Rebecca Stott, Erlöst. Mein Weg aus der Sekte
Deutsch von Werner Löcher-Lawrence
btb-Verlag 2020
382 Seiten, 22 Euro
Totale Unterwerfung
06:45 Minuten
Die britische Schriftstellerin Rebecca Stott ist völlig abgeschottet in einer fundamentalistischen Bruderschaft aufgewachsen. Was sie aus dieser Zeit der totalen Abhängigkeit erzählt, weist erschreckende Parallelen zur politischen Gegenwart auf.
Sie hatte Shakespeare gelesen. Hatte in fasziniertem Staunen auch die Evolutionstheorie von Charles Darwin verschlungen, die doch von ihren Leuten als Teufelswerk verflucht worden war. Sie hatte mit den Jungs im besetzten Haus gegenüber Marihuana geraucht, war schwanger geworden, selbst noch ein halbes Kind, hatte sich schließlich ganz aus den fensterlosen Wellblechcontainern ihrer Glaubensgemeinschaft, der Brethren (deutsch: Brüder) in England, befreit und war eine neugierige und weltoffene Frau geworden, Schriftstellerin und Journalistin.
Aber als ihr Vater sich todkrank in das Gemäuer einer alten Mühle zurückzog, um dort, umnebelt von Morphium in immer höheren Dosen, seine Geschichte als Prediger und schließlich seinen Bruch mit der totalitären Sekte zu rekonstruieren – da spürte die Autorin Rebecca Stott, dass die Dämonen ihrer Kindheit und Jugend immer noch da waren.
Die knotige Hand des Vaters
"Im Zwielicht über den Feldern konnte ich in der Ferne eine Bewegung sehen, ein aufblitzendes Weiß vorm Dunkel der Bäume", heisst es in dem Buch. "Es war eine Schleiereule, die tief durch die Dämmerung flog, dem Lauf des Flusses folgte und direkt auf die Mühle zuhielt, direkt auf uns. Ich ging den langen Korridor zu meinem rasselnd atmenden Vater hinunter. Mein Bruder saß bei ihm und las Zeitung. 'Er kommt', sagte ich. Ich habe keine Ahnung, wen ich damit meinte. Mein Bruder legte die Zeitung zur Seite, ich öffnete das Fenster, und wir beide nahmen eine knotige Hand meines Vaters – gerade, als die Eule an der Tür zur Mühle vorbeiflog und mein Vater seinen letzten Atemzug tat."
Der Vater hatte die Tochter gebeten, seine Erinnerungen festzuhalten. Vielleicht, um Buße zu tun, um andere zu warnen, vielleicht auch, um sich selber Klarheit darüber zu verschaffen, wie sein Leben so hatte scheitern können – ein gebildeter Mann, wohlhabend und einflussreich, aber dann: im Gefängnis als Betrüger, ein Alkoholiker, rettungslos dem Glücksspiel verfallen. Einer, mit dem es nur noch bergab ging.
Doch so sehr er sich quälte: Über die Sechzigerjahre kam er nicht hinaus. Der Vater verglich sie mit dem totalitären Regime der Nazis. Es war die Zeit, in der die dem Rest der Welt ohnehin feindselig gegenüberstehende Bruderschaft unter ihrem neuen Führer, dem Amerikaner James Taylor Junior, dazu überging, ihre Mitglieder vollständig abzuschotten. Kein Kontakt mehr zu Nicht-Gläubigen, keine Bücher, keine Mischehen; nicht mal essen durften sie, wenn sie nicht unter sich waren. Denn überall lauerten die angeblichen Versuchungen des Satans. Was Taylor von seinen so genannten "Exclusive Brethrens" forderte, war die totale Unterwerfung. Was er versprach: Erlösung, Entrückung – während alle anderen der Verdammnis preisgegeben waren.
Muster der Abhängigkeit und Unterdrückung
"Das Problem ist, wenn man den Menschen weismacht, dass diese Welt nichts als ein Warteraum für die nächste ist, hassen sie sie am Ende", schreibt Scott. "Wenn man den Menschen beibringt, dass der Satan alle außerhalb ihres Versammlungsraums benutzt, um ihnen die Entrückung zu verderben, denken sie, die Leute da draußen sind allesamt Betrüger und Teufel oder zumindest vom Bösen infiziert. Und wenn die versprochene Entrückung dann nicht kommt, werden sie sehr bald paranoid, ungeduldig und besessen."
Der Vater, ein mächtiger Mann unter den englischen Brethren, machte mit – bis 1970. Bis Taylor mit der Frau eines Glaubensbruders im Bett erwischt wurde, sturzbesoffen, und dazu noch versuchte, die Schande als besondere Prüfung für seine Anhänger hinzudrehen. Viele machten trotzdem weiter, viele noch radikaler als zuvor – Stotts Vater aber verlor den Boden unter den Füßen. Er sollte noch fast 40 Jahre leben, doch seine Existenz war gebrochen.
Die Tochter ist Jahrgang 1964, und sehr schnell wurde ihr klar, dass es auch ihre eigene Geschichte war, die sie da aufschrieb. Und weil sie längst eine versierte Reporterin und Essayistin war, sammelte und sortierte sie nicht nur, was ihr Vater ihr in Notizbüchern und Aktenschränken hinterlassen hatte, sondern machte sich selbst auf die Suche, recherchierte, fragte andere Abtrünnige und solche, die dabei geblieben waren. Und entdeckte, dass die Muster der Unterdrückung auch der Wissenschaft vertraut waren.
Völlige Aufgabe des eigenen Willens
Stanley Milgram zum Beispiel. Der amerikanische Psychologe hatte in einer Reihe sehr einfacher Experimente gezeigt, wie leicht sich Menschen von einer Autorität lenken lassen. Bis zur völligen Aufgabe ihres Willens, ihrer Werte, ihrer Menschlichkeit. Bei Milgram war es der blinde Gehorsam gewesen, in dem ein ganzes, hochzivilisiertes Volk den Drohungen und Verlockungen der Nazis folgte – bei Stott sind es ganz normale Menschen der englischen Mittelschicht, die auf einmal ausscheren und kaum noch zurückzuholen sind.
"Es gibt Psychologen, die auf die Behandlung von Ex-Kult-Mitgliedern nach langen Phasen der Gedankenkontrolle spezialisiert sind", schreibt die Autorin. "Einer von ihnen sagte mir, dass es manchmal Jahre brauche, um seinen Klienten ein Normalmaß an Skeptizismus zu vermitteln. Er muss sie immer wieder daran erinnern, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, Dinge zu betrachten. Er muss ihnen helfen, wieder selbst denken zu lernen."
Was Stott nachzeichnet, ist die sehr persönliche Geschichte einer Emanzipation aus totaler Abhängigkeit. Das allein macht das Buch zu einer fesselnden Lektüre. Was aber beim Lesen manchmal den Atem raubt, sind die Parallelen zu einer Gegenwart, in der immer mehr Hassprediger, Hetzer und politische Demagogen ihre Anhänger vor sich hertreiben, wie es ihnen gefällt.