"Recht gegen rechts. Report 2020"

Bestandsaufnahme der Justiz

09:16 Minuten
Buchcover: "Recht gegen Rechts. Report 2020" von Nele Austermann, Andreas Fischer-Lescano, Wolfgang Kaleck, Heike Kleffner, Kati Lang, Maximilian Pichl, Ronen Steinke, Tore Vetter
Die Herausgebenden von "Recht gegen Rechts" laden zur Einsendung von Justizentscheidungen ein, die noch keine öffentliche Beachtung gefunden haben. © Fischer Verlag / Deutschlandradio
Von Esther Dischereit |
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Wie geht Deutschland juristisch mit rechtsextremen Taten und mit rechtsextremer Gewalt um? Mit dem Report „Recht gegen Rechts“ soll es dazu künftig einen Jahresbericht geben.
Demokratiefeinde sind sie hier alle, die rechten Lebensschützer und Lebensschützerinnen, Antisemiten, Rassisten, Neonazis und die anderen, die die Gerichte beschäftigen. Und manchmal sitzen die Akteure nicht vor den Schranken des Gerichts, sondern sprechen Recht.
Im Zusammenhang einer rechten bis rechtsextremistischen Präsenz in den Parlamenten ein Zustand, der zu denken gibt, wie es auch zu denken gibt, wenn bei dem Gedenkakt der Stadt Zwickau für die Opfer des NSU – hier lebten die Täter unbehelligt – der Gerichtspräsident keine Zeit hat.

Es war der 4. November 2011, als sich der NSU, der Nationalsozialistische Untergrund, selbst enttarnte. Das Urteil gegen fünf Angeklagte des NSU vor dem Oberlandesgericht in München war im Juli 2018 ergangen, in schriftlicher Form am 21. April 2020. Mit der Darstellung des NSU als Trio blieb die Einbindung in ein Neonaziterrornetzwerk ohne Befassung, sodass es eine quasi "ahistorische" Erscheinung blieb. Antonia von der Behrens legt das in ihrem Beitrag noch einmal dar.
Bis zu 30 V-Personen im Umfeld der rechtsterroristischen Gruppe waren von investigativen Journalisten und Journalistinnen und Nebenklagevetretern und Vertreterinnen ausgemacht worden und ein Mitverschulden der Behörden nicht von der Hand zu weisen.
Die Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses in Thüringen, Dorothea Marx, heutige Vizepräsidentin des Thüringischen Landtags, wies vor zwei Jahren schon daraufhin, dass auch die Justiz unbedingt beachtet werden müsse. Sie hatte recht.

Der Handlungswille der Justiz

Dass dies nicht nur im Zusammenhang eines über fünf Jahre geführten Mammutverfahrens von Belang ist, stellt der "Recht gegen Rechts. Report 2020" eindrücklich dar. Es ist ja dringend notwendig, sich die Frage nach dem rechtsstaatlichen Handlungswillen der Justiz zu stellen, wenn wie im Zusammenhang der rechtsradikalen Gewalt in Chemnitz im Sommer 2018 die Bilanz strafrechtlicher Bearbeitung mager ausfällt.
Tausende organisierte Neonazis, Hooligans und AFD-Kader hatten die Stadt nach dem gewaltsamen Tod eines deutsch-kubanischen Kochs in eine Gefahrenzone "für all diejenigen verwandelt, die im Feindbild der extremen Rechten als ´anders` markiert sind". Und weiter: "Von 104 durch die Zentralstelle Extremismus Sachsen geführten Ermittlungen blieben 18 rechtskräftige Verurteilungen übrig", Ermittlungen wegen des Überfalls einer Neonazigruppe auf das jüdische Restaurant "Schalom" sind eingestellt.
Als am 1. September 2018 eine Solidaritätsveranstaltung mit den Opfern der Angriffe stattfindet, wird eine teilnehmende Marburger-Gruppe, organisiert vom dortigen SPD-Abgeordneten Sören Bartol, von 15 bis 20 Neonazis angegriffen. Seither werde ermittelt, heißt es von der Staatsanwaltschaft Chemnitz. Die Betroffenen machen sich keine Illusionen.
"Schließlich ist es kein Geheimnis, dass auch bei anderen rechten Gewalttaten die Strafverfahren nach Paragraf 170 Strafprozessordnung ergebnislos eingestellt wurden, obwohl die Strafverfolgungsbehörden Tatbeteiligte namentlich ermittelt hatten", bilanziert Heike Kleffner.

Gefährdungspotenziale für die Demokratie

Mit der Frage "Wie sturmfest ist das Grundgesetz?" diskutiert Maximilian Steinbeis, ob die Verfassungsordnung Deutschlands ähnlich verletzlich sein könnte, wie es die Regierungen in Ungarn, Polen und an anderen Orten in ihren Ländern mit einer umgehend eingefädelten Demontage der Unabhängigkeit der Justiz bereits vorführten. Und ob hier rechtzeitig Vorsorge zu treffen sei.
Im Gegensatz zum Grundgesetz sieht der Autor über den Hebel des Verfahrensrechts ein mögliches Einfallstor für eine in diesem Fall nur notwendige einfache Regierungsmehrheit im Bundestag. Es liegt auf der Hand, welches Gefährdungspotenzial für die prinzipiell "zerbrechliche Demokratie" hier lauert.
"Recht gegen Rechts" versammelt eine Sammlung wichtiger Entscheidungen. Ob es im Einzelfall darum geht, dass ein Whirlpool- und Hotelbesitzer den NPD-Funktionär Udo Voigt nicht als Gast begrüßen wollte, ein Berufsschullehrer sich gegen einen im Klassenraum "Sieg-Heil"-rufenden jungen Erwachsenen verwahrt und Anzeige erstattet, Renate Künast Hate Speech ertragen soll oder der NPD die Finanzierung von 850.000 Euro aus dem Staatshaushalt entzogen werden kann – von Entscheidungen zu Racial Profiling, der rechtmäßigen fristlosen Kündigung bei Daimler Untertürkheim wegen rassistischer Hetze gegen einen Kollegen bis zum zögerlichen Verbot von Combat 18 und der rassistischen Rede des Ex-Schalke-Boss Tönnies.
Hier werden Beiträge versammelt, die sich an die kritische Öffentlichkeit wenden, um Rechtspositionen gegen Rechts bekanntzumachen. "Das Versagen des Flüchtlingsschutzes in der Coronakrise" und die "Kriminalisierung der Zivilgesellschaft" – Flüchtlingshilfe unter Druck – sind bestürzende und besonders beschämende Beispiele von Diskriminierung und der Verwehrung von Schutzmaßnahmen.

Vielseitig und wichtig

Die Autoren und Autorinnen fragen danach, wie es in der juristischen Arena gelingen kann, erfolgreiche Gegenstrategien zu entwickeln, "um das Recht dort starkzumachen, wo es zivilgesellschaftliche Kräfte beim Kampf gegen rechtsextreme Tendenzen unterstützen kann". Zur Nachahmung empfohlen.
Die Herausgebenden laden zur Einsendung von Entscheidungen ein, die bislang noch keine öffentliche Beachtung gefunden haben. Der Report soll jährlich erscheinen. Damit wird ein wichtiger Beitrag geleistet, um öffentlich, wenn nicht eine Bestandsaufnahme vom Zustand der Justiz, so doch mehr Einblick und Transparenz zu schaffen. Im Vorwort erinnert der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) an die gefahrvolle Situation der Weimarer Republik und mahnt die Achtung der Demokratie an.
Ein vielseitiges Lesebuch, in dem über 40 Beitragende in kurz gehaltenen Fallbeschreibungen ein Kaleidoskop der Zustände ausbreiten. Nicht nur die juristischen Experten und Expertinnen verstehen es, sondern auch die lesenden Bürger und Bürgerinnen. Wichtig und spannend.

"Recht gegen Rechts. Report 2020"
Herausgegeben von Nele Austermann, Andreas Fischer-Lescano, Wolfgang Kaleck, Heike Kleffner, Kati Lang, Maximilian Pichl, Ronen Steinke, Tore Vetter
Fischer Verlag, 2020
400 Seiten, 14,00 Euro

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