"Das ist ein Phantasma in den Köpfen"
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In einem offenen Brief beklagen sich mehr als 60 Intellektuelle, wer Israel kritisiere, werde als Antisemit gebrandmarkt. Dieser Haltung widerspricht die Antisemitismus-Forscherin Monika Schwarz-Friesel vehement. Das sei Trump-Niveau.
Bundeskanzlerin Angela Merkel bekam einen offenen Brief von mehr als 60 Intellektuellen aus Israel und Deutschland. Diese behaupten darin, man könne nicht mehr offen über die Politik Israels debattieren, ohne sich den Vorwurf des Antisemitismus einzufangen.
Die Antisemitismus-Forscherin Monika Schwarz-Friesel von der TU Berlin kann die Kritik nicht nachvollziehen. Derartige Behauptungen seien gefährlich, sagt sie. Die Unterzeichner des Briefes behaupteten Dinge, die "schlichtweg falsch" und "alternative Fakten" seien:
"Vom Stil und vom Niveau und vom Inhalt her erinnert mich das doch sehr an die alternativen Fakten von Trump."
Antisemitismus wird verleugnet
Eine der Hauptaussagen in dem Brief, wonach Kritik an Israel prinzipiell mit Antisemitismus gleichgesetzt werde, stimme so nicht. Das behaupte niemand von Sinn und Verstand:
"Niemand aus der Forschung, niemand in den Medien – ich habe das auch empirisch überprüft an Hunderten von Texten – hat allen Ernstes jemals gesagt, legitime Kritik an der israelischen Regierungspolitik sei Antisemitismus. Die einzigen, die das behaupten, sind eigentlich diese Briefeschreiber. Das ist ein Phantasma in den Köpfen."
Zu der Behauptung, der Antisemitismus-Begriff werde inflationär gebraucht, sagt die Forscherin, das Gegenteil sei der Fall. So gebe es "immer häufiger" Gerichtsurteile, bei denen "gravierende Fälle von Antisemitismus geleugnet oder umgedeutet" werden. Als Jugendliche Molotowcocktails auf eine Synagoge warfen, habe das Wuppertaler Gerichtsurteil keinen Judenhass darin gesehen, sondern nur "politische Empörung".
Israel-bezogener Antisemitismus dominiert
Den Verfassern des Briefes, darunter der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, attestiert Schwarz-Friesel ein "massives Wahrnehmungs- und Akzeptanzproblem hinsichtlich der Realität und des Ausmaßes von aktueller Judenfeindschaft".
Dabei geht es auch um die Israel-Boykott-Kampagne BDS, die der Bundestag als antisemitisch eingestuft hat. "Der Israel-bezogene Antisemitismus ist ohne jeden Zweifel die dominante Form. Hier treffen sich alle Antisemiten", so Schwarz-Friesel.
Assmann fordere Differenzierung, doch genau diese gebe es "seit weit über zehn Jahren in der Forschung". Sie unterstelle Assmann "in keiner Weise", Antisemitin zu sein. Doch diese Forschung unterscheide "glasklar" zwischen Antisemitismus und Kritik an Israelk. Genauso tue das auch der vielfach kritisierte Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein.
Das Argument Assmanns, wonach es in Israel womöglich keine offene Diskussion über die Siedlungspolitik der Regierung gebe, weist die Forscherin auch zurück. Die Presse in dem Land kritisiere das "so scharf wie kaum eine Presse sonst wo". Auch gebe es derzeit Demonstrationen.
"Ganz sicher braucht dieses Land nicht die Unterstützung von Deutschen, um eine gute, demokratische Politik zu machen", so Schwarz-Friesel.
(bth)
Das ganze Interview:
Stephan Karkowsky: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat einen offenen Brief bekommen von 60 Intellektuellen aus Deutschland und Israel, die fürchten, sie könnten nicht mehr politisch offen über die israelische Regierungspolitik streiten, ohne gleich als Antisemiten diskreditiert zu werden. Wir lassen dieses Schreiben mal bewerten von Monika Schwarz-Friesel, Professorin für Linguistik und Antisemitismusforscherin an der TU Berlin.
Die Debatte ist ja nicht ganz neu. Warum jetzt dieser Brief? Was bewegt die Unterzeichner so?
Monika Schwarz-Friesel: In der Tat ist das jetzt schon der vierte oder der fünfte oder sogar der sechste Brief, der an die Bundesregierung oder an die Bundeskanzlerin geht. Wir haben hier schon eine gewisse inflationäre Lage, die dennoch bedrückend ist. Anfangs möchte man eigentlich das beiseite wischen und darüber lächeln und sagen: Oje, das macht keinen guten Eindruck und das ist mehr ein absurdes Theater. Aber wenn man sich dann genau anschaut, was diese Leute dort behaupten, dann kommen wir sehr schnell zu der Aussage, dass das doch gefährlich ist und dass man dem widersprechen muss.
Warum? Gerade jetzt in diesem letzten Brief behaupten die Unterzeichner mehrere Dinge, die schlichtweg falsch sind. Ich würde mal sagen, das sind "alternative Fakten", also frei nach der Devise von Pippi Langstrumpf: "Widewidewitt, ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt." Ich befürchte, hier sehen wir auch ein bisschen den Einfluss von dem Niveau der Kommunikation von Donald Trump.
Legitime Kritik muss kein Antisemitismus sein
Karkowsky: Welche Dinge sind es genau, von denen Sie da sprechen?
Schwarz-Friesel: Um das zu konkretisieren: Eine der Hauptaussagen ist ja, Kritik an Israel würde prinzipiell jetzt immer gleichgesetzt mit Antisemitismus. Das stimmt ja so überhaupt nicht, das Gegenteil ist ja eigentlich der Fall. Niemand behauptet das, ich kenne niemanden von Sinn und Verstand, niemand aus der Forschung, niemand in den Medien – ich habe das auch empirisch überprüft an Hunderten von Texten – hat allen Ernstes jemals gesagt, legitime Kritik an israelischer Regierungspolitik sei Antisemitismus. Die Einzigen, die das behaupten, sind eigentlich diese Briefeschreiber. Also das ist ein Phantasma in den Köpfen.
Dann kritisieren sie extrem die international anerkannte Working Definition der IHRA (International Holocaust Remembrance) und sagen, sie sei nichts wert und man sollte sie nicht implementieren. Sie ist aber mittlerweile von 34 Ländern in der Welt und von fast allen renommierten Antisemitismusforschern und -forscherinnen in der Welt akzeptiert. Wir hatten 2018 einen Weltkongress gegen Antisemitismus, wo ausdrücklich am Ende dafür plädiert wurde, diese wichtige Definition, mit der auch Politiker gut arbeiten können, zu implementieren. Die wird permanent attackiert.
Dann heißt es, wir hätten einen inflationären Antisemitismusbegriff. Auch hier kann ich nur widersprechen, das Gegenteil ist der Fall: Immer häufiger haben wir beispielsweise Gerichtsurteile – das ist ja auch ein Fall in dem Brief, der aufgegriffen wird –, wo gravierende Fälle von Antisemitismus geleugnet oder umgedeutet werden, denken wir an das Wuppertal-Gerichtsurteil. Da hatten Jugendliche auf eine Synagoge, also ein Gebetshaus, Molotowcocktails geschmissen, und es wurde gesagt, das sei kein Judenhass, sondern nur politische Empörung. Oder der Elsässer-Ditfurth-Prozess: Obwohl die Texte von Elsässer eindeutig antisemitisch sind, wenn man die analysiert, in zweiter Instanz wurde das auch wieder delegitimiert.
Verdrehte Tatsachen
Karkowsky: Aber es geht ja unterschwellig auch immer wieder um die Israel-Boykott-Kampagne BDS, zu der der Bundestag ganz klar gesagt hat: Das ist Antisemitismus. Deswegen werden Leute, die das unterstützen, tatsächlich unter diesen Vorwurf gestellt. Auch Aleida Assmann wurde vom Antisemitismus getroffen, nachdem sie sich hinter den Kameruner Historiker Achille Mbembe gestellt hatte, und sie hat gestern Abend in unserer Sendung "Fazit" dazu Folgendes gesagt:
Aleida Assmann: Was wichtig wäre, ist, dass unterschieden wird – von einer Fundamentalopposition gegen den Staat Israel, den es gibt, die aber jetzt in Deutschland keine so große Rolle spielt, jedenfalls in den Verlautbarungen oder durch die Personen, die inzwischen aus dem Weg geräumt wurden. Diese würden diese Positionen nicht vertreten, sondern da ging es immer um konstruktive Positionen und einen wirklichen Willen zur Öffnung von Debatten, die so in Israel vielleicht ja auch nicht möglich sind, weil da die politischen Verhältnisse inzwischen anders liegen, aber diese Stimmen dennoch sehr wichtig wären.
Karkowsky: Aleida Assmann gehört ja auch zu den Unterzeichnern dieses Briefes – so ganz können Sie das ja nicht dementieren, dass es tatsächlich Antisemitismusvorwürfe gegeben hat.
Schwarz-Friesel: Doch, ich dementiere das ganz vehement. Es ist gut, dass Sie gerade diese seltsame Stelle von Frau Assmann, die sie oft auch in die Presse schon getragen hat, uns hier noch einmal vortragen, denn daran kann man sehr klarmachen, dass hier eine Derealisierung vorliegt – oder Ignoranz, das weiß ich nicht, ich kann nicht in den Kopf von Frau Assmann schauen. Klar ist, dass sie und viele andere ein massives Wahrnehmungs- und Akzeptanzproblem hinsichtlich der Realität und des Ausmaßes von aktueller Judenfeindschaft haben. Der Israel-bezogene Antisemitismus ist ohne jeden Zweifel die dominante Form, hier treffen sich alle Antisemiten.
Wenn sie sagt, wir brauchen eine Differenzierung: Entschuldigung, Frau Assmann, aber genau diese Differenzierung haben wir seit weit über zehn Jahren in der Forschung. Und wenn Sie sich vielleicht mal die Mühe gemacht hätten, diese Ergebnisse der Forschung zu rezipieren, dann würde sie so etwas nicht sagen. Davon bin ich überzeugt. Das ist eine kluge, gebildete Frau, und ich unterstelle ihr auch in keiner Weise, dass sie eine Antisemitin sei, aber sie verdreht hier ganz einfach Tatsachen. Wir unterscheiden glasklar, auch Herr Klein, der ja immer wieder deshalb kritisiert wird, völlig zu Unrecht …
Karkowsky: Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung.
Schwarz-Friesel: … der eine gute Arbeit macht und der tatsächlich sich auch auf fundierte und datenbasierte Forschungsergebnisse stützt, hat noch nie Antisemitismus und Kritik an Israel, sei sie auch noch so scharf, gleichgesetzt. Das mache ich nicht, das machen meine Kolleginnen und Kollegen nicht, das macht niemand.
Kritiker sind falsch informiert
Karkowsky: Doch, das macht die israelische Regierung, die ja nun zum Beispiel jede Kritik an den Siedlungen als antisemitisch brandmarkt. So funktioniert das doch in Israel, oder nicht?
Schwarz-Friesel: Nein, so funktioniert das in Israel nicht, und auch hier greife ich noch einen Punkt von Frau Assmann auf, die behauptet, in Israel seien die politischen Verhältnisse so, dass man womöglich nicht mehr offene Diskussionen führen könne. Entschuldigung, aber gerade die israelische Presse – das kann man jeden Tag auch wie in der deutschen Presse beobachten – kritisiert die Regierungspläne und Regierungspolitik so scharf wie kaum eine Presse sonst wo auf der Welt. Wir hatten gerade hier auch Demonstrationen in allen Städten gegen die Regierungspolitik. Also ganz sicher braucht dieses Land nicht die Unterstützung von Deutschen, um eine gute demokratische Politik zu machen.
Karkowsky: Das ist ein wichtiger Punkt. Was glauben Sie denn dann, wenn das so ist, wie Sie es sagen, warum dieser Brief, warum die Briefe vorher, warum dieser, warum hört das nicht auf?
Schwarz-Friesel: Weil hier ein Fundamentalfehler immer wieder seit Monaten oder Jahren passiert. Diese Personen und viele von ihnen – ich glaube ihnen sogar, dass sie ernsthaft besorgt sind, weil sie falsch informiert sind oder ideologisch in einer bestimmten Richtung gehen –, die verwechseln zwei fundamentale Phänomene, nämlich Nahostpolitik und den Umgang mit Nahostpolitik und der israelischen Regierung, und Antisemitismusbekämpfung.
Antisemitismusbekämpfung, das ist die Aufgabe des Beauftragten Herrn Dr. Klein und der Forschung. Wir würden niemals den Fehler begehen und sagen, dass der Nahostkonflikt die Ursache für Antisemitismus oder Israel-bezogenen Antisemitismus ist, das ist schlichtweg falsch. So eine Aussage entsteht nur aufgrund von Ignoranz. Ich untersuche seit 15 Jahren, wie sich Antisemitismus in Deutschland und der Welt artikuliert, und alle meine empirischen Forschungen zeigen immer wieder – und das hat uns auch gerade die Corona-Debatte sehr deutlich gezeigt –, ganz gleich, was Israel tut oder nicht tut, es wird von Antisemiten gleich welcher Couleur beschimpft, stigmatisiert und delegitimiert. Ja, jetzt bei Corona heißt es, Israel habe Covid-19 in die Welt gebracht, es wolle Geld scheffeln, es wolle alle Nichtjuden umbringen – das sind so krude Verschwörungstheorien. Das hat auch mit dem Nahostkonflikt nichts zu tun. Egal was Israel tut, selbst wenn es ganz positive Dinge sind, es werden sich immer Antisemiten finden, die das zum Negativen wenden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.