In der Befragung der IG Metall zum Thema Arbeitszeit im Jahr 2017 nahmen 680.000 Beschäftigte teil. Die Gewerkschaft hält als Fazit fest: Die Menschen wollen mehr Selbstbestimmung und Verlässlichkeit für ihre Arbeitszeit – im Alltag und während des Arbeitslebens. Und sie wollen nicht darum betteln müssen. Laut Befragung ebenso wichtig: Die Beschäftigten wollen kürzer arbeiten. Und sie wollen die großen Abweichungen zwischen tariflich vereinbarter und tatsächlicher Arbeitszeit nicht mehr hinnehmen.
Steigende Flexibilisierungsanforderungen auf der einen Seite, wachsender Leistungsdruck auf der anderen. Wenn beides zusammentrifft, ist es aus mit der Zufriedenheit über die Arbeitszeit.
Betrachtet man die Beschäftigten, die zufrieden mit ihren momentanen Arbeitszeiten sind und dieser Aussage ohne Einschränkung zustimmen und vergleicht diese mit der Gruppe der Beschäftigten, die diese Aussage ohne Einschränkung ablehnen, wird deutlich, welche Relevanz die genannten Faktoren für die Arbeitszeitzufriedenheit haben.
Quelle: Publikation der IG Metall zur Beschäftigtenbefragung 2017 (Mai 2017)
Raus aus dem Hamsterrad
Nur noch 28 Stunden arbeiten - wenn es nach der IG Metall geht, soll das künftig befristet möglich sein. Die Gewerkschaft fordert eine Reduzierung der Arbeitszeit. Ein erfreulicher und richtiger Vorschlag, sagt die Sozialwissenschaftlerin Karin Jurczyk.
Ute Welty: Heute wird in kleiner Runde weiter sondiert. Es geht um die Bereiche Wohnen und Kultur sowie Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Erste Festlegungen zur künftigen Arbeitspolitik hat es bereits gegeben, das Ziel lautet Vollbeschäftigung in Deutschland, allerdings ohne sich auf ein Jahr festzulegen, wann denn dieses Ziel erreicht werde soll. Langzeitarbeitslose will man stärker fördern und das Renteneintrittsalter weiter flexibilisieren.
Überhaupt ist flexibles Arbeiten ein Trendthema, auch die IG Metall steigt mit einer solchen Forderung in die nächste Tarifverhandlung ein. So will man ein Recht auf Teilzeit einführen, zwei Jahre die Arbeitszeit auf 28 Stunden verkürzen und dann aber wieder Vollzeit arbeiten können. Im Auftrag des Arbeitsministeriums beschäftigt sich die Sozialwissenschaftlerin Karin Jurczyk mit unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen, und Karin Jurczyk leitet die Abteilung Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut. Außerdem ist sie beratendes Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Guten Morgen!
Karin Jurczyk: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Eine so konkrete gewerkschaftliche Forderung nach Arbeitszeitverkürzung hat es lange nicht gegeben. Warum entdeckt ausgerechnet die IG Metall diese Thematik neu?
Jurczyk: Die IG Metall hat die Zeichen der Zeit verstanden, weil wir ja eigentlich seit Jahren, wenn nicht mindestens einem Jahrzehnt … Ich glaube, der siebte Familienbericht 2006, war ein einschneidendes Thema darüber, dass eigentlich viele von uns unter Zeitnot leiden. Und es ist besonders erfreulich, dass eigentlich eine so männerdominierte Gewerkschaft sich diesem Thema zuwendet.
Welty: Jetzt kann man ja viel fordern, wenn die Tarifverhandlung lang ist, und auf der anderen Seite ist es ja schon so, dass es etliche Modelle gibt, die flexible Arbeitszeiten zulassen. Ist diese Forderung also weniger realistisch denn öffentlichkeitswirksam?
Jurczyk: Na sagen wir, sie ist hoffentlich beides. Und ich finde, dieses Recht auf befristete Teilzeitarbeit, 28 Stunden, geht vor allen Dingen deshalb in die richtige Richtung und ist so erfreulich, weil ja die dezidierte Begründung dieser Arbeitszeitverkürzung nicht einfach ist, wir möchten weniger arbeiten, sondern diese Gesellschaft braucht Sorgearbeit. Und das ist einigermaßen öffentlichkeitswirksam, aber nichtsdestotrotz unterlegt durch wirklich inzwischen Hunderte von Studien.
Welty: Was meinen Sie genau mit Sorgearbeit?
Jurczyk: Damit meine ich alles, was diese Gesellschaft braucht, damit ihre Kinder, ihre Kranken, ihre alten Menschen gut versorgt werden können, und zwar jenseits der Institutionen, die wir ja auch haben und auch brauchen. Aber es geht nun mal auch um persönliche Beziehungen.
Zeitkonto als mögliches Zukunftsmodell
Welty: Wie möchten Sie denn eine Forderung nach Arbeitszeitverkürzung angegangen wissen?
Jurczyk: Also ich finde zunächst mal so eine Art von Forderung, wie sie von der IG Metall erhoben wird, sehr erfreulich und sehr in die richtige Richtung gehend. Ich gehe aber davon aus, dass wir noch sehr viel mehr brauchen. Ich arbeite ja derzeit ein Modell aus mit meinem Kollegen Ulrich Mückenberger, das nennen wir "atmende Lebensläufe".
Und es geht wirklich noch ein Stück weiter, indem wir uns vorstellen, wenn wir in das Berufsleben eintreten, dass wir über ein Budget verfügen von Zeit – sagen wir jetzt einfach mal, vage gesprochen, zehn Jahre –, und aus dem können wir immer dann, wenn wir es brauchen, Zeit entnehmen. Vor allem für Sorgearbeit, aber auch für Fort- und Weiterbildung, für soziales Engagement, aber auch für Selbstsorge. Und da sind dann solche zwei Jahre, wie gefordert, können durchaus ein Bestandteil sein, aber es ist ein Modell, was den gesamten Erwerbsverlauf umfasst.
Welty: Solche Zeitbudgets müssen ja organisiert werden. Wie kann das geschehen auch und vor allem, wenn man die Firma beispielsweise wechselt?
Jurczyk: Ja, da braucht es eine Art Kontenführung, wie es jetzt auch bei der Rentenkasse ja möglich ist. Das wird ja auch überbetrieblich gesammelt und erhoben. Man muss sich in etwa so eine Institution vorstellen, die tatsächlich überbetrieblich diese Zeiten festhält und auch dokumentiert.
Welty: Was passiert, wenn die Beschäftigten künftig in größerem Umfang von solchen Möglichkeiten Gebrauch machen? Bedeutet das nicht im Umkehrschluss mehr Arbeit und mehr Stress für die Kollegen, die das nicht tun?
Jurczyk: Wissen Sie, ich glaube, man muss das auf den ganzen Lebenslauf sehen. Das bedeutet in dem Moment vielleicht mehr Stress, aktuell. Da wir aber alle irgendwann im Leben in die Situation kommen, dass wir entweder Kinder oder kranke Angehörige oder Eltern haben, gleicht sich das im gesamten Verlauf aus, also dass das …
Welty: Was aber den Kollegen nicht unbedingt in dem Augenblick hilft.
Jurczyk: Nein, aber ich glaube, es ist sehr gut, sozusagen auch langfristig davon auszugehen, dass auch ich irgendwann dieses Recht in Anspruch nehmen möchte, auch zum Beispiel die Fort- und Weiterbildung.
Welty: Was glauben Sie? Sind die, die gerade in Berlin über die nächste Regierung verhandeln, willens und in der Lage, tatsächlich zum Thema Arbeitszeit eine breite gesellschaftliche Debatte anzustoßen?
Jurczyk: Das kann ich nur hoffen. Ich meine, das letzte Arbeitsministerium, geführt von Frau Nahles, hat uns ja tatsächlich ein bisschen optimistisch stimmen können, als es ja da auch zum Beispiel eine Initiierung eines Fördernetzwerks Innovative und Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung gab, die ja unterstützt hat, solche neuen Modelle auch zu entwickeln. Und wir wissen jetzt einfach nicht, in welche Hände das Ministerium kommt und wie sozusagen wirtschaftsdominiert oder dann doch auch eher arbeitnehmerdominiert Forderungen und Politiken entwickelt werden. Ich vertraue ein Stück auf die Grünen, aber wir müssen das wirklich abwarten. Ich bin begrenzt skeptisch.
Abschied von bekannten Mustern fällt oft schwer
Welty: Warum fällt es uns eigentlich so schwer, von den tradierten Mustern Abstand und Abschied zu nehmen?
Jurczyk: Normen haben eine große Kraft. Und Normen bedeuten ja bei uns im Hinblick auf diese Lebensarbeitszeit auch, dass das System der sozialen Sicherung daran gekoppelt ist. Da geht es auch um Geld. Und das ist also nicht nur ein kulturelles Leitbild, dass ich dann ein gutes und richtiges Arbeitnehmerleben führe, wenn ich sozusagen immer durcharbeite, und das möglichst vollzeitig, sondern daran knüpfen sich Erwerbschancen, Karrierechancen und auch Verdienste. Und im Übrigen hat das auch was mit Geschlechterbildern zu tun.
Welty: Inwieweit?
Jurczyk: Na ja, also, ein richtiger Mann ist nach wie vor doch der, der beruflich erfolgreich ist und möglichst viel erwerbstätig ist, möglichst lange und möglichst erfolgreich erwerbstätig ist. Wir haben immer noch diese Klischees, dass Frauen für die Sorgearbeit zuständig sind, Männer eher den Familienernährer machen sollen. Und das sitzt sehr tief, und zwar bei allen beteiligten Akteuren.
Welty: Irgendwie scheinen wir immer noch in der Höhle zu leben!
Jurczyk: Nein, in der Höhle nicht! Es gibt viel Aufbruch, viel Umbruch, viele Ansätze, Modelle, Forderungen. Ich vertraue tatsächlich darauf, dass es treibende Kräfte gibt, und ich vertraue auch auf die jungen Männer, die ja doch, wenn man den Studien Glauben schenken darf, tatsächlich ein anderes Interesse haben, auch in Beziehung zu ihren Kindern und ihren Partnern und Partnerinnen zu sein.
Welty: Die Sozialwissenschaftlerin Karin Jurczyk im "Studio 9"-Gespräch. Mit ihr habe ich gesprochen über die verschiedenen Möglichkeiten, Arbeit zu organisieren. Frau Jurczyk, haben Sie herzlichen Dank!
Jurczyk: Gerne!
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