Raynor Winn: "Überland"

Erneut auf Wanderschaft

05:57 Minuten
Raynor Winn: "Überland". Auf dem Cover schlängelt sich ein Pfad durch die gezeichnete Natur, im Vordergrund sitzt ein Hase.
© DuMont Reiseverlag

Raynor Winn

Aus dem Englischen von Heide Horn, Christa Prummer-Lehmair und Rita Seuß

ÜberlandDuMont Reiseverlag, Ostfildern 2022

352 Seiten

17,95 Euro

Von Günther Wessel |
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Raynor Winn und ihr Mann Moth sind wieder aufgebrochen und dieses Mal vom Norden Schottlands bis zu ihrer Farm in Cornwall gewandert. Das hochemotionale, aber nie kitschige Buch dazu heißt "Überland" und steckt voll wunderbarer Beobachtungen.
Der Grund für den neuen Aufbruch ist einfach: Da sich Moths Gesundheitszustand auf der ersten langen Wanderung besserte ("Der Salzpfad"), glauben er und Raynor, dass dies nun erneut passieren wird. Warum sie sich aber für den Kap Wrath Trail, die härteste Wanderroute Großbritanniens, entscheiden, die 350 Kilometer unmarkiert durch Sümpfe, Flüsse, windige Ebenen und über Berge geht, entfernt von Siedlungen, ist nicht rational zu begründen – und Raynor Winn versucht es in "Überland" auch gar nicht. Es muss einfach diese Tour sein.

Kraft schöpfen aus der Natur

So ziehen sie im Norden Schottlands los. Raynors Füße sind schon nach einem Tag entzündet und voller Blasen. Die nächtliche Kälte lässt die Reißverschlüsse des Zelts zufrieren, tagelanger Dauerregen verwandeln Pfade in Moraststrecken und ihr Kocher gibt schnell seinen Geist auf. Glücklicherweise bekommen sie bald eine neuen – ohne eine warme Mahlzeit hin und wieder und vor allem ohne heißen Tee hätten sie ihren Mut wohl verloren.
Die Tour laugt sie aus und gibt ihnen gleichzeitig Energie. Moth, der anfänglich kaum einen halben Kilometer gehen kann, schafft es bald, in wirklich heiklen Situationen auf alte Fähigkeiten zurückzugreifen, als würde das Wandern seine Synapsen neu beleben. Kraft schöpfen die beiden aus dem Naturerlebnis, den Ausblicken von Hügelkuppen auf Flüsse, die im Sonnenlicht glitzern, wenn sie in klaren Flüssen baden, Rothirsche beobachten oder den Wind genießen – mit wenigen prägnanten Worten schafft es Raynor Winn, Situationen und Orte lebendig werden zu lassen.
Doch schreibt sie auch über den Verlust von Biodiversität, der durch die industrielle Landwirtschaft entsteht, über die Entfremdung des Menschen von der Natur. Über soziale Verwerfungen, Landflucht und Obdachlosigkeit, das Zerbrechen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Klimakrise.

Entschieden, aber nie polemisch

Dabei bezieht sie entschieden Stellung, mit gut nachvollziehbaren Argumenten, manchmal redundant, aber nie polemisch. Ihre Zuneigung gehört explizit den Menschen, der Landschaft und der Natur. Insbesondere der Vogelwelt, dem Kuckuck, dem Seeadler, dem Steinschmätzer, dem Goldregenpfeifer.
Als die beiden den Kap Wrath Trail beendet haben – glücklich und vollständig erschöpft, beschließen sie: Wir machen weiter, zu Fuß und mit dem Rad. Weiter bis nach Hause. 1300 Kilometer mehr. 
Es ist ein trauriges und zugleich hoffnungsfrohes Buch: Die Trauer resultiert aus der Sorge um Moths Gesundheit – auch wenn sich die Symptome durch die Wanderung erneut verbessern – und dem Zustand der Welt. Der Optimismus nährt sich aus dem Erleben der Natur, der Gemeinsamkeit und dem Teilen der Schönheit. Das Buch ist hochemotional, aber nie kitschig, nachdenklich, unmittelbar und voll schöner Beobachtungen.
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