Rebellion der Wutbürger

Von Stefan Keim |
"Graf Öderland" ist ein Psychothriller und ein Traumspiel. Es steckt viel Hitchcock in diesem frühen Max Frisch, eine Mischung aus sarkastischer Ironie, Spannung sowie existenzialistischer Philosophie. Es gelingt dem Essener Ensemble, auf dem schmalen Grat zwischen Farce und Drama zu wandeln.
Der Staatsanwalt will keinen Urlaub machen. Ein paar Wochen weg, ein bisschen Entspannung, das bringt ihm nichts. Weil etwas Grundsätzliches schief läuft. Der Beamte, berühmt für seine einfühlsamen Verhöre, vertritt die Anklage gegen einen Mörder. Völlig grundlos hat der mit einer Axt einen Unschuldigen erschlagen. Der Staatsanwalt versteht das, greift selbst zur Axt und zieht als mythischer "Graf Öderland" durch die Welt. Wer sich ihm in den Weg stellt, wird zerhackt. Max Frisch hat 15 Jahre lang an diesem Stück gearbeitet, es war für ihn zentral. Nun hat das Schauspiel Essen diesen Text ausgegraben, weil er perfekt in den Spielplan passt, der sich mit Widerstand und Wutbürgern beschäftigt.

Gleichsetzen lässt sich die Rebellion des Staatsanwaltes nicht mit heutigen Protesten gegen Stuttgart 21 oder Castor-Transporte. Da ist zwar zunächst der Impuls, die vorhandene Ordnung nicht mehr einfach hinzunehmen, die Welt so zu gestalten, wie sie einem lebenswert erscheint. Doch was da in Frischs Helden ausbricht, sind atavistische Triebe, Charakterzüge des Menschen, die in der Zivilisation eingedämmt werden. Der Staatsanwalt will weder Pflichten noch Grenzen akzeptieren, sondern radikal frei sein. Einfache Leute lassen sich von ihm mitreißen, die Säulen der Gesellschaft sind lächerliche Popanze. Niemand hält den Rebellenführer auf. Als er in die Residenz der Herrschaft eindringt, jubeln ihm die Massen zu. Ohne zu wissen, was dieser Graf Öderland eigentlich will. Wie auch? Er hat ja selbst keine Ahnung.

Satirisch pointiert beschreibt Max Frisch wie eine diffuse Mischung aus Angst, Sehnsucht und Inkompetenz erst ins Chaos und dann zum Machtwechsel führt. Gleichzeitig ist "Graf Öderland" ein Psychothriller und ein Traumspiel. Fast scheint es so, als wäre alles nur in der Fantasie des Staatsanwaltes geschehen. Doch das ist nicht die letzte Wendung des Stückes. Es steckt viel Hitchcock in diesem frühen Max Frisch, eine Mischung aus sarkastischer Ironie, Lust an Schock und Spannung sowie existentialistischer Philosophie. Das Stück sperrt sich gegen einfache Lesarten, bleibt vielschichtig, krude - und eben das ist seine Stärke. Wenn man glaubt, sich auf eine Sichtweise setzen zu können, rammt man sich einen Stachel in den Hintern.

Konstanze Lauterbach stellt die "Moritat in zwölf Bildern" in ihrer Doppelbödigkeit auf die Bühne. Die schräge Bühnenfläche mit kreisrundem Loch in der Mitte ermöglicht viele Verwandlungen. Beim Staatsbankett liegt ein großer Teppich mit aufgemaltem Buffet auf der von Kathrin Frosch entworfenen Bühne, Politiker, Generäle und Kulturträger krabbeln grotesk darauf herum. Und am Ende wird der kraftvolle Jan Pröhl als Staatsanwalt in Tücher eingewickelt, die an Schleppen von Königsroben erinnern. Nur das entsetzte Gesicht bleibt frei, die Macht hüllt ihn ein, erstickt den eigenen Willen, der Sieg ist die schlimmste aller Strafen.

Leider kippt die Regisseurin auch angestaubte Regietheaterästhetik in diese Aufführung und nimmt ihr dabei einiges an Wirkung. Die für Konstanze Lauterbach typischen expressiv-übersteigerten Bewegungen wirken in vielen Szenen manieriert und lenken vom Kern der Sache ab. Vor der Pause lässt sie die Schauspieler in einer Reihe an der Rampe stehen und Goethes "Zauberlehrling" chorisch skandieren, flüstern und brüllen. Und das so lange, bis der letzte verstanden hat, dass auch dem Staatsanwalt die Geister, die er rief nicht mehr gehorchen. Fehlt nur noch, dass wir jetzt die Hefte raus holen und eine Klassenarbeit schreiben müssen.

Doch jenseits dieser Mätzchen gelingt es Konstanze Lauterbach und dem Essener Ensemble, auf dem schmalen Grat zwischen Farce und Drama zu wandeln, ohne in eine Richtung abzustürzen. Max Frischs Stück ist über 50 Jahre alt, es kann hier und da einen kräftigen Zugriff der Regie vertragen. Aber sein Kern betrifft uns immer noch, die Absage an eine Gesellschaft, in der Wut, Leidenschaft und Lust auf ein Mittelmaß reduziert werden. Irgendwann nimmt sich einer die Axt und zieht durchs Land. Graf Öderland wird zum Symbol des Widerstandes und wundert sich, dass er selbst auf keinen Widerstand trifft. Weil der Staat im Inneren leer ist, die Ordnung nur noch eine Hülle, die sofort wackelt, wenn jemand dagegen schlägt. Und doch beginnt eine Deformation, die immer heftiger wird, je näher der Rebell an die Macht kommt. Der Mensch ist nicht zur Freiheit fähig. Aber er wird immer wieder, um sie kämpfen. Das ist die bittere Absurdität, die Max Frisch dem Publikum entgegen schleudert.

Schauspiel Essen