Ich habe das Gefühl, dass das Bewusstsein dafür, was der Wert von Fiktion ist, heutzutage nicht mehr begriffen wird. Die Winnetou-Bücher sind Fantasy-Romane. Sie daraufhin abzuklopfen, ob sie einen angemessenen Eindruck über historische Vorgänge vermitteln, zeigt eine unreife Position, die keinen Begriff von Fiktionalität hat.
Ravensburger stoppt Winnetou-Buch
Kein Anspruch auf historische Korrektheit: Schauspieler Pierre Brice als Häuptling Winnetou. © imago-images / Cinema Publishers Collection / The Legacy Collection
"Falsches Verständnis von Fiktion"
12:32 Minuten
Der Ravensburger Verlag hat nach Rassismus-Vorwürfen zwei "Winnetou"-Kinderbücher aus dem Programm genommen. Literaturkritiker Ijoma Mangold hält diese Entscheidung für falsch: Der Leser werde entmündigt.
Schon seit einigen Jahren wird darüber debattiert, wie man sich heutzutage zu der Karl May-Figur Winnetou und der Darstellung US-amerikanischer Indigener in diesen Büchern positionieren soll.
Vor Kurzem erschienen begleitend zu dem Film "Der junge Häuptling Winnetou" zwei Kinderbücher im Ravensburger Verlag mit demselben Titel. Diese werden nun vom Verlag nach Rassismus-Vorwürfen und Kritik in den sozialen Medien zurückgezogen und aus dem Programm genommen. Die klassischen Karl-May-Romane aus dem Karl-May-Verlag sind davon allerdings nicht betroffen.
Man sei zu dem Schluss gekommen, dass das darin enthaltene romantisierende Bild "angesichts der geschichtlichen Wirklichkeit und der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung" nicht akzeptabel sei, so der Verlag.
Winnetou-Bücher sind "Fantasy"-Romane
Natürlich spiegelten Winnetou-Romane nicht mal annähernd die Wirklichkeit wider, sagt Autor, Literaturkritiker und "ZEIT"-Redakteur Ijoma Mangold. Die Frage sei vielmehr, ob das Vorgehen des Verlags eine angemessene Sensibilität im Umgang mit kulturellen Gütern zeige.
Fiktion kann ein Mittel der Aufklärung sein
Man dürfe die Leser nicht so entmündigen.
Geschichte vs. Fiktion
Was in der Winnetou-Debatte bisher fehlt (Podcast)
24.08.2022
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Diese wüssten sehr wohl, dass sie es mit einem Werk der Fantasie zu tun hätten. "Wenn aber die Beschäftigung mit dieser Fiktion den Anlass gibt, sich mit den tatsächlichen historischen Vorgängen zu befassen, dann ist das ausgesprochen produktiv."
Die aktuelle Debatte über Winnetou findet Mangold gerade sogar produktiv. Und genau deswegen bestehe kein Grund, diese Werke verschwinden zu lassen, als ob sie "kontaminiert" seien, sagt Mangold.
Indem diese Bücher gelesen und diskutiert würden, könnten sie als Anlass dienen, um über Geschichte nachzudenken. "Insofern kann die Fiktion auch ein Mittel sein, historisch-aufklärerisch zu wirken, auch wenn sie selber eine Fantasy-Welt entwirft."
Kritische Lektüre ist der beste Weg
Mangold warnt auch davor, sich aus vermeintlich aufgeklärter Perspektive in eine Stellvertreterposition zu begeben und zu behaupten, man spräche im Namen derjenigen, die man als Opfer dieser Fiktionen begreift.
"Diese im Moment politisch dominante Haltung hat etwas hoch Paternalistisches. Wir beweisen uns unsere eigene moralische Avanciertheit, indem wir vorauseilend diese Werke vom Büchertisch verschwinden lassen."
Die Einschätzung historischer Vorgänge unterliege selbst einem historischen Wandel, so Mangold. "Die Werke, die Anlass geben für Debatten, Kontroversen und Auseinandersetzungen können wir durch kritische Lektüre nutzen, wenn wir sie im Bewusstsein der Fiktion rezipieren. Das geht aber nur, solange sie da sind."
Nicht den Fehler von Don Quijote wiederholen
Mangold macht den mündigen Leser stark, der zwischen Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden kann und nie von der Prämisse ausgeht, dass ein literarisches Werk stellvertretend für eine Wirklichkeit oder eine Wahrheit steht. Anderenfalls "begibt man sich in eine Position der Unreife, in eine infantile Perspektive. Es gibt in der Kulturgeschichte einen berühmten Fall, wo ein Erwachsener zu dieser Unterscheidung nicht fähig war und dann selber zu einer berühmten Figur der Weltliteratur wurde: Don Quijote."
Mangold sieht die Winnetou-Bücher als Teil des kulturellen Erbes. Dieses Erbe werde in jeder Epoche und von jeder Generation anders gelesen und wahrgenommen. Die Bücher aus dem Raum des kulturellen Gedächtnisses verschwinden zu lassen, zeige "eine völlig abstruse Vorstellung darüber, wie Kultur funktioniert."
Kultur gebiert permanent Neues. Kultur ist permanente 'Cultural Appropriation', und sie ist permanent einem Revisionsprozess unterworfen. Das ist ein produktiver Prozess. Den sollen wir nicht abblocken, indem wir sagen: Alles, was der Ästhetik und der Moral unserer Gegenwart nicht mehr entspricht, verschwindet jetzt und wird ersetzt durch die 'passgenauen' neuen Antworten."