Rebecca Solnit: "Unziemliches Verhalten. Wie ich Feministin wurde"
Übersetzt von Kathrin Razum
Hoffmann und Campe/ Hamburg 2020
272 Seiten, 23 Euro
Die feministische Denkerin der Stunde
06:07 Minuten
Rebecca Solnit musste ihre Stimme erst finden, heute wird die Feministin weltweit gelesen. Wie sie ihren eigenen Befreiungs- und Selbstfindungsprozess von der persönlichen auf eine gesamtgesellschaftliche Ebene hebt, ist brillant.
Einen einzigen Morgen brauchte Rebecca Solnit, um ihren berühmtesten Essay zu schreiben. "Wenn Männer mir die Welt erklären" floss ihr 2014 nach eigenem Bekunden geradezu aus der Feder, und das weltweite Echo war für die Schriftstellerin selbst eine Überraschung.
So viele Frauen berichteten von ihren Erfahrungen mit männlichem, besserwisserischem Dominanzgehabe – ungeachtet der Expertise des weiblichen Gegenübers –, dass sogar ein eigener Begriff entstand: Mansplaining.
Frauenfeindliche Strukturen
Tatsächlich war dieser folgenreiche Essay mehr als die Ausbeute einiger besonders kreativer Morgenstunden. Das zeigt das neue, autobiografische Buch der 1961 in Bridgeport, Connecticut, geborenen Autorin. Darin beschreibt Rebecca Solnit ihren Werdegang zur politischen Aktivistin als mühevollen Befreiungsschlag aus restriktiven, frauenfeindlichen Strukturen in ihrer Familie und in der Gesellschaft.
"Unziemliches Verhalten" setzt ein, als Solnit Anfang 20 ist; eine schüchterne, spindeldürre Person, die ihre erste eigene Wohnung in San Francisco bezieht. Diese wird zum Schneckenhaus, das sie fortan wandernd umkreist.
Schon als Studentin ist sie eine passionierte Spaziergängerin und schließt Freundschaften in ihrem bunten Viertel. Aber sie macht auch fortwährend die Erfahrung, keine eigene Stimme in einer männlich dominierten Gesellschaft zu haben.
Angemacht, belästigt, nicht beachtet
Es sind starke Passagen, in denen die Autorin ihre Sprachlosigkeit als junge Frau beschreibt, wenn sie von Arbeitskollegen, Kommilitonen, Partybekanntschaften oder später auch Verlegern angemacht, belästigt, nicht beachtet oder nicht für voll genommen wird.
Von Beginn an - auch weil ihre Freundinnen ähnliche, mitunter auch drastische Gewalt-Erfahrungen machen - versteht Solnit ihre weibliche "Nicht-Existenz" (so der Originaltitel) nicht als persönliches Problem, sondern als strukturell bedingt.
Schließlich sind es Künstlerinnen und Künstler, Unangepasste, Außenseiterinnen, Schwarze und queere Menschen, die Solnit neue Wege aufzeigen und sie ihre eigene Sprache finden lassen. Fern vom Mainstream beginnt die 30-Jährige, sich zunächst als Journalistin und schließlich als Schriftstellerin für die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Rechte der amerikanischen Ureinwohner und eine intakte Umwelt einzusetzen.
Im Jahr 2000 schreibt sie mit "Wanderlust" eine Geschichte des Gehens und direkt danach "Die Kunst, sich zu verlieren. Ein Wegweiser". Beide Bücher werden auch in Deutschland sehr erfolgreich, letzteres erscheint aktuell gar in einer Neuausgabe. Auch darin erzählt sie vom Sich-Finden in einer fremden Umgebung.
Das Lebensthema auf der politischen Agenda
Es scheint, Rebecca Solnit ist die Denkerin der Stunde! Ihre Themenvielfalt ist bestechend und es ist brillant, wie sie ihren eigenen Befreiungs- und Selbstfindungsprozess von einer rein persönlichen Ebene - auch die gibt es, wenn sie etwa von ihrem gewalttätigen Elternhaus berichtet - auf eine gesamtgesellschaftliche hebt.
Anfangs hieß es, sie übertreibe, wenn sie von weit verbreiteter Misogynie spreche. Mittlerweile hat der Diskurs sie eingeholt und ihr Lebensthema auf die politische Agenda gesetzt. So sind Solnits "Memoiren" ein Buch, das Mut macht, und "Die Kunst, sich zu verlieren" lädt ein, umherschweifend ins Unbekannte vorzudringen.
Rebecca Solnit: "Die Kunst, sich zu verlieren. Ein Wegweiser"
Übersetzt von Michael Mundhenk
Matthes & Seitz / Berlin 2020
250 Seiten, 22 Euro