Robert Misik, 52, lebt als Publizist, Kurator, Videoblogger und Ausstellungsmacher in Wien. Er schreibt für den "Falter", ist Kolumnist der Berliner "tageszeitung" und betreibt auf der Website des Wiener "Standard" die Videokolumne "FS Misik". Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (Brandstätter Verlag). Misik ist Träger des österreichischen Staatspreises für Kulturpublizistik und des Preises für Wirtschaftspublizistik der John Maynard Keynes Gesellschaft.
Zur Verteidigung Europas verdammt
Europakritik – das scheint eine Sache des harten rechten Lagers geworden zu sein. Die Verteidigung Europas wird so zum Anliegen der Gegenseite. Eine Falle, sagt der Publizist Robert Misik. Für oder gegen Europa? Diese Frage sei viel zu grob.
Der Aufstieg des autoritären Nationalismus in Europa hat beinahe überall eine eigentümliche politische Spielanordnung zur Folge: Der rechte Autoritarismus attackiert die liberalen, pluralistischen Rechtsstaaten, er stellt regelrecht die zivilisatorischen Mindeststandards in Frage, während die demokratischen Parteien, Mitte-Links oder Mitte-Rechts, diese liberale Demokratie verteidigen. So weit, so gut und nachvollziehbar. Die absurde Folge allerdings: selbst die Linken werden dann zu Verteidigern des Bestehenden, die Rechtsradikalen haben das Monopol auf Gesellschaftsveränderung. Die Rechten haben wenigstens noch Ziele, könnte man sagen, wenngleich auch üble.
Diese Debattenordnung etabliert sich innerhalb der demokratischen Nationalstaaten Europas, aber noch mehr in der Europapolitik. Die Rechtsnationalisten positionieren sich antieuropäisch, weshalb sich die anderen proeuropäisch geben. Und proeuropäisch heißt dann oft: die eigene Kritik wird hintangestellt. Nicht groß geäußert. In der Rumpelkammer verstaut.
Die EU ist nicht nur lieb
Es ist dann alles nur mehr eine grobe Politik der Gefühle. Die Rechten mobilisieren Gefühle, wenngleich primär miese: Wir gegen Sie. Ungarn zuerst. Italien zuerst. Österreich zuerst. Mauern hoch, mir san mir. Und die anderen, die Modernen, Urbanen, eher weltoffen Gesonnenen, die Progressiven, die Internationalisten, sie setzen ihre Gefühle entgegen: das "wir sind für Europa"-Gefühl. Man konnte das schön an dieser "Pulse of Europe"-Bewegung sehen: Man traf sich auf zentralen Plätzen, hielt blaue Fähnchen mit gelben Sternchen hoch und hatte Europa lieb.
Das ist schon deshalb fragwürdig, da es ja viel an dieser Europäischen Union zu kritisieren gibt. Steuerdumping, Lohndumping, ein Nivellierungswettlauf nach unten, der mit so schönen Worten wie Standortwettbewerb oder Wettbewerbsfähigkeit behübscht wird. Die Auslieferung von Politik an technokratische Eliten, die dann pragmatisch irgendwelche Regeln überwachen und arrogant Zensuren verteilen, obwohl sie nie jemand gewählt hat. Die Austeritätspolitik, die Europa in den Jahren nach der Finanzkrise im Griff hatte, und an deren Folgen wir heute alle noch laborieren.
Der Finanzmarktkollaps wurde abgewendet, indem man die Vermögen der Vermögenden gerettet hat, wofür jetzt die normalen Leute zu zahlen haben. Dass Europa in nationale Missgunst abdriftete, fleißige Nordländer gegen faule Südländer und wie diese Karikaturen alle hießen, dafür, wir erinnern uns, brauchte es gar keine Rechtspopulisten. Und all das soll nicht mehr kritisiert werden? All das soll jetzt verteidigt werden, weil ja jetzt die Rechten Europa angreifen?
Nein, das ist viel zu grob: Für Europa sein, weil die Bösen gegen Europa sind. Und nicht einmal ungefähr ins Detail gehen, welches Europa da denn gemeint wäre.
Welche Europäische Union wollen wir?
Denn eines darf nicht übersehen werden: Dass die rechten Radaupolitiker, die Salvinis, Straches, Orbans, die Wedels und Le Pens einfach nur antieuropäisch sind, diese Zeit ist längst vorbei. Das waren sie, solange sie sich noch schwach fühlten. Solange wollten die Rechten Sand im Getriebe sein, insgeheim träumten sie wohl auch davon, die Union zu zerstören.
Heute aber hat sich ein neuer Block etabliert: weit rechts stehende Konservative wie etwa der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz sind in einer Allianz mit konservativen Nationalisten wie Viktor Orbán oder der polnischen PiS-Partei und den Rechtradikalen wie der FPÖ und der italienischen Lega. Sie sind nicht mehr bloß Anti, sie wollen die Europäische Union übernehmen. Der Rechtspopulismus zielt nicht mehr primär auf die Zerstörung der Europäischen Union ab – heute träumt er schon von einer rechtspopulistischen Europäischen Union.
Das ist aber dann der Augenblick, in dem nicht so sehr die Frage sein kann: Für oder gegen die Europäische Union. Die politische Frage hat zu lauten: Welche Europäische Union?