Ray Loriga: "Kapitulation"
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Terrorherrschaft der radikalen Vernunft
06:25 Minuten
Ray Loriga
Übersetzt von Alexander Dobler
KapitulationCulturbooks, Hamburg 2022200 Seiten
24,00 Euro
In der gläsernen Stadt sind alle Menschen jederzeit beobachtbar - aber auch rundum umsorgt. Ray Lorigas Hauptfigur entlarvt bald den sozialtechnologischen Terror dieses Überwachungssystems. Trotzdem erscheint er als mögliches Zukunftsszenario.
Angesichts leicht dystopischer Zustände, die zurzeit realiter herrschen, sind dystopische Romane weniger warnende Schreckensvisionen als Gedankenexperimente über eine mögliche Zukunft. So auch “Kapitulation“ des spanischen Schriftstellers und Drehbuchautors (für u. a. Carlos Saura und Pedro Almodóvar) Ray Loriga.
Erschienen 2017 in Spanien, also vor Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg, sieht sein Szenario so aus: Irgendwo auf der Welt herrscht seit zehn Jahren Krieg. Wer gegen wen warum kämpft, bleibt völlig unklar. Das gilt auch für die Bevölkerung auf dem Lande, die unter den üblichen Kriegsfolgen leidet – Bombardierungen und andere Verwüstungen, Wasser- und Lebensmittelknappheit.
Glücksversprechen der transparenten Stadt
Die Menschen, auch der namenlose Icherzähler, seine Ehefrau und sein Pflegesohn Julio, die einzige Figur des Romans, die einen Namen hat, sollen vom Land in die Stadt evakuiert werden. Dort, so hoffen die Eheleute, könnten sie vielleicht etwas über das Schicksal ihrer beiden leiblichen Söhne erfahren, die irgendwo im Krieg verschwunden sind.
Der Weg in die Stadt, ein Trip into the badlands, war schon schwierig genug, strapaziös und geprägt von Betrug und Verrat. Umso verlockender dann die Stadt, die unter einer gigantischen, durchsichtigen Glaskuppel liegt.
Alle Bedürfnisse, so scheint es, werden befriedigt, alle Menschen haben Arbeit, alles gibt es gratis. Die Stadt ist Tag und Nacht erleuchtet und völlig transparent. Alle sehen immer alles, selbst die intimsten Verrichtungen sind jederzeit einsehbar. Die Familie richtet sich ein, der Icherzähler arbeitet in der Fäkalienentsorgung, die Ehefrau in der Bibliothek und der bislang stumme Pflegesohn kommt in eine Schule für Hochbegabte.
Licht der Aufklärung als Unterdrückungsmittel
Aber das Dauerglück ist rissig. Als der Erzähler, bis dahin ein unangenehmer Konformist, leicht abweichendes Verhalten zeigt, wird er mit Psychopharmaka behandelt, die ihn auch glücklich stimmen, als die Gattin sich einen Lover ins Haus holt.
Und auch das Trinkwasser, so scheint es, trägt zur Dauereuphorie der Bevölkerung bei, wobei allmählich klar wird, dass Euphorie mit totaler Gleichgültigkeit und Indolenz der Menschen einhergeht.
Das ist der Punkt, wo Utopia in Dystopia umschlägt. Das Licht, das „Lumen naturale“ der Aufklärung wird zum Unterdrückungsmittel, zum Terrorinstrument eines Systems, das keine Ideologie braucht, noch nicht einmal Profiteure, aber eben auch keine Abweichler.
Die werden „Verräter“ genannt und sind zur Abschreckung am Tor zur Stadt aufgehängt. Schließlich gelingt es dem Icherzähler, der Stadt zu entkommen, aber es handelt sich bei „Kapitulation“ eben um eine Dystopie, mit einer üblen Pointe am Ende.
Folgen einer radikal-rationalistischen Vernunft
Während George Orwell, dessen „1984“ in „Kapitulation“ durch die Zeilen schimmert wie auch Erzählungen von Philip K. Dick, die totalitären Regime seiner Zeit vor Augen hatte, richtet sich Lorigas Roman eher gegen die Glücksversprechungen etwa des chinesischen Systems, das Glück und Wohlstand verspricht, dafür aber Freiheit cancelt.
Ein System, das durchaus von vielen Menschen für attraktiv gehalten wird und auch in der europäischen Politik zu einer Option zu werden droht, wenn die Propaganda radikaler Rechter aufgehen würde – siehe Ungarn oder neuerdings Italien. Die völlig transparente, dauerüberwachte Bevölkerung ist sowieso schon lange der Traum autoritären Denkens, wirtschaftlich und politisch gesehen.
„Kapitulation“ mit seinen anonymen Protagonistinnen und Protagonisten kann überall spielen, die sozialtechnologischen Folgen einer radikal-rationalistischen „Vernunft“ (Stichworte: KI, Algorithmen usw) sind ein brandaktuelles Thema. Lorigas Roman denkt ein Potenzial zu Ende, das realpolitisch beklagenswerterweise keine reine Science-Fiction mehr ist.