Rechte orthodoxe Netzwerke
Gegen Schwangerschaftsabbrüche, gegen Liebe jenseits des Modells "Adam und Eva": An einer Kundgebung des "World Congress of Families" beteiligte sich im März 2019 in Verona auch die rechte Bewegung Forza Nuova. © Getty Images / LightRocket / Valeria Ferraro
Im Namen Gottes gegen liberale Lebensweisen
13:24 Minuten
Konservative Christen in den USA und Russland kämpfen gemeinsam für ein traditionelles Familienbild und gegen liberale Werte. Als Teil der Neuen Rechten wirken sie auch auf politische Bewegungen in Mitteleuropa ein, sagt Soziologin Kristina Stoeckl.
Kirsten Dietrich: Um die politischen Ambitionen der russischen Orthodoxie besser zu verstehen, lohnt sich ein Wechsel der Perspektive: weg von Globalpolitik, von militärischen Aktionen und politischen Herrschaftsansprüchen, hin zu etwas, das – merkwürdige Ironie der Geschichte – ausgerechnet Ex-Kanzler Gerhard Schröder einmal „Gedöns“ genannt hat: der Blick auf Frauenrechte, auf Familienpolitik, auf Schulpolitik.
Ultrakonservative moralische Internationale
Eine merkwürdige moralische Internationale findet sich da zusammen. Die Soziologin Kristina Stoeckl ist Professorin an der Universität Innsbruck, sie forscht zu den Netzwerken aus US-amerikanischen und russischen Konservativen mit einer klaren Agenda gegen liberale Menschenrechte, die hinter Kampagnen zu Homeschooling und traditionellen Familienbildern stehen. Wo sind Ihnen diese Netzwerke zum ersten Mal aufgefallen?
Kristina Stoeckl: Ich habe 2016 begonnen, mich in meiner Forschung mit einer Organisation zu beschäftigen, die für konservative Familienwerte eintritt, dem World Congress of Families. Diese Organisation hat ihren Hauptsitz in den USA, pflegt aber Verbindungen nach Russland und Westeuropa. Vor allem hat sie eine interessante Gründungsgeschichte. Sie wurde von einem amerikanischen und einem russischen Familienaktivisten gegründet.
Im Zuge unserer Forschung haben wir Interviews geführt mit russischen moralkonservativen Aktivisten und auch mit amerikanischen und westeuropäischen. Wir haben dann gesehen, dass der World Congress of Families kein Einzelphänomen ist, sondern es auch andere Organisationen und Gruppierungen gibt, die rund um Themen wie Anti-Abtreibung, gegen die gleichgeschlechtliche Ehe oder fürs Homeschooling transnationale Verbindungen zwischen den USA, Westeuropa und Russland pflegen.
Ablehnung von liberalen Werten
Dietrich: Was verbindet diese verschiedenen Akteure? Man könnte meinen, dass die nicht viel gemeinsam haben, Vertreter der russischen Orthodoxie und Vertreter von US-Freikirchen.
Stoeckl: Was diese Akteure nicht gemeinsam haben, ist die Religionszugehörigkeit, denn diese Verbindungen gehen hinweg durch die orthodoxe Kirche, katholische Gruppen sind dabei, protestantische, evangelikale, zum Teil auch Vertreter jüdischer Gruppen. Es ist eine ideologische Gemeinsamkeit: Sie teilen ihre Ablehnung von liberalen Werten, von progressiven Menschenrechten – womit ich ein Verständnis von Menschenrechten meine, das ausgedehnt wird auf Themen, die vielleicht bis vor wenigen Jahren noch nicht so sehr im Bereich der Menschenrechte waren.
Nicht-Diskriminierung auf der Basis von Geschlecht, Anerkennung von Rechten Homosexueller, Anerkennung von gleichgeschlechtlicher Ehe – es geht also tatsächlich vor allem um Fragen von Familie, Geschlechtlichkeit, traditionellen Werten. Hier eint diese Gruppierungen über unterschiedliche Konfessionen hinweg eine ideologische Haltung.
Neue Rechte vereinnahmt Christentum
Dietrich: Könnte man diese ideologische Haltung als einen Teil der Neuen Rechten zusammenfassen?
Stoeckl: Sie ist jetzt Teil der Neuen Rechten.Das ist interessant, denn sie war nicht unbedingt Teil der Rechten. Also, zumindest in Westeuropa waren viele rechte Parteien gar nicht traditionell christlich ausgerichtet. Die rechtspopulistischen Parteien in Westeuropa, die Sie jetzt als die Neue Rechte angesprochen haben, entdecken das Christentum in erster Linie auf der Basis des Widerstands gegen den Islam und gegen Migration aus muslimischen Ländern.
Die Haupt-Message des Christentums wird in der Neuen Rechten in Verbindung gebracht mit traditionellen Werten. Hier sind die transnationalen Verbindungen zentral, denn diese Verbindung ist eine, die im amerikanischen Raum und der amerikanischen christlichen Rechten tief verankert ist und die auch in Europa und in weiterer Folge in Russland übernommen wird.
Religiöser Anspruch, politische Argumente
Dietrich: Jetzt könnte man ja sagen, eine Vereinigung, die sogenannte Familienwerte einfordert, das ist eine ganz typische Aktion in einer so nationalkonservativen Kirche wie der russisch-orthodoxen. Und doch sagen Sie: Der World Congress of Families ist ein Akteur ganz neuen Typs innerhalb der russischen Orthodoxie. Warum, und vor allem: Warum ist das wichtig?
Stoeckl: Na ja, eben weil sie eigentlich gar keine religiöse Sprache verwenden. Also, es stimmt zwar, dass diese Gruppen einen religiösen, konfessionellen Hintergrund haben. Aber die Argumente, die sie dann vorbringen, und die Sprache und Terminologie, die sie verwenden, entlehnen sie anderen Welten - der Wissenschaft, dem Recht, der Politik und zivilgesellschaftlichen Bewegungen, also sozialen Bewegungen.
Es geht ganz viel um die Rechte von Kindern, die Rechte von Frauen, die Rechte von Gruppen oder von Familien. Insofern: Das, was neu ist, vor allem im Kontext der russisch-orthodoxen Kirche, ist genau diese Übernahme einer gewissen Diskursform, die ihnen, den religiösen Akteuren, auch einen gewissen Lernprozess abfordert.
Netzwerkarbeit in der Zivilgesellschaft
Denn es ist eine Sache zu sagen, man sei gegen die Ehe zwischen homosexuellen Partnern, weil das biblisch eine Sünde sei, oder zu sagen, man sei dagegen, denn das schränke die Rechte von heterosexuellen Paaren ein, oder es schränke die Rechte von Menschen ein, die als Standesbeamte solche Verpartnerungen nicht vollziehen wollen.
Dietrich: Das heißt, die russisch-orthodoxe Kirche musste erst lernen, sich auf solche Bewegungen einzustellen, hat es aber gemacht?
Stoeckl: Ja, sie hat es gemacht, aber nicht sofort. Wir haben in unserer Forschung herausgefunden, dass schon Mitte der 1990er der World Congress of Families zuerst beginnt, in der russischen Zivilgesellschaft und auch Wissenschaft Kontakte zu knüpfen und dort ein Netzwerk auszubilden.
Erst im Laufe der Nullerjahre und spätestens 2014 kommt dann diese Organisation in der Kirchenstruktur des Moskauer Patriarchats an, wird dann dort auch begleitet. Sie wandert sozusagen von einem zivilgesellschaftlichen Bereich hinein in den kirchlichen.
Gay-Paraden als Legitimation des Krieges
Dietrich: Das heißt, wenn das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, zur Rechtfertigung des russischen Angriffs auf die Ukraine zum Beispiel auf Gay-Paraden verweist, dann ist das nicht einfach nur so ein erratischer Ausdruck von Weltfremdheit von jemandem, der einfach ganz fest in seiner religiösen Welt zu Hause ist, sondern das ist wirklich Ausdruck der Agenda dieses Netzwerkes?
Stoeckl: Ja, ich würde das schon so interpretieren. Es ist nicht ein Ausdruck von Weltfremdheit, sondern Ausdruck eines ganz klaren Verständnisses über die Moralkonflikte, die auch westliche Gesellschaften beschäftigen. Kyrill spricht damit genau das an, was in den sogenannten Culture Wars in den USA immer zur Debatte steht. Diese Aussage von Patriarch Kyrill, die Sie zitiert haben, vom 6. März wurde in einschlägigen amerikanischen Foren durchaus bestätigend und wohlwollend kommentiert.
Dietrich: Das heißt, die Zusammenarbeit hat unter dem russischen Angriff auf die Ukraine nicht gelitten?
Stoeckl: Das kann ich so nicht sagen. Meine Vermutung ist, dass der Krieg in der Ukraine die Zusammenarbeit doch nachhaltig stören wird, weil es natürlich schwierig ist, Mitgliedern dieser Organisationen in den USA und in Westeuropa zu vermitteln, wie und warum man jetzt noch mit russischen Partnern zusammenarbeiten wird.
Viel Zustimmung in der orthodoxen Welt
Man muss dazu sagen, dass ein wichtiger Sponsor des World Congress of Families auf russischer Seite der Oligarch Konstantin Malofejew ist, der explizit als Kriegstreiber auftritt und in den Medien den Krieg verteidigt hat, genau in den gleichen Worten wie Patriarch Kyrill. Das wird es schon schwierig machen, in weiterer Zukunft zusammenzuarbeiten.
Dietrich: Wie mehrheitsfähig sind Vereinigungen wie der World Congress of Families und ihre konservative Agenda innerhalb der russischen Orthodoxie? Ist das inzwischen die Stimme der Kirche?
Stoeckl: Man muss sehen, dass die Orthodoxie – und das ist nicht nur die russische, sondern das sind die orthodoxen Kirchen ganz allgemein – sich natürlich zum Teil tatsächlich schwertut mit der modernen, liberalen Gesellschaft. Diese konservativen Werte - traditionelle Familienmodelle, die Ablehnung von Abtreibung und die Ablehnung von Feminismus und von Säkularisierung als Begriff - spielt eine wichtige Rolle in der orthodoxen Welt. Insofern ist das mehrheitsfähig. Aber das ist es nicht nur in der orthodoxen Welt, das ist es auch in der katholischen.
Gleichklang in Wertefragen mit dem Vatikan
Dietrich: Ist diese Mehrheitsfähigkeit auch ein Grund dafür, dass sich Papst Franziskus immer noch nicht klar gegen den Krieg und vor allen Dingen auch gegen die orthodoxe Rechtfertigung des Krieges ausgesprochen hat?
Stoeckl: In meinen Augen ist das tatsächlich auch mit ein Grund, denn die wachsende Nähe zwischen katholischer Kirche und dem Moskauer Patriarchat war auf der Idee eines Gleichklangs bei Wertefragen begründet. Wobei man aber sagen muss, dass Papst Franziskus von dieser Zusammenarbeit in Wertefragen an anderer Stelle mehrmals Abstand genommen hat.
Franziskus hat immer andere Inhalte als prioritär betont: den Kampf gegen Armut, das Sich-Einsetzen für Migranten. Insofern war die Zusammenarbeit unter Franziskus schon seit 2012 etwas gestört. Als Papst Benedikt XVI. im Vatikan war, war sie enger. Aber dieses Zögern seitens Papst Franziskus, das Moskauer Patriarchat wirklich als eine kriegstreibende Partei zu benennen, hängt sicher zum Teil mit dieser Anerkennung einer ideologischen Übereinstimmung in diesen Fragen zusammen.
Machtkämpfe um die Deutungshoheit
Dietrich: Es gab schon andere Ansätze in der russisch-orthodoxen Kirche. Im Jahr 2000 hat sich diese Kirche zum ersten Mal überhaupt in der orthodox-kirchlichen Welt ganz grundsätzlich mit Diakonie beschäftigt und eher die alltagspraktischen Nöte der Menschen in den Blick genommen und wie das Teil des kirchlichen Handelns und Teil der kirchlichen Aufgaben sein kann. Ist dieser Impuls ganz abgeebbt und abgebrochen?
Stoeckl: Ich würde nicht sagen, dass die unterschiedlichen Impulse, die wir in den letzten 20 Jahren an theologischen Debatten und Entwicklungen im Moskauer Patriarchat feststellen konnten, völlig abgebrochen sind. Man muss das auch ein bisschen als eine Art intellektuellen Machtkampf innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche sehen. Das sind auch Kleriker, Theologen, Aktivisten, die versuchen, ihre Ideen, was richtige Kirche oder was eine gute Orthodoxie ist, auch durchzusetzen, als eine Linie, die die Kirche dann offiziell vertritt.
So muss man das auch sehen. Nicht alle Äußerungen, die aus dem Moskauer Patriarchat kommen, und nicht alle Dokumente, die dort rauskommen und die wir analysieren können, sind aus einem Guss. Sie deuten in unterschiedliche Richtungen.
Ideologische Kontrolle in der Kirche nimmt zu
Dietrich: Das heißt, das ist nicht der monolithische Block, als der die russisch-orthodoxe Kirche aus dem Westen vor allem jetzt wahrgenommen wird?
Stoeckl: Nein, die russisch-orthodoxe Kirche ist sicher kein monolithischer Block. Nicht einmal das Moskauer Patriarchat als die Schaltzentrale ist notwendig ein monolithischer Block. Aber man muss auch sagen, dass in den vergangenen Jahren die ideologische Kontrolle innerhalb der Kirche stärker geworden ist. Abweichung von der Linie wird zunehmend schwieriger und stärker bestraft.
Ich würde auch sagen, dass es einen Zeitpunkt gibt, an dem wir diese Verschärfung der ideologischen Kontrolle innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche festmachen können. Das ist das Jahr 2018, mit der Gründung einer autokephalen orthodoxen Kirche der Ukraine, die das Moskauer Patriarchat nicht anerkannt und als eine feindliche Größe gesehen hat. Das hat die radikalen Kräfte innerhalb des Moskauer Patriarchats gestärkt und liberale Kräfte nachhaltig geschwächt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.