Wenn Soldaten die Falschen töten
23:46 Minuten
Ende Oktober stürmten in der Provinz Nangarhar afghanische Spezialeinheiten drei Häuser eines Dorfes: 14 Zivilisten starben, darunter Kinder. Razzien dieser Art häufen sich, teils auch durchgeführt von US-Soldaten. Die Folge: Hass und Radikalisierung.
Im Juli 2019 soll die Präsidentschaftswahl in Afghanistan abgehalten werden. Die Sicherheitslage ist schlecht. Fast wöchentlich verüben Taliban und IS-Kämpfer schwere Anschläge. Meldungen dazu gehen um die Welt. Weniger beleuchtet - für die Betroffenen aber genauso schlimm - ist die Gewalt durch afghanische und US-Soldaten.
Nächtliche Razzia mit 14 Toten
Am 23. Oktober 2018 wurde das abgelegene Dorf Shaheeduna Meena in der ostafghanischen Provinz Nangarhar zum Schauplatz eines brutalen Angriffs. Mitten in der Nacht stürmten Spezialeinheiten der afghanischen Armee drei Häuser. Sie waren auf "Terroristenjagd". Nach wenigen Stunden gab es vierzehn Tote, darunter mehrere Kinder, wie die afghanische Nachrichtenagentur Pajhwok berichtete.
Am darauffolgenden Tag protestierten zahlreiche Dorfbewohner. "Tod für Amerika"- Rufe waren allgegenwärtig, während die Demonstranten eine wichtige Straße, die Hauptroute zwischen den Städten Jalalabad und Torkham, versperrten.
Zeitgleich wurden auf Plattformen wie Twitter Bilder der Beerdigungszeremonie der Opfer verbreitet.
"Sie haben unser Haus gestürmt. Es waren afghanische Soldaten. Sie fingen an zu schießen. Ohne Rücksicht. Sie suchten Taliban. Aber da war niemand."
Abdul Samad war in einem der gestürmten Häuser. Militante Kämpfer habe er nicht in seiner Familie. Zwei getötete Cousins - Qari Zahidullah und Qari Qudratullah - betrieben eine kleine Apotheke im Dorf und waren unter den Toten.
"Wir haben sieben Mitglieder unsere Familie beerdigt. Vier Männer und drei Kinder. Sie wurde ohne jeglichen Grund getötet. Sie waren allesamt unschuldig. Sie hatten niemandem Schaden zugefügt."
"Wer Kleinkinder tötet, macht sich keine Freunde"
Gegen drei Uhr morgens wurde das Haus einer weiteren Familie zum Ziel einer Razzia. Jamal Khan lebte dort gemeinsam mit der Familie seines Onkels. Er erzählt, das Haus sei anfangs bombardiert worden, dann stürmten Soldaten ins Wohnzimmer und hätten rücksichtslos umhergeschossen. Sein Onkel Akhtar Mohammad und dessen neunjähriger Sohn wurden dabei getötet, während seine Ehefrau und ein anderes Kind verletzt überlebten.
Dass nun manche Menschen behaupten, seine Familienmitglieder seien militante Kämpfer gewesen, empört Jamal Khan. Er behauptet, dass sein Onkel als Wachmann in einer Schule gearbeitet habe und bekannt gewesen sei. Obendrein wurde die Schule von Regierung betrieben. Dieses Narrativ wird auch von anderen Menschen aus dem Dorf geteilt.
"Ich war in jener Nacht nicht im Dorf, sondern besuchte meinen Vater in einem nahe gelegenen Krankenhaus. Als ich am nächsten Morgen zurückkehrte, erfuhr ich, dass mehrere Menschen von Soldaten ermordet wurden."
Atta Khan Shinwari ist ein lokaler Radiojournalist, der aus dem betroffenen Dorf stammt und in Jalalabad, der Provinzhauptstadt von Nangarhar, arbeitet. In der Nacht, in der die Razzien stattfanden, besuchte er seinen kranken Vater in einem nahegelegenen Krankenhaus. Laut dem Journalisten fanden in der Region in den vergangenen Wochen oftmals Razzien statt, obwohl hier die Regierung und keine Extremisten der IS-Miliz oder der Taliban das Sagen hat.
"Viele Menschen verachten extremistische Gruppierungen wie den IS und die Taliban. Sie haben viele Verbrechen begangen. Doch die Soldaten machen sich wirklich keine Freunde, wenn sie so viele Zivilisten, darunter Kleinkinder, töten."
Erschossen, weil ähnlicher Name wie Terrorist?
Insgesamt wurden allein in jener Nacht drei Häuser angegriffen. Kurz nach der Razzia zitierte das afghanische Nachrichtenmedium Pajhwok eine anonyme Quelle des afghanischen Geheimdienstes NDS. Laut dieser wurden die Häuser im Dorf gestürmt, um mehrere IS-Militante, darunter einen Bombenbauer namens Qudratullah Farid, dingfest zu machen. Doch der einzige Mann namens Qudratullah, der in jener Nacht getötet wurde, war Abdul Samads Cousin, eine unschuldiger Apotheker.
Nachdem einige Berichte aus Shaheedanu Meena durchsickerten, verkündete die Provinzregierung, eine Untersuchung einleiten zu wollen. Was darauf geschehen ist, ist unklar. Ähnliche Szenarien spielten sich nach derartigen Kriegsverbrechen auch in der Vergangenheit ab. Sie endeten im Nirgendwo. Selten wurden tatsächlich Untersuchungen eingeleitet, und schon bald darauf ereignete sich bereits die nächste Militäroperation, der Zivilisten zum Opfer fielen.
Seit Beginn des NATO-Einsatzes im Jahr 2001 gehören Razzien wie jene in Shaheedanu Meena zum Alltag in den ländlichen Gebieten Afghanistans. Sie werden sowohl von der afghanischen Armee als auch von US-Streitkräften ausgeführt – und immer wieder werden dabei Zivilisten getötet. Während die Verantwortlichen der Meinung sind, dass man durch derartige Operationen gezielt und erfolgreich Jagd auf "Terroristen" macht, meinen viele Beobachter, dass die Razzien Militanz, Extremismus und amerikafeindliche Gefühle schüren.
Keine Untersuchung nach tödlicher Razzia
Ein Beispiel hierfür ist eine Razzia, die sich 2012 in einem Dorf namens Kala Shaikh, ebenfalls in der Provinz Nangarhar, abspielte. Damals stürmten US-Eliteeinheiten gemeinsam mit afghanischen Soldaten das Haus von Abdul Hadi Mohmand. Er arbeitete für die lokale Wahlbeschwerdekommission und pflegte Kontakte zur Regierung. Bei der Razzia wurden Mohmands Bruder Abdul Wakil und sein Neffe Gul Hadi getötet. Eine Untersuchung wurde nicht eingeleitet. Stattdessen wurde die Familie ignoriert, erklärt Sohn Noor ul-Hadi:
"Sie schossen einfach um sich und zeigten keinerlei Rücksicht. Es war ihnen vollkommen egal, wen sie töteten. Als wir eine Untersuchung verlangten, hat man uns abgewimmelt. Irgendwann haben wir dann die Hoffnung aufgegeben."
Noor ul-Hadi, der gegenwärtig in Jalalabad lebt, hat Erfahrung mit derartigen Operationen. Er ist der Meinung, dass sie nur noch mehr Extremismus und Militanz schüren.
"Zwischen 2012 und 2013 fanden viele US-Geheimoperationen in meiner Heimatregion statt. Wir alle wissen, dass dabei sehr viele Zivilisten getötet wurden. Ein Resultat solcher Massaker ist, dass selbst jene Afghanen, die die Regierung unterstützen oder mit ihr sympathisieren, sich von ihr abwenden. Es heißt dann immer wieder seitens der Regierung oder der Amerikaner, dass man den Taliban Unterschlupf gewährt habe. Ich habe viele tote Kinder gesehen, die zum Opfer solcher Razzien geworden sind. Dafür gibt es keine Entschuldigung."
Sind es bewusste "Fehler"?
Ob man tatsächlich nur von "Fehlern" sprechen kann oder gewisse Szenarien bewusst herbeigeführt werden, lässt sich schwer sagen. Auffallend ist jedoch, dass die Faktenlage in vielen Fällen nicht so erscheint, wie sie von den Sicherheitskräften in Kabul und Washington, sprich, dem US-Militär und ihren afghanischen Verbündeten, dargestellt werden. Ein klarer Beweis hierfür ist die Tatsache, dass in der Vergangenheit bei derartigen Operationen nicht nur einfache Zivilisten getötet wurden, sondern oftmals auch Personen, die klare Verbindungen zur Regierung hatten oder gar für diese arbeiteten.
2010 berichtete der US-Journalist Anand Gopal von einer Razzia, in der das Ziel ein Mitglied des afghanischen Landwirtschaftsministeriums gewesen ist. Zwei Cousins des Mannes wurden bei der Operation getötet. Ein dritter Mann wurde festgenommen und verschwand in US-amerikanischer Gefangenschaft.
Ähnliches brachte auch der US-Journalist Jeremy Scahill zum Vorschein, als er für seine preisgekrönte Dokumentation "Dirty Wars" in Afghanistan recherchierte. Er berichtete über einen Fall aus der Provinz Paktia im Osten Afghanistans. Dort sprach das US-Militär anfangs von einem "heroischen Einsatz gegen Taliban-Kämpfer". Getötet wurde allerdings ein Polizeikommandant namens Mohammad Daoud Sharabuddin. Seine Familie hatte sich in seinem Heim versammelt, um die Geburt eines Kindes zu feiern. Die US-Soldaten töteten sieben Familienmitglieder, darunter zwei schwangere Frauen. Sharabuddin selbst wurde einst von den US-Streitkräften ausgebildet. In seinem Wohnzimmer gab es zahlreiche Bilder, auf denen er lächelnd mit US-Soldaten abgebildet war.
Die gegenwärtige Regierung von Präsident Ashraf Ghani unternimmt nur wenig bis gar nichts gegen die Militäroperationen und ihre zahlreichen zivilen Opfer. Stattdessen hat sich das Narrativ des "Krieges gegen den Terror" erfolgreich durchgesetzt. Egal, ob Drohnen-Angriffe und andersartige Luftschläge oder nächtliche Razzien. Alle Opfer werden stets als "Terroristen" bezeichnet, auch wenn es gar keine Beweise dafür gibt.
Nachgefragt wird nicht, Untersuchungen werden angekündigt, aber kaum eingeleitet. Als vor Kurzem bekannt wurde, dass das US-Militär im Jahr 2018 über 5000 Bomben in Afghanistan abgeworfen hat – ein Höchststand seit 2003 – wurde dieser Umstand von Ghanis Regierung einfach ignoriert. Stattdessen sind es andere Akteure, die darauf aufmerksam machen und ihre Sorge zum Ausdruck bringen, allen voran Menschenrechtler und Journalisten, wie das Londoner "Bureau of Investigative Journalism", mit dem der Autor dieser Recherche zusammenarbeitet.