Michael Tsokos: Abgefackelt. Ein Paul-Herzfeld-Thriller
Droemer Knaur, München 2020
352 Seiten, 14,99 Euro
Rechtsmediziner Michael Tsokos
"Der Tod ist eigentlich bei uns kein Thema", sagt der Rechtsmediziner Michael Tsokos über seine Familie. Seine Begegnungen mit Leichen schreibt er sich in Romanen von der Seele. © B. Pauli
"Die Realität ist manchmal härter als die Fiktion"
34:44 Minuten
Michael Tsokos ist Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner und zudem ein Bestseller-Autor. Was er im Sektionssaal erlebt, darüber schreibt er. Seine Krimis nennt er "True-Crime-Thriller" – auch der neue Roman "Abgefackelt" erzählt einen echten Fall.
Nein, sagt Michael Tsokos, das Skalpell sei nicht das wichtigste Instrument eines Rechtsmediziners: "Mit dem Skalpell würden wir uns tatsächlich verletzen, weil das einfach zu fein ist. Wir sind ja nicht so die ganz feinen Operateure. Wir schneiden schon relativ grob, um überhaupt erst einmal an die Organe zu kommen. Und da haben wir tatsächlich, das muss man sich wie ein Küchenmesser vorstellen, nur ein bisschen stabiler. Also ungefähr das, was es beim Fleischer gibt."
Rechtsmediziner haben hierzulande Hochkonjunktur. Kein Krimi kommt heute ohne den Arzt oder die Ärztin aus dem Sektionssaal aus. Die bekannteste TV-Figur ist derzeit wohl Professor Boerne aus dem "Tatort", gespielt von Jan Josef Liefers.
"Die Realität ist härter"
Was man im Krimi sieht oder liest, das sei oft noch die harmlose Variante, so Michael Tsokos. Auch in seinen Büchern: "Man muss schon einige Abstriche machen. Weil tatsächlich die Realität manchmal deutlich härter ist als die Fiktion. Und mit solchen Bildern wollen Sie ihre Leser nicht zurücklassen. Mein Anspruch ist, dass die Bücher einen Film im Kopf erzeugen." Seit vielen Jahren leitet Michael Tsokos nicht nur das Institut für Rechtsmedizin der Charité, er ist auch erfolgreicher Autor. Erst schrieb er Sachbücher, heute so genannte True-Crime-Thriller.
Liest man Michael Tsokos neuen Thriller "Abgefackelt", in dem Rechtsmediziner Paul Herzfeld nicht an einen Selbstmord eines Kollegen glauben will, ist vieles darin real: "In meinen Büchern steckt sehr viel Wahrheit. Weil natürlich die ganzen Sektionssaal-Szenen, die ich beschreibe, die der Leser miterleben kann, wo er mir quasi über die Schulter gucken kann, völlig authentisch sind. Und die Fälle sind auch tatsächlich an Originalfälle angelehnt." Über wahre Ereignisse berichtete der 53-jährige Rechtsmediziner in der Sendung "Dem Tod auf der Spur – Die Fälle des Prof. Tsokos". 2018 wurde sein Thriller "Zersetzt" verfilmt.
Schreiben als Hobby und Therapie
Bücher schreiben oder für das Fernsehen arbeiten, "das mache ich einfach, weil es mir Spaß macht. Man kann dabei als Mediziner wirklich über den Tellerrand gucken. Wie läuft Arbeit in einem Verlag, wie läuft Marketing im Buchvertrieb, wie werden Filme gemacht? Das ist einfach ein schönes Hobby. Und vielleicht ist das auch so ein bisschen Therapie, so ein bisschen was von der Seele schreiben."
Was sich Michael Tsokos "von der Seele schreibt", hat er vor allem im Sektionssaal seines Instituts in Berlin-Moabit gesehen: "Wir führen etwa 2.00 Obduktionen im Jahr durch, was tatsächlich bundesweit führend ist. Davon sind ungefähr hundert Tötungsdelikte im Jahr." Ganz wichtig, so Michael Tsokos, sei die Unterscheidung zwischen Pathologen und Rechtsmedizinern, das "sind zwei völlig verschiedene Facharztausbildungen". Während Pathologen vor allem Gewebeproben im Labor untersuchen würden, kämen Rechtsmediziner "immer dann ins Spiel, wenn ein nicht natürlicher Tod, das heißt ein Tod durch äußere Gewalteinwirkung, nicht ausgeschlossen werden kann".
Wie im Film "Apocalypse Now"
Bevor Michael Tsokos Leiter am Institut für Rechtsmedizin der Charité wurde, war er Ende der 1990er Jahre im Auftrag des Bundeskriminalamts in Bosnien und im Kosovo tätig. "Da haben wir die Opfer des Massakers von Srebrenica untersucht, exhumiert und untersucht. Um eben dann einen Genozid, einen Völkermord nachzuweisen. Ich bin dann ein Jahr später, 1999, in den Kosovo. Und da haben wir noch mal entsprechende Untersuchungen durchgeführt, weil da auch Massaker an der kosovarischen Zivilbevölkerung durchgeführt wurden."
Was Michael Tsokos dort sehen musste, das prägt ihn bis heute: "Ich dachte zum Beispiel im Kosovo, ich wäre bei 'Apocalypse Now'. Das hat mir auch gezeigt, was wir für ein Glück haben, wie wir hier in Deutschland leben."
"Man hat nur das eine Leben"
Durch solche Erfahrungen habe sich nicht sein Verhältnis zum Tod, sondern sein Verhältnis zum Leben verändert. "Weil ich nämlich das Leben sehr schätze. Ich weiß, dass ich ein sehr glückliches Leben habe. Man muss sein Leben wirklich ausnutzen, denn man hat nur das eine. Und ich sehe wirklich jeden Tag, dass es von einer Minute auf die andere enden kann."
Für die Arbeit als Rechtsmediziner kann sich Michael Tsokos nach all den Jahren noch immer begeistern: "Ich freue mich jeden Tag, wenn ich morgens aufstehe, weil ich eben nicht weiß, was mich an spannenden Fällen erwartet. Was vielleicht im Laufe des Tages dazu kommt, das macht mir nach wie vor viel Spaß. Dafür bin ich auch total dankbar, dass ich so einen Beruf habe."
Als Kind an Moorleichen interessiert
Als Sonderling will sich Michael Tsokos aber nicht verstanden wissen. Auch wenn er sich schon als Kind für Moorleichen interessierte, eigentlich wollte der geborene Kieler Biologie studieren oder Archäologie: "Ich fand Naturwissenschaft unheimlich spannend." Seit 20 Jahren ist Michael Tsokos nur Facharzt für Rechtsmedizin, tausende Leichen hat er in dieser Zeit gesehen. Doch wer glaubt, Familie Tsokos würde ständig über den Tod sprechen, der irre sich. "Der Tod ist eigentlich bei uns kein Thema. Es ist auch nicht so, dass ich abends nach Hause komme und erst mal mir von der Seele reden muss, was ich am Tag erlebt oder gesehen habe. Überhaupt nicht."
(ful)
Das Gespräch ist eine Wiederholung vom 27.05.2020.