"Sarrazin will an Tabus rühren, die in Wahrheit keine sind"
Der umstrittene Autor und Ex-Politiker Thilo Sarrazin hat mit seinem neuen Buch wieder für rege Debatten gesorgt. Der Politologe Frank Decker hält ihn für das "extreme Beispiel" eines europäischen Rechtspopulisten - und erklärt die Kraft seiner Thesen.
Matthias Hanselmann: Die Volksabstimmung in der Schweiz zur Begrenzung der Zuwanderung, genannt Massenzuwanderung, gilt als ein Triumph der Schweizerischen Volkspartei, in Wirklichkeit aber war es ein Sieg für den Rechtspopulisten Christoph Blocher, der noch nicht mal Parteivorsitzender ist. Rechte Populistengruppierungen und ihre Anhänger leben von ihren Gallionsfiguren, wie etwa Geert Wilders in den Niederlanden oder Marine Le Pen in Frankreich.
Wir haben in dieser Woche anhand des Beispiels von Thilo Sarrazin und seinem neuen Buch "Der neue Tugendterror" schon einmal die Mechanismen und Wirkungsweisen von politischem Populismus erkundet, und heute fragen wir den Politikwissenschaftler von der Uni Bonn, welche gesellschaftliche Prägekraft der Rechtspopulismus in Deutschland, aber auch in Europa hat. Willkommen im Radiofeuilleton, Herr Wecker, hallo!
Frank Decker: Guten Tag!
Hanselmann: Lassen Sie es uns vorab klarstellen: Ist Thilo Sarrazin für Sie ein Rechtspopulist oder nicht?
Decker: Er ist ein Rechtspopulist, weil er die zwei zentralen Merkmale des Rechtspopulismus erfüllt. Das populistische Merkmal besteht darin, dass er sich gegen die Elite, gegen ein Establishment wendet, das ist nicht die gesamte politische oder gesellschaftliche Elite, das sind insbesondere die aus seiner Sicht linksliberalen Meinungseliten, die insbesondere das Mediensystem dominierten. Gegen die wendet er sich. Und auf der anderen Seite vertritt er rechte Positionen insbesondere in Fragen des Multikulturalismus und der Zuwanderungspolitik. Da grenzt er sich strikt ab gegen liberale Positionen und tritt eben ein für Vorstellungen doch, die sehr stark orientiert sind an nationaler Identität.
Hanselmann: Das wollen wir gleich noch ein bisschen vertiefen. Zunächst: Sie werden ja selbst in Sarrazins neuem Buch erwähnt?
Decker: Ja. Ich habe ihn als Rechtspopulisten etikettiert nach seinem Buch, 2010, "Deutschland schafft sich ab". Das hat er als Beschimpfung betrachtet. In der Tat gibt es Begriffe, die als wissenschaftliche Begriffe verwendet werden, auch akzeptiert sind, die man vielleicht gleichzeitig auch mit wertender Absicht verwenden kann. Gerade für den Populismusbegriff gilt das. Aber ich habe ihn natürlich versucht, als politikwissenschaftliche Kategorie zu verwenden.
Hanselmann: Im Wort Populismus steckt ja das Wort Volk. Es geht also um eine große Menge Menschen, die für solche Themen und Thesen anfällig sind. Wie werden Meinungen von Rechtspopulisten wie Geert Wilders in den Niederlanden oder Marine Le Pen in Frankreich und vielen anderen eigentlich überhaupt populär? Also interessant für Teile der breiten Masse? Was ist der Nährboden für den Rechtspopulismus?
"Abgrenzen vom politischen Establishment"
Decker: Man darf Populismus, denke ich, nicht gleichsetzen mit populär. Populär würde ja bedeuten, dass die Populisten auch danach streben, nun die Mehrheit der Bevölkerung zu erreichen. Das können Sie nicht, und das wollen sie nicht. Sie wollen ganz im Gegenteil bestimmte Bevölkerungsgruppen erreichen, und das tun sie, indem sie eben das sogenannte einfache, das integre, das gute, rechtschaffene Volk auf der einen Seite abgrenzen von dem politischen Establishment, von den gesellschaftlichen Eliten, die die Interessen dieses Volkes nicht vertreten. Das ist populistisch.
Hanselmann: Und was versteht man in der Politikwissenschaft als rechtspopulistisch, was ist die Definition?
Decker: Rechtspopulistisch bedeutet ja zunächst einmal, dass der Populismus sich mit unterschiedlichen Inhalten, unterschiedlichen Ideologien verbinden kann. Es kann also durchaus auch einen linken Populismus geben. Wir haben zum Beispiel starke linkspopulistische Traditionen in Lateinamerika. Oder wenn wir jetzt ein Beispiel aus der deutschen Politik nehmen, die Linkspartei, denken Sie etwa an Oskar Lafontaine, vertritt auch stark linkspopulistische Positionen, wo Sie genau diese Gegenübersetzung eben von Elite und Volk erkennen können. Aber die Mehrzahl der populistischen Parteien in Europa und darüber hinaus sind heute rechtspopulistisch. Und das verbindet sich natürlich insbesondere mit der Zuwanderungsfrage, mit den nationalen Positionen, die sie vertreten, die man jetzt neuerdings auch stark fest macht an der Kritik, die geübt wird an der europäischen Integration.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, ich spreche mit dem Politikwissenschaftler Frank Decker von der Universität Bonn. Unser Thema: der Rechtspopulismus in Deutschland und Europa. Herr Decker, seit wann redet man bei uns eigentlich von Rechtspopulismus, wann und wie haben sich denn diese Strömungen entwickelt?
Decker: Eigentlich sprechen wir vom Rechtspopulismus seit Mitte der 80er-Jahre, in etwa zeitgleich ist damals eben in verschiedenen Ländern dieses Phänomen aufgetreten. In der Regel hat es sich um neue Erscheinungen gehandelt, neu gegründete Parteien, die sich oftmals dann auch gar nicht als Parteien bezeichnet haben, um sich eben von den etablierten Parteien abzugrenzen. Beispiele sind eben der französische Front National unter Jean-Marie Le Pen, die italienische Lega Nord unter Umberto Bossi.
In den skandinavischen Ländern hat es populistische Vorläufer schon in den 70er-Jahren gegeben, da waren das zunächst Steuerprotestparteien. Die haben aber dann in den 80er-Jahren auch sehr stark dieses Zuwanderungsthema aufgenommen. Und dann hat es einige Länder gegeben, die Niederlande etwa, wo der Populismus ein Nachzüglerphänomen ist. Pim Fortuyn ist Ende der 90er-Jahre erst in den Niederlanden auf den Plan getreten, Wilders ist sozusagen sein Nachfolger.
Es gibt heute in Europa eigentlich kaum noch Länder, die von diesem Phänomen nicht betroffen sind. Interessant ist der Fall der Bundesrepublik, weil wir bisher zwar durchaus rechtspopulistische Phänomene hatten, rechtspopulistische Äußerungsformen unterschiedlicher Form – Sarrazin ist ja ein Beispiel dafür –, aber keinen starken, relevanten Rechtspopulismus in parteiförmiger Gestalt. Und die Frage ist ja, ob sich das vielleicht jetzt mit der Alternative für Deutschland verändert.
Hanselmann: Einen Punkt finde ich noch spannend, der auch Thilo Sarrazin betrifft. Er sieht sich ja mit seinem neuen Buch wieder als jemand, der heldenhaft seine Meinung gegen den Mainstream verteidigt. Sie haben es angesprochen, er behauptet, die Medien unterdrückten in unserem Land populäre Meinungen, würden nur das Gleichmacherische loben, nicht die Unterschiede in der Gesellschaft anerkennen und so weiter. Ist das ein allgemeines Phänomen, dass die Rechtspopulisten sich als Kämpfer gegen das Establishment, gegen den Mainstream darstellen?
Rechtspopulisten "stellen sich selber gerne als Opfer hin"
Decker: Ja, sie stellen sich selber gerne als Opfer hin. Sie argumentieren bisweilen verschwörungstheoretisch. Das ist eine typische Agitationsform, das können Sie bei allen populistischen Vertretern beobachten. Ich würde sagen, dass Sarrazin in dieser Hinsicht sogar ein extremes Beispiel ist, also er treibt das geradezu auf die Spitze. Er will an Tabus rühren, die in Wahrheit gar keine Tabus mehr sind, Fragen, über die in unserer Gesellschaft heute offen gestritten und diskutiert wird. Und das verlangt natürlich dann auch nach kalkulierten Entgleisungen. Das ist wichtig für die Populisten, dass sie provozieren. Sie wollen also nicht allgemeine Unterstützung, sondern sie gewinnen Glaubwürdigkeit unter ihren Anhängern gerade dadurch, dass sie sich selber als Außenseiter und eben auch als Opfer hinstellen.
Hanselmann: Und für alle, die seine Thesen kritisch sehen, hat sich Thilo Sarrazin ein Totschlagargument zurechtgelegt, ich habe es gerade vor der Sendung gelesen in einem Interview. Da sagt er: "Wer sich durch die Beschreibung der Wahrheit provoziert fühlt, hat offenbar ein Problem mit ihr." Also im Klartext, wirklich ist, was er beschreibt.
Decker: Ja. Diese Vorstellung, dass man selber den eigentlichen, den richtigen, den wahren Volkswillen artikuliert, das ist eben typisch populistisch, und es ist auch kein Zufall, dass das dann typischerweise durch einzelne Personen erfolgt, weil die ja sehr viel glaubwürdiger vertreten können, sozusagen die Einheitlichkeit eines bestimmten Volkswillens. Und Begriffe wie Wahrheit, wie eigentlich, wie richtig, das sind eben typische Begriffe der Populisten.
Hanselmann: Was gibt es für Gegenmittel? Wie kann man die Rechtspopulisten sozusagen entzaubern?
Decker: Natürlich muss man sie in der Auseinandersetzung stellen. Es ist ja nicht so, dass sie nicht durchaus auf richtige Probleme hinweisen, also etwa die Frage multikulturelle Gesellschaft, wie organisieren wir das, wie gehen wir mit kultureller Differenz um. Sie problematisieren natürlich auch wirtschaftliche Probleme. Oder nehmen wir das Beispiel der europäischen Integration. Da liegt ja in der Tat einiges im Argen. Die Europäische Union hat auch ein Demokratieproblem.
Stellen muss man sie aber hinsichtlich der von ihnen angebotenen Antworten, der Lösungen. Die sind doch in der Regel rückwärtsgewandt, tragen gar nicht dazu bei, die Probleme zu lösen. Und solche Auseinandersetzungen kann man auch führen, man kann sie auch gewinnen, man muss sich allerdings dann auch gründlich vorbereiten und diese populistische Agitation dann auch tatsächlich auseinandernehmen.
Hanselmann: Haben Sie ganz herzlichen Dank. Das war Frank Decker, Politikwissenschaftler von der Universität Bonn für das Radiofeuilleton. Danke schön und einen schönen Tag noch!
Decker: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.