"Strafrecht funktioniert in diesem Bereich nicht"
Mehr als 100 Strafrechtsprofessoren fordern die Legalisierung von Drogen. Lorenz Böllinger, Initiator der Resolution, kritisiert, dass bisherigen Verbote zigtausend Todesopfer verursacht hätten. Außerdem kriminalisiere die aktuelle Gesetzeslage junge Leute und beschädige ihre Zukunft.
Ulrike Timm: Legalisiert Drogen! Wenn dieser Aufruf von Ärzten käme, die Cannabis medizinisch nutzen wollen, von Suchthelfern oder von Sozialpädagogen, die das Elend der Süchtigen kennen und die hoffen, ein kontrollierter Zugang zu Drogen würde weniger Todesfälle und weniger Beschaffungskriminalität nach sich ziehen, man würde sich nicht wundern. Ein sehr engagierter Aufruf an die Abgeordneten des neuen Bundestages, die derzeit geltenden Gesetze dahingehend zu prüfen, ob es sinnvoll sei, Drogen legal abzugeben, verbunden mit dem ganz klaren Tenor, ja, das ist sinnvoll. Dieser Aufruf kommt aber von Strafrechtsprofessoren, und das gibt der Sache einen neuen, einen anderen Klang.
Über 100 Strafrechtsprofessoren, das sind fast 40 Prozent aller Lehrstuhlinhaber in Deutschland, haben jetzt eine Resolution verfasst, der man die Überschrift geben könnte: Legalisiert Drogen! Und wie sie das rechtspolitisch und möglicherweise sogar rechtsphilosophisch begründen, das frage ich jetzt den Initiator dieser Resolution, das ist der emeritierte Professor Lorenz Böllinger aus Bremen. Schönen guten Morgen, Herr Böllinger!
Lorenz Böllinger: Guten Morgen!
Timm: Sie ziehen ein Fazit, bei dem man erst mal ein bisschen mit den Ohren schlackert, wenn man es liest. Da steht wörtlich der Satz: "Der Staat darf die Bürger durch seine Drogenpolitik nicht schädigen." Wie schädigt denn der Staat seine Bürger, also uns alle, die vielen Millionen Menschen, die keine Drogen nehmen wollen, durch seine Politik?
Böllinger: Es ist wie bei Medikamenten. Die Drogenpolitik hat beabsichtigte und unbeabsichtigte Wirkungen. Die beabsichtigten Wirkungen sind kaum messbar, Strafrecht funktioniert in diesem Bereich nicht. Es gibt keine Opfer, die sich beklagen. Es muss von der Polizei ermittelt werden, und im Übrigen kann man sagen, dass die allerwenigsten Konsumenten wirklich von den Drogen Schaden nehmen beziehungsweise aufhören mit den Drogen. Es geht einfach nicht. Die andere Seite, die unbeabsichtigten Nebenwirkungen sind sehr gravierend.
Auf der Ebene des Konsumenten zum Beispiel kann man sagen, dass der Verbraucherschutz und der Jugendschutz völlig fehlen. Bei legalen Substanzen kann sorgfältig Jugendschutz ausgestaltet werden, aber auch Verbraucherschutz, der Beipackzettel und so weiter aufgeklärt werden kann. All das funktioniert einigermaßen gut, bei Medikamenten, bei Alkohol schon viel weniger. Da müsste mehr geschehen. Also jedenfalls werden die Verbraucher dadurch geschädigt, dass sie auf dem Schwarzmarkt, auf den ja jeder gezwungen wird bei diesen Substanzen, Substanzen erwerben, die schädlich sein können, zum Beispiel eben Beimengungen haben, die fast tödlich sein können oder jedenfalls gesundheitsschädlich. Das passiert inzwischen sogar bei Cannabis, erst recht bei Heroin und den anderen Drogen.
Also von daher wird der Verbraucher, der Konsument von Drogen, unmittelbar geschädigt. Er wird weiter geschädigt dadurch, dass er kriminalisiert wird. Über 250.000 Jugendliche, junge Leute, werden jährlich verfolgt wegen Cannabis. Davon werden 100.000 verurteilt. Die verlieren ihre Fahrerlaubnis, deren Lebenswert wird beeinträchtigt in Zukunft. Auch das nenne ich eine Beschädigung.
70.000 Todesopfer im Drogenkrieg
Timm: Sie sprechen jetzt von der Konsumentenebene. Wenn man aber sagt, der Staat darf die Bürger durch seine Drogenpolitik nicht schädigen, wie schädigt der Staat denn mich?
Böllinger: Die Konsumenten sind ja auch Bürger. Und natürlich werden die Normalbürger, die nicht konsumieren, mittelbar dadurch geschädigt, dass die Konsumenten auf den Schwarzmarkt gezwungen werden und dort eben teuer bezahlen müssen. Das Geld beschaffen sie sich durch Beschaffungskriminalität. Aus der resultiert wiederum, wie man kriminologisch und strafrechtlich zeigen kann, Folgekriminalität. Es gibt Bandenbildung, es gibt dann so eine Art kriminelle Karriere, die daraus entstehen kann. Viele junge Leute werden auf die schiefe Bahn gebracht, und die Bürger leiden dann darunter, unter dieser unmittelbaren Begleitkriminalität und Beschaffungskriminalität.
Es gibt aber noch eine andere Ebene, auf der wir Bürger geschädigt werden, sei es finanziell oder auch durch ganz akute Risiken, dadurch nämlich, dass weltweit die Drogen nur über einen Schwarzmarkt verbreitet werden können, wo immense Profite gemacht werden wegen der Prohibition. Die entstehen ja nur aufgrund der Kriminalisierung, diese riesigen Profite. Insbesondere kann man das in Südamerika beobachten, aber wir sind mittelbar davon auch erfasst. In Südamerika sind über 70.000 Menschen gestorben in den Drogenkriegen, insbesondere in Mexiko und angrenzenden Ländern. Und diese Drogenkriege entstehen nur wegen der Kriminalisierung.
Timm: Und mittlerweile sind Drogen fast ein Wirtschaftsgut, dann?
Böllinger: Es ist auch so, dass die Gelder, die auf dem Schwarzmarkt erwirtschaftet werden, es sind ja Riesensummen, die tatsächlich geeignet sind, die Weltwirtschaft zu beeinflussen im negativen Sinne. Es sind Schwarzgelder, die dann gewaschen werden. Es gibt zwar Geldwäschegesetze, aus strafrechtlicher Sicht wissen wir aber, dass die gar nicht funktionieren können, weil die informellen Wege der Geldwäsche so effizient sind, dass es nur eine Alibifunktion hat, wenn man hier offiziell wegen Geldwäsche bestraft. Auch insofern leiden wir, weil die Wirtschaften untergraben werden, weil auch die Strafverfolgungsbehörden völlig absorbiert sind von dieser Verfolgung. Dadurch entgehen auch wieder uns staatliche Leistungen, die anderswo besser untergebracht wären.
Timm: Aber liegt darin nicht auch eine Bankrotterklärung, also nach dem Motto, gut, wir haben letztlich nichts ausrichten können, weder mit Aufklärung noch mit Strafverfolgung haben wir das Problem annähernd wirklich gut in den Griff bekommen, also legalisieren wir das eben. Ist das nicht auch eine Bankrotterklärung?
Böllinger: Im Gegenteil. Es ist eine vernünftigere Lösung. Man muss erstens einsehen, dass Strafrecht nicht funktionieren kann. Strafrecht soll ein äußerstes Mittel der Sozialpolitik sein, durch Übelszufügung, durch Androhung von empfindlichem Übel soll Verhalten beeinflusst werden. Wir wissen aus psychologischer Sicht und aus kriminologischer Sicht, das kann nicht funktionieren. Es gibt bessere Wege, geeignetere Wege, um eine solche Einflussnahme durchzuführen, nämlich zum Beispiel Aufklärung, Beratung, Prävention auf allen Ebenen, risikomindernde Maßnahmen für solche Drogenkonsumenten, die eben in gefährlicher Weise konsumieren. Und insbesondere dann auch Therapie und Vorkehrungen gegen Ausweitung des Konsums. Jugendschutzmaßnahmen, Werbeverbot et cetera.
Das sind die vernünftigen Lösungen, deren Wirksamkeit auch erprobt ist. Wir haben heute in der Medizin das Prinzip der evidence-based-medicine. Es soll immer bewiesen sein, ob etwas wirkt. Hier ist bewiesen, Strafrecht wirkt nicht, und anderes wirkt durchaus einigermaßen gut.
Timm: Bezieht sich Ihr Aufruf, der letztlich heißt "Legalisiert Drogen", bezieht der sich auf alle, die weichen wie die harten.
Böllinger: Grundsätzlich bezieht der sich auf alle. Nur muss man für jede Droge eine spezifische Lösung finden. Für Cannabis wird es eine Lösung geben, die ungefähr dem entspricht, was jetzt in den USA oder in Uruguay verwirklicht worden ist.
Timm: Wir sprechen mit Lorenz Bollinger, Initiator einer Resolution von Strafrechtlern, die dazu auffordert, die bisherige Drogenpolitik zu überdenken, bis hin zur Legalisierung von Drogen als Fazit daraus, dass Verbote und Strafverfolgung keine Lösung sind. Nun haben Sie das bereits angerissen, das ist ein grenzüberschreitendes, ein weltpolitisches Thema. Aber wenn es bei uns für Süchtige tatsächlich Heroin auf Rezept aus der Apotheke gäbe, wäre das tatsächlich ein Schlag gegen die Warlords in Afghanistan, in Mittelamerika, in Asien?
Böllinger: Na ja, es gibt kein richtiges Leben im falschen, hat Adorno gesagt, aber es wäre ein Gewinn. Natürlich wird es nach wie vor große Probleme geben, wenn nur einzelne Länder wie jetzt zum Beispiel Deutschland oder Holland Heroin freigeben oder quasi freigeben, auch in England, aber es wäre schon mal eine Milderung des Problems jedenfalls bei uns. Es ist oft nicht anzunehmen, dass nun dann Heroinströme von Deutschland ins Ausland erfolgen würden.
Umgekehrt wäre es erst mal sinnvoll, dass hier dann Heroin für diejenigen, die es unbedingt brauchen, auf Rezept erhältlich wäre. Das funktioniert übrigens schon aktuell, und das Heroinproblem ist damit faktisch gelöst worden, weil die meisten Abhängigen können Methadon bekommen auf medizinisch verschriebene Weise, und Einige, die es nicht vertragen, kriegen Heroin. Also wie gesagt, das Problem ist faktisch gelöst. Es würde ähnliche Möglichkeiten der Problemlösung für Kokain geben. Für Cannabis sowieso.
Ringen um die Unterstützung im Bundestag
Timm: Uruguay hat Schlagzeilen gemacht, hat die Drogen in begrenztem Umfang freigegeben, will Marihuana ganz offiziell staatliche kontrollieren, staatlich produzieren und staatlich handeln. Das könnte natürlich einen Dominoeffekt geben. Ich spinne mal weiter. Stellen wir uns den mal vor. Marihuana als staatlich angebautes Wirtschaftsgut, Förderung der Exportwirtschaft durch Drogen, irgendwann dann Aktienkurse für Haschisch. Fallen da nicht alle Dämme?
Böllinger: Wenn man das so sehen will, ja. Auf der anderen Seite muss man auch die kriminologischen und sozialpsychologischen Ergebnisse sehen, dass nämlich Drogenkonsum nicht abhängig ist von gesetzlichen Regelungen oder auch massiver Förderung durch Wirtschaft. Das ist nur sehr begrenzt möglich, durch Werbung zum Beispiel den Konsum von Cannabis zu beeinflussen. Cannabis wird von bestimmten Menschen konsumiert oder bevorzugt. Andere, die Alkohol bevorzugen, werden mit aller Wahrscheinlichkeit nicht einfach zu Cannabis wechseln. Andere, in der Tag, werden von Alkohol vielleicht zu Cannabis wechseln, weil es weniger gefährlich ist als Alkohol, weniger gesundheitsschädlich.
Timm: Wie grenzen Sie sich eigentlich ab gegen falsche Freunde und Unterstützer, also gegen die Gefahr, dass man verharmlost?
Böllinger: Dadurch, dass eben die Ergebnisse der Forschung zeigen, dass Aufklärung, Beratung, Therapie wirksam sind bei Eingrenzung von Konsum und bei dem Schutz von gefährdeten Jugendlichen, insbesondere solchen Jugendlichen, die vielleicht eine latente Psychose haben und viel zu früh anfangen zu konsumieren. Wenn in den Familien offen über diese Sache gesprochen werden könnte, wenn es nicht mehr heimlich geschehe, dann hätte man viel besseren Zugang zu solchen gefährdeten jungen Leuten und könnte frühzeitig behandeln oder jedenfalls durch Aufklärung etwas bewirken.
Timm: Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die über Ihre Resolution berichtet, die endet mit dem süffisanten Satz, der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD habe das brisante Thema allerdings mit keinem Wort gestreift. Für Ihre Resolution, um eine Enquète-Kommission in Gang zu setzen, brauchen Sie 20 Prozent der Abgeordneten des nächsten Bundestages. Wie hoffnungsvoll sind Sie denn, dass Sie die zusammenkriegen?
Böllinger: Das wird man sehen. Also die 20 Prozent, das ist ja noch nicht sicher. Es gibt eine Regelung, die bisher 25 Prozent erfordert. Ich hoffe auf die Änderung dieser Regelung entsprechend eben der geringen Präsenz von Opposition. Aber wenn es klappt mit den 20 Prozent, dann sehe ich gute Chancen, denn die Oppositionsparteien, die Linke und die Grünen haben bereits signalisiert, dass sie zustimmen würden. Natürlich gibt es keinen Fraktionszwang, aber ich glaube, dass doch die meisten Abgeordneten dafür stimmen werden. Auch einige aus der SPD hoffe ich zu gewinnen. Und dann müsste die endlich mal, erstmalige sachliche Auseinandersetzung mit dem Problem im Parlament stattfinden.
Timm: Herr Böllinger, wenn Sie das durch haben, sehen wir weiter. Professor Lorenz Böllinger war das. Über hundert Strafrechtsprofessoren haben mit einer Resolution auf sich aufmerksam gemacht. Sie fordern die Legalisierung von Drogen. Herzlichen Dank fürs Gespräch!
Böllinger: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.