und dafür finde ich diese Veranstaltung einen Anfang.
Führer: Ein Anfang, denn sie dauert nur einen Nachmittag. Was hoffen Sie sich, da zu erreichen?
Mansour: Sensibilisierung, besonders. Ich will raus aus dieser Ihr-und-wir-Debatte, ich will eine Debatte, wo die Menschen erst mal erkennen, wie vielfältig überhaupt Islam ist und Salafismus. Ich will, dass sie die Gefahren erkennen, und ich will ihnen ein paar Ansätze geben, wie sie damit umgehen. Das ist - wie gesagt - aber nur der Anfang.
Links auf dradio.de:
Kämpfen für den rechten Glauben? - Geschichte und Gegenwart der Salafisten
Wie Salafisten und Pro NRW die gegenseitige Provokation nutzen
Steinberg: Salafistische Szene in Deutschland wächst
Koranwissenschaft als Integrationsarbeit - Die deutsche Gesellschaft und das Buch der Bücher des Islam