Riskante Gratwanderung − Anmerkung zum Tod von Walter Scheel
Von Winfried Sträter, "Zeitfragen"-Redakteur bei Deutschlandradio Kultur
Historische Erinnerung ist bisweilen höchst ungerecht. "Hoch auf dem gelben Wagen": das verbinden wir heute mit Walter Scheel, weil er als Präsident dieses Lied sang und damit Volkstümlichkeit erringen wollte. Viel bedeutsamer war, was er Ende der 60er-Jahre politisch leistete: Die FDP war damals noch eine Partei, die weniger liberal als national war, ehemalige Nationalsozialisten hatten sich nach 1945 dort breit gemacht. Scheel schaffte es, zusammen mit liberalen Nachwuchspolitikern, in den 60er-Jahren die Partei davon zu lösen und zu liberalisieren. In einer höchst riskanten Gratwanderung öffnete er sie für die sozialliberale Koalition und die neue Ostpolitik. Die war damals überfällig, aber nur mit einem Machtwechsel in Bonn zu erreichen. Das geschafft zu haben, war seine größte politische Leistung. Wenn ihm das nicht gelungen wäre, wäre nicht nur die westdeutsche, sondern die deutsch-deutsche Geschichte anders verlaufen. Fast 50 Jahre ist das her – heute ist Scheel im Alter von 97 Jahren gestorben.
Abschied von einem, der für seine politischen Ziele brannte
Der Ex-Bundespräsident Walter Scheel ist tot, Weggefährten und Zeitgenossen nehmen Abschied von ihm. Er sei endlich von seiner schweren Krankheit erlöst worden, sagt der Liberale Gerhart Baum. Er würdigt Scheels Verdienste für Deutschland und Europa.
Mit Walter Scheel geht einer der ganz Großen der Politik der alten Bundesrepublik. Gerhart Baum ist langjähriger Liberaler, ehemaliger Bundesinnenminister und langjähriger Weggefährte von Scheel. "Ich habe gespürt, dass er die FDP verändern wollte", sagt Baum im Deutschlandradio Kultur. "Sein entscheidendes historisches Verdienst war, dass er in der Wahlnacht '69 das Bündnis mit den Sozialdemokraten - genauer gesagt mit Willy Brandt - geschmiedet hat, für eine sozialliberale Koalition, die dann 13 Jahre regiert hat." Er war eine Frohnatur, meint Baum heute, die den Genüssen des Lebens gegenüber offen war. Doch vor allem sei er ein Politiker gewesen, der für bestimmte Ziele brannte - durchaus liebenswürdig, doch auch in der Lage, seine Ziele mit einer gewissen Härte durchzusetzen.
Scheel bekleidete das Amt des Bundespräsidenten für eine Amtsperiode. "Er hat das Land gut repräsentiert", meint Baum. Doch sein eigentliches politisches Handeln, das habe in der Zeit davor stattgefunden − Bundespräsident zu sein, sei so etwas wie der Abschluss seiner Karriere gewesen.
Heute sei vieles von dem verloren gegangen, wofür Scheel sich eingesetzt habe, meint Baum mit Blick auf Europa; so sei Scheel auch eine Schlüsselfigur im deutschen Einigungsprozess gewesen. In seinen letzten Jahren sei Scheel dahingesiecht; aus diesem Siechtum sei er nun erlöst worden. "Er war für uns nicht mehr da", sagte Baum.
Hören Sie hier das vollständige Gespräch:
Bundespräsident Joachim Gauck würdigte seinen Amtsvorgänger als überzeugten Europäer. "Schon früh hat er die Bedeutung einer europäischen Integrationspolitik für unser Land erkannt. Mit seiner Ost- und Europapolitik hat er sich bleibende Verdienste für die Verständigung und Versöhnung auf unserem Kontinent erworben", sagte Gauck. In der Zeit des RAF-Terrorismus habe sich Scheel zudem maßgeblich dafür eingesetzt, "dass Rechtsstaat und freiheitliche Demokratie nicht vor ihren Gegnern kapitulierten".
Bundesratspräsident Stanislaw Tillich (CDU) würdigte Scheel als Brückenbauer zwischen Politik und Bürgern gewürdigt. Auch nach seiner aktiven politischen Zeit sei Scheel ein "überzeugter und überzeugender Europäer und deutscher Weltbürger" geblieben, der sich für internationale Belange genauso wie für Kunst und Kultur engagiert habe, sagte der sächsische Ministerpräsident am Mittwoch in Dresden. "Deutschland hat einen Liberalen der ersten Stunde und Staatsmann verloren", sagte Tillich.
Scheel starb am Mittwoch im Alter von 97 Jahren. Das teilte ein FDP-Sprecher unter Berufung auf das Bundespräsidialamt mit.
Scheel war von 1961 bis '66 in der Regierung von Konrad Adenauer (CDU) Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und in der Regierung von Willy Brandt (SPD) von 1969 bis '74 Bundesaußenminister sowie Vizekanzler. Von 1974 bis '79 bekleidete er das Amt des Bundespräsidenten.
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