Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa: „Spätmoderne in der Krise“

Großes Debattenkino

06:49 Minuten
Cover des Buchs "Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?" von Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa.
© Suhrkamp

Hartmut Rosa, Andreas Reckwitz

Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Suhrkamp, Berlin 2021

310 Seiten

28,00 Euro

Von Jens Balzer |
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Die Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa verständigen sich im Dialog über ihre Theorien der Moderne und ihre Diagnosen der Gegenwart. Keine ganz leichte Lektüre, aber erhellend und stellenweise sogar erheiternd.
Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa gehören zu den meistdiskutierten Soziologen der Gegenwart. Ihre Bücher wirken weit über eine akademische Öffentlichkeit hinaus. Auch betätigen sich beide mit nicht nachlassendem Einsatz in den Feuilletons als Gegenwartsdiagnostiker.
Andreas Reckwitz, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, sorgte 2017 mit seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ für Furore. Darin entwarf er die Theorie einer Spätmoderne, in der sich der emanzipatorische Impuls der 60er- und 70er-Jahre – der Wunsch nach Überschreitung gesellschaftlicher Konventionen, nach Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung – in den Zwang verwandelt hat, das eigene Leben zu etwas Besonderem, Singulärem zu machen: Wer heute noch Anschluss an die Gegenwart halten will, so seine These, muss den eigenen Individualismus überhöhen, sich unaufhörlich neu erfinden, nach immer neuen Möglichkeiten der Individualisierung suchen. So verwandelt sich, was einst als Befreiung erschien, in Stress.
Hartmut Rosa, Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt, entwarf 2013 in seinem Buch „Beschleunigung und Entfremdung“ wiederum das Bild einer Moderne, in der diese von einer sich unaufhörlich steigernden Beschleunigung des kulturellen, sozialen und politischen Wandels geprägt ist. Inzwischen, so Rosa, sei dessen Tempo so hoch, dass es für die Daseinsentwürfe der Menschen keinerlei Verlässlichkeiten mehr gibt. In einer Welt, in der man nicht mehr weiß, wie sie morgen aussieht und wie man sich in ihr adäquat verhält, wächst unweigerlich das Gefühl der Entfremdung.

Zwei Essays und ein glänzendes Abschlussgespräch

In dem Buch „Spätmoderne in der Krise“ stellen Reckwitz und Rosa ihre Theorien im Zwiegespräch vor. In jeweils einem kürzeren Essay erläutern sie ihre methodischen Ansätze und fassen ihre zentralen Thesen zusammen. Den Abschluss bildet ein Gespräch zwischen beiden, das Martin Bauer von der Zeitschrift „Mittelweg 36“ moderiert. Wer die Arbeiten von Reckwitz und Rosa in den letzten Jahren verfolgt hat, findet hier eine überaus interessante und erhellende Ergänzung.
Als Einstieg in ihr Werk – so viel muss einschränkend gesagt werden – ist das Buch nur bedingt zu empfehlen. Dazu sind die Erörterungen über weite Strecken zu abstrakt: Sowohl Reckwitz wie Rosa kommen in ihren Essays erst nach langen Methoden-Erörterungen zum Kern.

Kontingenztheorie und Achtsamkeitsjargon

Wer bis dahin durchhält, wird gleichwohl belohnt. Andreas Reckwitz erläutert, wie sich seine Analyse der Gegenwart in ein Verständnis der Moderne seit dem 18. Jahrhundert fügt, in dem diese als unaufhörlicher Prozess aus „Öffnung und Schließung von Kontingenzen“ erscheint, das heißt: dass die Moderne für ihn schon immer aus emanzipatorischen Aufbrüchen und deren folgender Verhärtung bestand, und dass es die Aufgabe des Soziologen ist, in den Momenten der Verhärtungen – wie wir sie für Reckwitz heute wieder erleben – nach neuen Öffnungsmodellen zu suchen.
Im Fall von Hartmut Rosa versteht man besser, warum er seine Theorie der Beschleunigung und Entfremdung zuletzt etwa in seinem Buch „Resonanz“ (2016) in eher irritierender Weise mit dem hippen Jargon der Achtsamkeits- und Psycho-Coach-Szene durchsetzte: weil es ihm, wie er in seinem Essay erläutert, darum ging, den analytischen, von oben auf die Gesellschaft gerichteten Blick der Soziologie mit der Perspektive der „ersten Person Singular“ zu verbinden, also mit der Frage: Wie kann jede und jeder Einzelne, wie kann „ich“ ein Verhältnis zur Gesellschaft entwickeln, in dem trotz deren Entfremdungstendenzen ein nicht-entfremdetes Leben möglich ist?

Am Ende geben sie sich sportlich die Hand

Das ist der große Gewinn dieses Buchs: dass man beiden Denkern auch dort, wo man ihren Theorien in den Hauptwerken nicht zu folgen vermag, hier nun mit mehr Verständnis begegnet. In dem von Martin Bauer glänzend moderierten Abschlussgespräch umtasten sie einander, suchen nach Gemeinsamkeiten und Differenzen. Beide einigen sich darauf, dass sie einem prozesshaften Subjekt- und Gesellschaftsbegriff folgen: dass das, was ist, niemals statisch ist, sondern immer im Werden. Doch wird deutlich, dass Reckwitz eine Perspektive darauf fehlt, wie die von ihm analysierten Entfremdungsaspekte der Individualisierung sich in neuen Gemeinschaftserfahrungen aufheben lassen – wogegen Rosa die Utopie der Resonanz setzt, als wenigstens momenthafte Erfahrung des Aufgehens im Miteinander. An der schärfsten Stelle des Gesprächs wirft Reckwitz wiederum Rosa vor, dass nach seinem Modell auch noch der Massenjubel nach „Goebbels’ Sportpalastrede“ als Situation gelingender Resonanz erschiene, woraufhin Rosa hörbar ins Stottern kommt.
Großes Debattenkino! Am Ende geben sich die Kontrahenten aber sportlich die Hand und einigen sich auf die Diagnose, die ihnen der Moderator vorschlägt: dass sie gemeinsam „neue und bis dato unbetretene Beobachtungsfelder“ erschließen.
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