Rechtsextremismus in Sachsen

"Folge von langjährigem Versagen"

Ein glatzköpfiger Teilnehmer eines Aufmarsches des Neonazi-Netzwerks Freies Netz Süd steht auf einer Straße in Wunsiedel (Bayern)
Rechtsextremisten haben Sachsen über zwei Jahrzehnte zum Aufmarschgebiet erklärt © dpa/picture-alliance/Timm Schamberger
Pfarrer Christian Wolff im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Die Politik hat im Kampf gegen Rechtsextremismus in Sachsen versagt oder zu spät reagiert, findet Christian Wolff, früherer Pfarrer der Leipziger Thomaskirche. Er fordert klare Gegenpositionen - und Demokratiebildung in Schulen und Universitäten.
Die Akzeptanz des Rechtsstaates und der sozialen Demokratie in Sachsen lässt nach Meinung von Christian Wolff zu wünschen übrig: "Das, was wir jetzt mit Erschrecken sehen, Tag für Tag, das ist keine Eintagsfliege - das ist die Folge von langjährigem Versagen auf vielen Ebenen", sagt der ehemalige Pfarrer der Thomaskirche in Leipzig.
Rechtsradikale hätten Sachsen über zwei Jahrzehnte zum Aufmarschgebiet erklärt. Das sei verdrängt, nicht zur Kenntnis genommen und verniedlicht worden. Jetzt müssten sich alle gesellschaftlichen Kräfte fragen, wie dem gegenzusteuern sei. Mit "straffen Parolen", wie sie gestern von Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) in Heidenau geäußert wurden, sei es nicht getan, so Wolff:
"Es geht nicht darum, Leute wegzusperren. Damit ist das Problem nicht weg. Sondern es geht darum, dass wir rechtes Gedankengut offen debattieren und offenlegen, was sich eigentlich dahinter verbirgt und welche gefährlichen Folgen das hat."
Pegida-Parolen wurden als Sorgen der Menschen salonfähig gemacht
Vor allem müsse für eine "Klarheit in der Gegenposition" gesorgt werden, sagte Wolff:
"Das war ja das Fatale in dem ersten halben Jahr: dass Pegida-Parolen als Sorgen und Ängste der Menschen aufgefasst wurden und sozusagen salonfähig gemacht wurden. Die Folge sehen wir jetzt. All das, was jetzt gesagt wird von Regierungsvertretern oder führenden Persönlichkeiten der Parteien - das hätte vor einem halben Jahr gesagt werden müssen."
"In Sachsen sind die Universitäten sozusagen demokratiefreie Zonen"
Von den Kultusministern forderte Wolff ein Umsteuern in der Bildungspolitik. Nicht nur in Schulen, sondern auch an Universitäten mangele es an Demokratiebildung. "In Sachsen sind die Universitäten sozusagen demokratiefreie Zonen", sagte Wolff. Sie würden gegängelt von der Ministerialbürokratie und es finde viel zu wenig der "offene, demokratische, streitige Diskurs" statt:
"Wir müssen uns ja mal vorstellen, dass dort das Führungspersonal der Gesellschaft für die nächsten Generationen ausgebildet wird. Wenn es dann mangelt auch an der Akzeptanz unserer grundgesetzlich garantierten Grundrechte, dann muss man sich fragen: Was läuft falsch - auch gerade in Bildungspolitik?"
Ein Umsteuern geht nach Überzeugung des früheren Pfarrers schnell:
"Nirgendwo hat man so schnell Erfolg wie im Erziehungsbereich, wenn man es anders macht - und zwar ab heute."

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Ja, es gab und gibt Anschläge auf Flüchtlingsheime, auch im Westen, in den alten Bundesländern, in Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und, und, und, aber im Osten Deutschlands sind sie weitaus häufiger, und immer wieder gibt es vor allem welche in Sachsen. Übergriffe, Anschläge, immer auf die Schwachen, auf Asylsuchende, Flüchtlinge und deren Übergangsschlaforte, die man kaum Heime nennen kann. Aber warum immer Sachsen? Jeder, der sich damit befasst hat, weiß, dass die NPD sich das Land vorgenommen hat. Deren Kameradschaften sind höchst aktiv in dem ja oft "ostdeutsches Vorzeigeland" genannten Bundesland. Christian Wolff war 22 Jahre Pfarrer in der Thomaskirche in Leipzig. Er äußert sich zum Versagen der sächsischen Bildungspolitik in seinem Blog, und er wirft ihr komplettes Versagen vor. Schönen guten Morgen, Herr Wolff.
Christian Wolff: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Wenn man sich die PISA-Studien ansieht, dann gilt ja Sachsen da immer als Vorzeigeland. Wieso sagen Sie, da hat die Bildungspolitik, gerade, was diese rechtsextremen Übergriffe betrifft, das rechtsextreme Gedankengut, so komplett versagt?
Wolff: Weil zum Beispiel diese PISA-Studien nicht danach fragen, wie es denn mit der Demokratiebildung in unseren Bildungseinrichtungen aussieht. Das gilt ja nicht nur für die Schulen. In Sachsen sind die Universitäten sozusagen demokratiefreie Zonen. Die Akzeptanz des Rechtsstaates, die Akzeptanz der sozialen Demokratie, die lässt sehr zu wünschen übrig. Und ich denke, das, was wir jetzt mit Erschrecken sehen Tag für Tag, das ist keine Eintagsfliege, das ist die Folge von langjährigem Versagen auf vielen Ebenen.
Wir müssen rechtes Gedankengut offen debattieren
von Billerbeck: Sie haben eben gesagt, die Universitäten sind auch demokratiefreie Zonen in Sachsen. Erklären Sie uns das.
Wolff: Na ja, Sie müssen sich einfach nur ansehen, wie Entscheidungsprozesse verlaufen. Die Universitäten werden gegängelt von der Ministerialbürokratie, und es findet ja viel zu wenig auch der offene demokratische, streitige Diskurs statt, der eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass wir Demokratie leben können. Ich will das jetzt nicht im Einzelnen schildern, wie es in den Universitäten aussieht. Nur, wir müssen uns ja mal vorstellen, dass dort das Führungspersonal unserer Gesellschaft für die nächste Generation ausgebildet wird. Und wenn es dann mangelt auch an der Akzeptanz unserer grundgesetzlich garantierten Grundrechte, dann darf man sich, muss man sich fragen, was läuft falsch, auch gerade in der Bildungspolitik, aber nicht nur dort.
Wir haben in Sachsen eben auch das Problem, dass über zwei Jahrzehnte das, was Sie am Anfang gesagt haben, dass nämlich die Rechtsradikalen Sachsen zum Aufmarschgebiet erklärt haben, dass das verdrängt wurde, dass das nicht zur Kenntnis genommen wurde, dass das verniedlicht wurde. Und das ist jetzt das Ergebnis, und da müssen alle gesellschaftlichen Kräfte sich jetzt fragen, wie können wir dem entgegensteuern. Mit straffen Parolen, wie gestern von Herrn Gabriel, ist das nicht getan. Es geht nicht darum, Leute wegzusperren – damit ist das Problem nicht weg –, sondern es geht darum, dass wir rechtes Gedankengut offen debattieren und offenlegen, was sich eigentlich dahinter verbirgt und welche gefährlichen Folgen das hat.
Gabriel hätte vor einem halben Jahr in eine Asylunterkunft gehen müssen
von Billerbeck: Wenn Sie sagen, solche Parolen wie von Gabriel, solche straffen, die bringen nichts – der hat ja gestern auch gesagt, solche Leute gehören nicht zu Deutschland. In Sachsen erlebt man doch aber genau das Gegenteil.
Wolff: Ja, das ist ja Unsinn. Natürlich sind sie Teil unserer Gesellschaft. Ich kann das doch nicht einfach verdrängen. Das ist der falsche Weg. Sondern ich muss mich damit auseinandersetzen, ich muss vor allen Dingen für eine Klarheit in der Gegenposition sorgen. Und das war ja das Fatale in dem ersten halben Jahr, dass Pegida-Parolen als Sorgen und Ängste der Menschen aufgefasst wurden und sozusagen salonfähig gemacht wurden. Und die Folge sehen wir jetzt.
All das, was jetzt gesagt wird von Regierungsvertretern oder führenden Persönlichkeiten der Parteien, das hätte vor einem halben Jahr gesagt werden müssen. Gabriel hätte vor einem halben Jahr in eine Asylunterkunft gehen müssen statt zu diesen merkwürdigen Aufwertungsveranstaltungen in Dresden, der von Pegida.
Alle Kultusminister müssten mit roten Ohren herumlaufen
von Billerbeck: Nun sagen Sie ja, die Bildungspolitik hat versagt, und Sie sprechen von zwei Jahrzehnten. Wie kann man denn das wieder aufholen, wie kann man denn da nachholen, was man in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der Bildungspolitik, was zum Beispiel Demokratieverständnis, was Bildung, auch was Rechtsextremismus und solches Gedankengut betrifft, wie kann man das nachholen?
Wolff: Das geht sehr schnell. Nirgendwo hat man so schnell Erfolg wie im Erziehungsbereich, wenn man es anders macht, und zwar ab heute. Wenn es thematisiert wird. Eigentlich müssten alle Kultusminister mit roten Ohren herumlaufen und sich fragen, was haben wir falsch gemacht, und dann umsteuern. Und das geht eigentlich sehr, sehr schnell. Es gibt überhaupt keinen Grund, hier irgendwie zu kapitulieren, sondern es gibt allen Grund, umzusteuern und vor allen Dingen eine neue Wertschätzung der Demokratie, wozu die Vielfalt des Lebens gehört, an den Tag zu legen.
von Billerbeck: Also eine klare Aufforderung von Christian Wolff. 22 Jahre lang war er Pfarrer der Leipziger Thomas-Kirche. Ich danke Ihnen!
Wolff: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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