Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft?

Von Klaus Schroeder |
Rechtsextremistische Einstellungen sind in Deutschland mehrheitsfähig geworden. Das behauptet jedenfalls eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebene und vor einigen Wochen veröffentlichte Studie der Universität Leipzig. Knapp zwei Drittel der Deutschen gelten den Autoren als latent oder manifest rechtsextrem eingestellt. Ihre zentrale These, der Rechtsextremismus sei in der Mitte der Gesellschaft angelangt, wurde von nahezu allen Medien und vielen Politikern, vornehmlich aus dem linken Milieu, ungeprüft übernommen.
Wer sich indes der Mühe unterzieht, das Vorgehen der Leipziger Medizinpsychologen inhaltlich und methodisch zu prüfen, erkennt schnell, dass das Ergebnis durch die gewählte Vorgehensweise gleichsam programmiert ist. Viele Fragen sind missverständlich oder zu pauschal formuliert und können von den Befragten falsch verstanden oder nur unzulänglich beantwortet werden. Außerdem werden in dieser wie in anderen einschlägigen Untersuchungen auch Antworten erwartet, die an der Lebenswirklichkeit vorbeigehen oder vor allem das Selbstbild der Fragesteller reproduzieren.

Unter den sechs Dimensionen, die nach Meinung der Autoren ein rechtsextremes Weltbild prägen, erzielen Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus die bei weitem höchsten Zustimmungswerte. Mehr als jeder vierte Deutsche äußert sich hiernach ausländerfeindlich und knapp jeder fünfte offenbart eine chauvinistische Grundhaltung.

Doch wie und wodurch werde ich zum Ausländerfeind oder Chauvinisten? Für Letzteren reicht schon das Bekenntnis zu einem starken Nationalgefühl, die Forderung nach einem energischen Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland sowie die Übereinstimmung mit dem politischen Ziel, Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zustehe. Warum diese in wahrscheinlich allen anderen Ländern selbstverständliche Unterstützung nationaler Interessen in Deutschland als rechtsextreme Einstellungsdimension gelten soll, bleibt das Geheimnis der Forscher.

Die zweifelsohne in Teilen der Bevölkerung vorhandene Ausländerfeindlichkeit wird durch die gewählten Statements ebenfalls künstlich verstärkt. Die Aussage "Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen" bejahen gut 35 Prozent der Westdeutschen und knapp 44 Prozent der Ostdeutschen. Da jedoch pauschal gefragt wird, kann auch nur ebenso pauschal geantwortet werden. Bei Nachfragen würde sich freilich herausstellen, dass viele Befragte nicht bei allen Ausländern ein derartiges Motiv vermuten, sondern nur bei vielen. Da jedoch weder die Befragten noch die Fragesteller Genaueres über die Motive von einwandernden Ausländern wissen, sind Zustimmung wie Ablehnung spekulativer Natur.

Selbst die Annahme, "die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet", die von knapp 40 Prozent der Befragten befürwortet wird, fällt nicht unbedingt unter eine ausländerfeindliche Sichtweise, da nicht definiert ist, wann "Überfremdung" beginnt oder ob das Wort "überfremdet" rassistisch konnotiert ist. Generell neigen Menschen dazu, Personen aus ihrer Umgebung eher positive, Fremden dagegen – unabhängig davon, ob sie Ausländer sind – eher negative Eigenschaften zuzusprechen. Gleichzeitig sind oftmals Gruppenstereotypen im Denken von Menschen fest verankert. Diesen entgegen zu wirken und an ihre Stelle eine differenzierte Sicht zu setzen, ist zentrale Aufgabe einer zivilen Gesellschaft. Angesichts von so genannten Ehrenmorden, Zwangsheirat oder Frauendiskriminierung in bestimmten Milieus muss eine Gesellschaft aber auch das Recht haben zu diskutieren und festzusetzen, wer ins Land kommen und dort leben darf. Indem die Fragesteller diese Möglichkeit negieren bzw. gar nicht positiv nach Integrationskapazitäten fragen, erzeugen sie Zustimmungswerte einer vermeintlich rechtsextremen Einstellungsdimension, die es realiter in dieser Höhe nicht gibt. Wer nach den Ausländern fragt, muss sich nicht wundern, wenn er eine verzerrte Antwort erhält; aber wahrscheinlich ist das aus politischen Motiven durchaus erwünscht.

Doch selbst angesichts vieler weicher Formulierungen bei der Messung von Rechtsextremismus kann die Studie nur einen Anteil von gut acht Prozent rechtsextremer Personen nachweisen. Nach einem anderen, ebenfalls möglichen, da willkürlich festgelegten Auswertungskriterium sind es gar nur etwas über zwei Prozent.

Um dennoch ihre These, der Rechtsextremismus sei in der Mitte der Gesellschaft angelangt, belegen zu können, betrachten die Autoren nicht die als Rechtsextremisten ermittelten Personen, sondern nehmen schon die Zustimmung zu einzelnen Statements als Beweis der weiten Verbreitung rechtsextremistischer Auffassungen. So gelingt es ihnen, mittels fragwürdiger inhaltlicher Operationalisierungen und methodischer Tricks das rechtsextreme Potenzial künstlich zu erhöhen, was ihnen wiederum die gewünschte mediale und politische Aufmerksamkeit sichert. Diese nutzen sie, um ihre Leitlinien zur Beurteilung der Gesellschaft auch als Maßstab zur Bestimmung einer rechtsextremen Gesinnung einer aufgeschreckten Öffentlichkeit gleichsam aufzuzwingen. So fordern sie, zur Eindämmung des Rechtsextremismus bestimmte Themen, zum Beispiel den Missbrauch von Sozialleistungen oder die höhere Gewaltbereitschaft von bestimmten jugendlichen Immigranten, öffentlich nicht mehr zu thematisieren, sondern zu ignorieren. Mit dieser Tabuisierung dürften sie aber eher das Gegenteil erreichen – eine Zunahme entsprechender Vorurteile. Wes Geistes Kind die Autoren in Wirklichkeit sind, demonstrieren sie mit ihrer Forderung nach einer weitgehenden Veränderung der Gesellschaft, deren momentane Verfasstheit sie für die zentrale Ursache für Rechtsextremismus halten.


Der 1949 in Lübeck geborene Klaus Schroeder leitet an der Freien Universität Berlin den Forschungsverbund SED-Staat und die Arbeitsstelle Politik und Technik und ist Professor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Letzte Veröffentlichungen: "Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990", Hanser-Verlag, München 1998; "Der Preis der Einheit. Eine Bilanz", Hanser-Verlag, München 2000; "Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland. Ein Ost-West-Vergleich", Schöningh-Verlag, Paderborn 2004. Gerade ist erschienen: "Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung", Verlag Ernst Vögel, Stamsried 2006.
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