Rebecca Solnit (Hg.): "Nonstop Metropolis. Ein Atlas in Worten"
Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Münch, Kathrin Razum und Kirsten Riesselmann
Hofmann und Campe, Hamburg 2019
240 Seiten, 24 Euro
Wo die Stadt ungezähmt und nicht-rational ist
05:52 Minuten
Waschbären in New York, "falsche" Hautfarben in San Francisco, Zucker in New Orleans: Die Essays in "Nonstop Metropolis" holen bisher wenig beachtete Seiten dieser Städte ans Licht - spannend, originell und aufschlussreich.
New York ist mit etwa 8,5 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt der USA. Doch einen ihrer Essays über den "Big Apple" beginnt Rebecca Solnit, indem sie über andere Stadtbewohner schreibt: Tiere. Sie berichtet von über 200 Vogelarten, die im Central Park leben, von Waschbären und Stinktieren, sogar von Walen, die sich vor der Küste blicken lassen, und von Ratten, Küchenschaben, Tauben und Bettwanzen. Sie alle bildeten die ungezähmte, die nicht-rationale Nachtseite dieser pulsierenden Stadt.
Wenig Beachtetes sichtbar machen
Solch ein ungewöhnlicher Zugriff auf die Ostküstenmetropole passt ausgezeichnet zu dieser Schriftstellerin, die nicht nur für ihre eleganten Essays bekannt ist, sondern auch als originelle Denkerin, Aktivistin und Feministin. Wenig Beachteten eine Stimme zu geben und wenig Beachtetes sichtbar zu machen, kennzeichnet folgerichtig Solnits Trilogie über die Metropolen San Francisco, New Orleans und New York. Im Original zunächst einzeln (2010, 2013, 2016) und jetzt schließlich gemeinsam publiziert, liegt eine Auswahl der inspirierenden Essays nun erstmals auf Deutsch vor.
Die 20 Texte stammen von Rebecca Solnit selbst und von ihren Co-Autorinnen und -Autoren, darunter Aktivistinnen und Aktivisten, Soziologinnen und Soziologen, Linguistinnen und Linguisten sowie Künstlerinnen und Künstlern. Dementsprechend divers sind Perspektiven und Herangehensweisen: Mal steht die Musikszene einer Stadt im Mittelpunkt, mal wirtschaftliche Verflechtungen (und Verfilzungen), mal es geht um Sozial- oder Kulturgeschichte, mal um Geologie, um Stadtplanung und Architektur oder um Ureinwohner, neu Zugezogene und Immigranten.
Haarsträubend und augenöffnend
Haarsträubend spannend etwa liest sich, wie Joshua Jelly-Schapiro New York als "käufliche Hauptstadt" beschreibt und dabei einen Bogen schlägt, der von 1624, als Vertreter der Niederländischen Westindien-Kompanie die Indianer zum Landverkauf überredeten, bis ins Heute reicht, wo neue, irrwitzig teure Luxuswohnungen nur noch von russischen Oligarchen oder saudischen Prinzen zu bezahlen seien. Wie der Autor nebenbei noch das Finanzwesen erläutert – von der Gründung der Wall Street bis zur Pleite der Lehman Brothers – ist brillant.
Ähnlich fesselnd schreibt Shirley Thompson über die Bedeutung des Zuckers und Antonia Juhaz über die des Öls für New Orleans, während Adriana Camarena mit Bandenmitgliedern und Tagelöhnern "die Unsichtbaren" San Franciscos porträtiert oder Guillermo Gomez-Pena in seinem luziden Essay konstatiert, dass seine Haut mancherorts "den falschen Braunton" hat. Und wenn sich Rebecca Solnit schließlich ein New Yorker U-Bahn-Netz ausmalt, dessen Stationen nicht durchweg nach weißen Männern benannt sind, dann ist das augenöffnend.
Leider hat der deutsche Verlag auf das reiche Kartenmaterial der Originalausgaben verzichtet und bietet auch keinerlei biografische Informationen zu den (in Deutschland kaum bekannten) Autorinnen und Autoren. Dennoch: Diese bis in historische Tiefenschichten bohrenden Städteporträts gehören mit zum Besten, was das Genre zu bieten hat.