Rébecca Dautremer: "PUNKT 12"
Übersetzt aus dem Französischen von Andrea Spingler
Insel, Berlin 2020
212 Seiten, 48 Euro
Eine Hommage an das Warten
06:12 Minuten
Vordergründig handelt dieses tiefgründige Kinderbuch von der Verabredung zweier Liebenden. Hintergründig geht es um die hohe Kunst des Wartens. Rébecca Dautremer erzählt diese Geschichte in 100 ausgestanzten Bildern.
Warten ist das "Erleben von Zeit", sagen Soziologen. Aber wie man diese Zeit rumbringt, erlebt jeder anders: Mal vergeht die Zeit rasend schnell, dann wieder zäh und langsam. Dem einen gelingt es gut zu warten, dem anderen hingegen fällt es eher schwer.
Dann wieder freut man sich und kann das Erwartete kaum abwarten. Oder man ist aufgeregt und hat Angst. Warten ist also eine hochkomplexe Angelegenheit. Es geht um Zeitwahrnehmung, es geht um die innere Verfassung des Wartenden, um seine Gefühle.
Warten ist nicht leicht
Rébecca Dautremer hat dazu jetzt ein bezauberndes Kinderbuch ab 6 Jahre verfasst. "PUNKT 12" heißt es und ist gleich auf mehreren Ebenen genial.
Denn die Französin beschreibt nicht nur, was Warten alles bedeutet und welche Gefühle es auslöst, sondern sie zeigt auch bildlich, was auf dem Weg hin zum Erwarteten alles passieren kann. Wo man losgeht, an wem man vorbeigeht, wo man abbiegt, ob man noch jemanden trifft und so weiter.
In über 100 ausgestanzten Seiten begleiten die Lesenden Sweety, eine Kaninchendame, zu ihrer Verabredung mit ihrem Freund Jacominus Gainsborough. Jacominus ist Seemann und um Punkt 12 legt sein Schiff ab. Bis dahin muss Sweety da sein.
Der Kniff dieser meisterhaften Bilderbox
Jedes Bild baut auf dem davor auf. Und so taucht man tiefer ein in diese fünf Zentimeter dicke Bilderbox, deren Seiten sehr filigran gezeichnet und geschnitten sind. Jedes Detail ist hier wichtig. Die Uhr, die Blumen, die Büsche, die Türen, die Häuser. Alles in Farbe gemalt. Millimeter genau ausgeschnitten. Allein das gibt dem Buch einen kunstvollen Charakter, zwingt einen aber auch, langsam zu blättern, das Warten also selbst zu erleben.
Schritt für Schritt begleiten wir Sweety: raus aus ihrem Bett, aus dem Haus, durch den Garten, in den Wald, hin zur Stadt, durch die Gasse, vorbei an Marktständen und einem Zirkus hin zum Hafen. Hinter jedem Bild ändert sich was, taucht etwas oder jemand auf, Freunde oder Bekannte, die Sweety aufhalten könnten auf ihrem Weg.
Aus Sicht des Wartenden erzählt
Jacominus, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, wartet indessen sehnsüchtig. Hoffentlich schafft es Sweety rechtzeitig, bevor sein Schiff ablegt.
Es ist ein schlauer Zug dieser begnadeten Bilderbuchmacherin, dass sie Jacominus' Sicht wählt. Seine Sehnsucht, seine Gedanken darüber, was Sweety auf dem Weg zu ihm alles erlebt, geben diesem Buch seine ganz besondere Dringlichkeit und machen erlebbar, was Warten wirklich bedeutet.
Beim Betrachten bangt man mit
Dieses flaue Gefühl, es könnte was schief gehen. Sein Wissen um Sweety, was sie gerne macht, mit wem sie gerne plaudert, all das mischt sich mit seinen Gedanken und Sorgen, ob berechtigte oder unberechtigte, und treibt die Geschichte voran.
Man bangt mit ihm, bittet Sweety innerlich um Eile und ist dennoch begeistert über das, was auf der nächsten Seite passiert – auch wenn es vielleicht eine Verzögerung bedeutet.
Beste Bilderbuchkunst
Herausgekommen ist nicht nur ein kunstvolles Bilderbuch, über das man klug ins Gespräch kommt, sondern auch eine Hommage an das Warten an sich, auf das Aushaltenkönnen und das Sehnen (fernab jedes Smartphones). Und darauf, wie wunderbar es ist, wenn sich alles erfüllt.
Ganz am Ende, als Jacominus Sweety endlich in den Armen hält und sich verabschiedet, beginnt dann alles wieder neu: denn er bittet sie, auf ihn und seine Rückkehr zu warten.