Europa, wo bist Du?
"Finding Europe" war das Motto der Internetkonferenz re:publica in Berlin und 7000 Teilnehmer machten sich auf die Suche. Gefunden wurde ein fehlerhaft funktionierender Kontinent, der einige Updates braucht.
7000 Teilnehmer, 850 Speaker, 500 Stunden Programm. Das sind die Ausmaße der re:publica 2015. Eine der größten Blogger- und Netzpolitik Konferenzen weltweit. Vor vier Jahren ist die re:publica in den ehemaligen Postbahnhof am Gleisdreick gezogen, weil sie aus den vorigen Locations in der Kalkscheune und dem Friedrichstadtpalast schlichtweg herausgewachsen ist. Und auch diesmal hat die Tagung wieder neue Rekorde aufgestellt. Dass es bei solchen Ausmaßen schwierig wird, ein Themenübergreifendes Motto zu finden, das liegt fast auf der Hand. Dieses Jahr titelte die Konferenz "Finding Europe", was man frei mit der Suche nach Europa übersetzen könnte. Jenny Genzmer war für uns dort und hat sich gefragt, ob die Tagung ihrem großen Slogan gerecht wird.
Über 100 Jahre ist es her, dass die Station in Berlin das erste Mal ihre Funktion gewechselt. Schwere Eisentore, durch die früher Dampflokomotiven hindurchgefahren sind, erinnern noch heute an ihre frühere Existenz als Postbahnhof. Heute tummeln sich hier 6000 Menschen, verteilt auf 17 Tagungsflächen und den sonnigen Innenhof. Die 7. Konferenz für Netzpolitik und Digitalwirtschaft Re:publica ist in vollem Gange
"Schade ist, es hängt nicht ganz richtig. Das ist dein Perfektionismus. Das kann doch jeder Lesen. Witziger werden jetzt meine bissigen Tweets wie, oh, eine Guerilla-Aktion während der Re:publica."
Daphne Büllesbach von der Organisation European Alternative steht mit einem Freund im Innenhof und schaut zu, wie in den Torbögen ein Transparent ausgerollt wird. "404 Europe not found". Eine Anspielung auf eine Fehlermeldung im Internet.
"Das ist halt so ein bisschen Nerd-Manier, damit auch die re:publica Leute vielleicht drauf anspringen, das sind diese Error-Codes von https."
Wer den Fehler-Code vom Banner auf Twitter sucht, findet den Link zu einer Online-Umfrage. Die Aktivisten wollen wissen, wie wichtig den Konferenzteilnehmern Europa ist, und gleichzeitig auf das Motto der 7. Re:publica reagieren: "Finding Europe".
"Wir haben uns etwas ganz großes vorgenommen, nämlich den kompletten Umbau von Europa. Die Vereinigten Staaten von Europa, das war gestern, die europäische Republik, das ist morgen"
Das System funktioniert nicht mehr
Ulrike Guerot steht auf – der Hauptbühne. Die Politikwissenschaftlerin und Gründerin des European Democracy Lab findet, dass die Europäische Union, wie sie einmal gegründet wurde, heute als System nicht mehr funktioniert. Politischer Unmut habe sich breit gemacht und rechts-populistischen Parteien den Boden bereitet
"Das sagt einfach, dass wir ein System geschaffen haben, dass intuitiven demokratischen Bedingungen nicht mehr entspricht und wir haben alle das Gefühl, wir können alle nicht mehr wählen, wir können nicht abwählen, wir können nicht entscheiden, und der im sprichwörtlichen Sinne Volkswille in Brüssel wird nicht durchgeführt, sondern man muss immer nur das machen, was, in Anführungsstrichen, das System entscheidet."
Nationalstaatliches Denken soll überwunden, die Bürger weiter in den Mittelpunkt gerückt werden, fordert Guérot. Vor allem das Internet müsse in dem Europa, das ihr vorschwebt, zu einem europäischen Projekt werden.
"In der Netzpolitik zeigen sich die Dysfunktionalitäten von Europa. Auch in der Netzpolitik, wenn es darum geht, wer investiert eigentlich in Netze, wer macht die Infrastruktur, wer entscheidet, ob wir was gegen Google machen, ob wir sozusagen mal gegen die USA sind oder doch wieder ein Nationalstaat im Europäischen Rat. Dann zeigt sich immer wieder, die Einigkeit von Europa steht auf dem Spiel. Sie steht vor allem daran, wenn wir gegenüber den Amerikanern andere Akzente setzen wollen und sie steht auf dem Spiel, wenn wir ein dezentrales Europa wollen, wo dann meistens nationale Industrieinteressen dagegen stehen."
Ulrike Guérot würde die Europäische Union in Zukunft lieber Europäische Republik nennen.
"Weil nicht nur funktioniert das System nicht mehr, was vor allen Dingen nicht mehr funktioniert, ist die Erzählung der Vereinigten Staaten von Europa, die uns 50 Jahre begleitet haben."
EU-Kommissar Günther Oettinger schlug Einladung aus
Keinen neuen Namen, aber eine neue Netzpolitik für Europa, fordert auch der Anthropologe und Programmierer Thomas Lohninger von der Digitalen Gesellschaft. Der Österreicher ist auf die re:publica gekommen, um auf die laufenden Verhandlungen einer europäischen Netzpolitik aufmerksam zu machen.
"Ja mein Eindruck ist, dass leider Europa immer noch zu wenig im Bewusstsein der Menschen angekommen ist. Die Politik, die wir in Brüssel machen, gilt für eine halbe Milliarde Menschen auf diesem Kontinent. Und dieser Verantwortung werden wir in letzter Zeit aber immer weniger gerecht. Und da ist es wichtig, dass wir vor allem mehr Öffentlichkeit auf die europäischen Gesetzgebungsprozesse lenken und auch verantwortlich fühlen für dieses Europa."
Netzneutralität, Datenschutzgrundverordnung, Urheberrechtsreform. Das sind zwar die größten, aber noch lange nicht alle Themen, die in Europa zurzeit netzpolitisch diskutiert werden
"Die meisten Talks haben schon eher Aspekte, die eher mit einem generellen kosmopolitischen Lebensgefühl zutun haben als mit den derzeitigen europäischen politischen Debatten. Was aber vielleicht auch daran liegt, dass die Person, die am meisten dafür verantwortlich ist, Europa hier auf diese Konferenz zu tragen, nämlich Kommissar Günther Oettinger, die Einladung ja leider ausgeschlagen hat, er war der einzige, der nicht mal abgesagt hat, insofern würde ich da ein bisschen den Herrn Oettinger dafür verantwortlich machen, dass Europa hier nicht omnipräsent ist, wie es eigentlich sein sollte."
Ulrike Guérot blickt mit einem anderen Eindruck auf die zu ende gehende re:publica 2015 zurück. Die Konferenz ist ihrem Ziel gerecht geworden, sagt sie.
"Es so ein bisschen, was ich in meiner eigenen Rede gesagt habe. Wir müssen das umstülpen, also umstülpen heißt ja, vom Kopf auf die Füße stellen, Europa von unten schaffen und ein relativ neu gedachtes, wirklich dezentral, bürgerinitiativ gedachtes Europa. Das war gestern auf der republica schon sehr fühlbar."
Und Daphne Büllesbach hat mittlerweile die ersten Ergebnisse ihrer Twitter-Umfrage erhalten.
"Also das war eine der Fragen, würdest du zum Beispiel einen Flüchtling bei dir Zuhause aufnehmen. Und 88 Prozent der Befragten haben gesagt, das würden sie tun."
Das Banner der Aktion, mit dem Fehlercode "404 Europe not found" hat inzwischen jemand abgehängt. Schlimm findet Daphne Büllesbach das nicht – sie hätte es nur ganz gern wieder zurück.