Redakteur ohne Ruhestand

Von Stefan Osterhaus |
Mit 86 Jahren ist Noah Klieger der älteste Journalist Israels. Jeden Tag arbeitet er in der Redaktion der auflagenstarken Zeitung "Yedioth Ahronoth". Neben seinem Beruf hat er noch eine Mission: Als Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz spricht er vor Schülern über seine Erinnerung an die Shoa.
Auf eines hat sich Noah Klieger Zeit seines Lebens verlassen können: auf sein Erinnerungsvermögen. So gut wie nie muss er innehalten, um zu überlegen, beinahe jeden Fakt hat er augenblicklich präsent. Einzelheiten aus einem Gespräch, das wir im Sommer in Tel Aviv führten? Kein Problem. Noah Klieger erinnert sich, wie sich später beim Abhören des alten Tonbandes herausstellt, fast an den Wortlaut der Unterhaltung. 86 Jahre ist Noah Klieger alt. Er überlebte die Shoa, er überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück. Nach Israel kam er mit der Exodus - nicht als einer von 4.500 Flüchtlingen, sondern als Mitglied der Besatzung.

1926 wurde Klieger im Elsass geboren, als Sohn eines Journalisten. Auch er selbst ist Journalist geworden, ein unbestechlicher Chronist, wie diejenigen meinen, die seine Arbeit seit Jahrzehnten kennen. Klieger hat sich nie pensionieren lassen. Er arbeitet noch immer. Werktag für Werktag.

"Ich bin sowieso der älteste Journalist in Israel. Ich bin wahrscheinlich auch das älteste Mitglied einer Redaktion einer Tageszeitung in der Welt. Ich bin kein Mitarbeiter, der ab und zu mal ein Essay schreibt. Ich bin tatsächlich Vollmitglied der Redaktion einer Tageszeitung. Und ich glaube kaum, dass jemand in meinem Alter - ich glaube kaum dass es noch jemanden gibt. Aber da bin ich gar nicht stolz drauf, das ist leider Gottes eine Tatsache."

Zuletzt berichtete Klieger über den Demjanjuk-Prozess
Klieger schreibt für die "Yedioth Ahronoth", die "letzten Nachrichten", die auflagenstärkste Zeitung Israels, die in Tel Aviv gemacht wird. Seit der Gründung der Zeitung ist er dabei. Als Korrespondent verbrachte er einige Jahre in Deutschland. Zuletzt berichtete er aus München über den Demjanjuk-Prozess. Der eigenen Reputation ist sich Klieger durchaus bewusst. Der "Spiegel" bat ihn kürzlich um eine Gastbeitrag zur Wagner-Debatte in Israel. Doch allzu wichtig mag er sich nicht nehmen:

"Auf der Straße werde ich sehr selten erkannt, ist auch nicht richtig - ich werde sogar sehr oft erkannt. Aber ich kann mich nicht vergleichen an irgendeinem Sänger oder einer Sängerin oder eine von einer Reality-Show, die alle sehr berühmt sind - die zwar nichts sind, aber berühmt sind."

Ein Einzelbüro hat er nicht in den Redaktionsräumen. Er sitzt wie die Kollegen, die meisten nicht einmal halb so alt wie er, in einem Großraum. Hier schreibt er. Analysen, oft Kommentare, und wenn er über das Schreiben spricht, dann erzählt er auch, dass er in einer Sprache schreibt, die er sich erst erarbeiten musste:

"Ich musste die Sprache erst mal erlernen, was gar nicht sie einfach ist. Ich kannte ja kein Hebräisch. Dann habe ich in zehn Monaten in der Armee die Sprache aufgefangen. Ich höre Sprachen, ich lerne keine Sprache. Ich habe ein riesiges Gehör und ein fantastisches Gedächtnis."

Das gute Gedächtnis ist Segen und Fluch zugleich
Das Gedächtnis - für ihn, den Journalisten, ist es auf der einen Seite ein Segen. Doch anderseits, sagt Klieger, könne er den Erinnerungen nie entkommen. Er habe Auschwitz überlebt. Aber erlösen davon könne ihn erst der Tod. Doch es hilft, darüber zu sprechen. Zuletzt führte ihn der Weg nach Mecklenburg-Vorpommern - und er war überrascht, wie viele junge Menschen sich dort einfanden, um ihm zuzuhören:

"Ich war in zwei Schulen, mit großem Erfolg. Ich war in der Böll-Stiftung in Rostock, und ich war in Gelbensande, das ist ein Dorf mit 1700 Einwohnern, da kamen über 70. Das war ein sehr guter Erfolg."

Vorträge über die Shoa hält Klieger wöchentlich. Oft führt in der Weg nach Yad Vashem, in die Gedenkstätte der Shoa. Niemals, sagt Klieger, habe er Honorar dafür erhalten. Es ist ihm wichtig, das zu betonen. Denn Erinnerungsarbeit ist für ihn vor allem eines:

"Das ist für ich eine Art Mission. Ich habe mir vorgenommen, vor über 60 Jahren, darüber zu erzählen. Erklären kann ich es nicht. Aber erzählen kann ich, deswegen mache ich es auch. Ich glaube, das ich damit etwas bezwecke, in einer sehr bescheidenen Form. Ich bin ja nur ein Mensch, aber ich rede zu sehr vielen Menschen. Ich habe schon zu Tausenden und Abertausenden gesprochen. Und vielleicht bleibt ja was hängen, das manche begreifen, dass man Menschen nicht hassen soll, und Hass nicht in Mord umschlagen kann."