Reeperbahn-Roman "Große Freiheit"

Der Puffboss, der ein Hippie war

12:48 Minuten
Blick auf die Große Freiheit, eine Seitenstraße der Reeperbahn, im Hamburger Vergnügungsviertel in St. Pauli 1962
Blick auf die Große Freiheit, eine Seitenstraße der Reeperbahn, im Hamburger Vergnügungsviertel in St. Pauli 1962 © dpa / picture alliance / Wolfgang Herold
Rocko Schamoni im Gespräch mit Joachim Scholl |
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Er war eine Reeperbahn-Legende, aber kein normaler Bordellbetreiber - Wolli Köhler wollte den ersten kommunistischen Puff der Welt führen. Der Sänger und Schriftsteller Rocko Schamoni hat ihm mit "Große Freiheit" einen Roman gewidmet.
Joachim Scholl: Wenn man von Allround-Künstlern und -Könnern spricht hier in Deutschland, dann steht er ganz vorne als Musiker, Schauspieler, Entertainer und immer wieder Schriftsteller von schmissigen Büchern. Jetzt gibt es ein neues, einen Roman über die "Große Freiheit". Und genauso heißt das Buch und erzählt natürlich von der Reeperbahn in Hamburg. Dort wohnt Rocko Schamoni schon lange.
Bei der Aufzählung Ihrer Talente und Interessen und Beschäftigungen fehlt noch diese: nämlich Clubbetreiber. In der Hafenstraße haben Sie den Golden Pudel Club geleitet, einen Musikclub, bis vor zwei Jahren. Haben Sie sich auch so ein wenig in Ihren Roman eingefühlt? Dort wimmelt es ja nur so von Clubs – ziemlich andere so vom Profil her, aber immerhin.
Schamoni: Ja, das ist eine andere Welt. Der Pudel Club ist ja, wenn man so will, ein Underground-Club der Kunst- und Popmusikgattung und hat mit dem Rotlicht wenig zu tun, aber durch die Anwesenheit in St. Pauli kriegt man natürlich trotzdem viele Existenzen mit, die zwischen beiden Welten rochieren, sagen wir mal.

Ein Bordell mit politischer Vision

Scholl: Am Anfang Ihres Romans "Große Freiheit", da erstellen Sie eine Personenliste, das ist sehr hilfreich, weil es doch ein echt weit gespanntes Ensemble ist mit Chinesen-Babs und Hoddel Fascher, dem Schweine-Hans und Mauli und Ikke Braun und vielen, vielen anderen. Im Zentrum aber steht Wolfgang "Wolli" Köhler, seine Geschichte erzählen Sie, und diesen Wolli Köhler gab es wirklich. Wer war denn dieser Wolli?
Schamoni: Wolli war ein Hippie-Bordelier, würde ich mal sagen. Er selber hat immer wieder, um es zu vereinfachen, gesagt, dass er Puffboss war. Gleichzeitig war er aber ein Freak, der sich für Kunst, für Politik, für Literatur interessiert hat und sein Bordell zum ersten kommunistischen Puff der Welt machen wollte. Das hat er 1972 zwei Jahre lang probiert, das hat leider nicht funktioniert, das weist aber ein bisschen in die Richtung seines Wesens. Also er war kein klassischer Zuhälter, wie man das so denkt, das hat er weit von sich gewiesen, sondern er war Puffboss mit politischer Vision.
Scholl: Sie haben ihn noch kennengelernt, er ist vor zwei Jahren gestorben mit über 80. Wie hat er denn auf dieses Vorhaben reagiert, einen Roman über ihn zu schreiben?
Schamoni: Gemischt. Er hat mich immer wieder angestoßen, und dann hat er mich wieder gestoppt. Dann hat er gesagt, ich will eigentlich gar nicht, dass du mein Leben beschreibst, weil das wird nachher womöglich ganz anders, als es gewesen ist, und dann hat er wieder gesagt, ich übergebe dir alles, du bist der Einzige, der das Material von mir kriegt. Und ich wusste immer nicht, soll ich jetzt weiterschreiben oder soll ich nicht, und ich hab Interviews aufgenommen. Ich hab’s am Ende dann als Auftrag begriffen, mit allem, was ich von ihm hab – ich hab ja ganz viel aus seiner Wohnung gerettet an Nachlass –, dieses Bild zu beschreiben, so genau, wie ich kann.
Der Künstler Rocko Schamoni steht nach der Aufzeichnung der WDR-Talkshow "Kölner Treff" im Studio.
Der war einfach ein Typ, der eine Aura hatte, sagt Rocko Schamoni.© dpa / picture alliance / Henning Kaiser
Scholl: Er ragt ja wirklich extrem heraus aus diesem Milieu als Persönlichkeit. Sie haben es uns schon geschildert, Herr Schamoni, so dieser Mann mit intellektuellen Interessen, der gelesen und geschrieben hat, ein Maler war er auch und politisch wie gesagt links stehend. Eigentlich hätte er ein prima 68er-Revolutionär werden können. Wie kam denn aber dieser Wolli mit dieser Szene zurecht, in der ja auch das Faustrecht regierte? Sie beschreiben das oft drastisch in vielen Szenen, wo also das Blut fließt und wo es alle Arten von halb- bis hochkriminellen Typen gibt und gab.
Schamoni: Das ist echt merkwürdig bei ihm, weil der war weder groß noch stark, der war 1,68 oder 1,65 groß, echt ein Hemdchen, und wie der das geschafft hat zwischen all diesen harten, vor Testosteron nur so spritzenden Männern zurechtzukommen und nicht eingedampft zu werden, ist mir ein totales Rätsel. Der hatte einen enormen Witz und eine große Offenheit und war dadurch sehr standfest, was Trinken und jede Art von anderen Substanzen anbelangte, und vielleicht hat das sie alle überzeugt. Der war einfach ein Typ, der eine Aura hatte, schnell war, ziemlich humorvoll, und irgendwie hat er das geschafft, da in diesem Feld zu überleben und sogar noch erfolgreich zu sein.

Gewaltauswüchse im Rotlichtmilieu

Scholl: Wie ist er denn mit den Frauen umgegangen? Ich meine, heute ist sozusagen Prostitution … Reeperbahn steht irgendwie so als Synonym für auch sozusagen Demütigung von Frauen und es ist gewaltgetrieben, also man hat ja irgendwie keinen Ruf, wenn man sozusagen Zuhälter ist oder Puffbesitzer.
Schamoni: Ja, es ist eine merkwürdige Mischung bei ihm gewesen. Er selber … Wenn man ihn so kennengelernt hat, würde man nie davon ausgehen, dass er überhaupt jemals Gewalt angewendet hat. Er hat auch mit seiner Frau Linda bis zu ihrem Lebensende total treu zusammengelebt, aber in Interviews hat er auch gesagt, die Alten haben ihn zu Beginn seiner Karriere in den 70-ern gesagt, er soll doch ab und zu mal zulangen, sonst hätten die Frauen vor ihm keinen Respekt. Das hat er angeblich auch gemacht und hat dann gemerkt, dass das nichts bringt oder ihm nicht steht und hat das beendet wieder, während andere ja da – es gibt ja wahnsinnig krasse Gewaltauswüchse, gerade im Rotlichtmilieu. Ich glaube, das war nicht sein Weg, aber ich glaube, er wird es ausprobiert haben. Ich musste im zweiten Teil dieser Trilogie diesem Gewaltaspekt in seinem Leben auf den Zahn fühlen.
Scholl: Das ist sozusagen die Zukunft, es soll ja weitergehen mit Wolli, Sie planen ja sogar eine Trilogie. Jetzt in diesem Roman fangen Sie an mit den Jahren so ab ...
Schamoni: 1960.
Scholl: 1960, genau. Es war aber auch ja die Zeit, muss man sich mal vergegenwärtigen, als Prostitution und Pornografie in Deutschland noch verboten waren. Also Ihre Figuren, wie Sie sie zeichnen, die verstehen sich durchaus da auf der Großen Freiheit als wirklich Freiheitskämpfer auch gegen eine spießige Moral, auch eine spießige Sexualmoral vor allem. War das tatsächlich so, muss man sich die Große Freiheit damals auch so ein bisschen als revolutionäre Zone vorstellen?
Schamoni: Nee, ich glaube, dass Prostitution zu allen Zeiten, auch in dieser Zeit, ein mehr oder weniger Ausbeutungs- oder Selbstausbeutungsgeschäft ist, aber es gab Leute in diesem Milieu, die erkannt haben, dass man dort und in der gesamten Gesellschaft Grenzen einreißen kann, also zum Beispiel was die Vorführung von Erotikfilmen anbelangt. Das hat Wolli tatsächlich in seiner Wohnung zu Hause gemacht, und die Sexualmoral war in Deutschland rigide zu diesem Zeitpunkt. Es gab überhaupt gar nichts, bis Beate Uhse in Flensburg ihr erstes Geschäft aufgemacht hat, und da gab es so ein paar Kuschelfilmchen zu sehen. So was gab es nicht, das war streng verboten. Und Wolli hat dann in seinem Wohnzimmer ein kleines Pornokino aufgemacht und das tatsächlich auch für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und das war eine totale Sensation. Heutzutage geht da niemand mehr hin, das macht man alles zu Hause vor YouPorn, vermute ich, aber damals war das ein Loch in der Wirklichkeit.

Eine literarische Datenbank

Scholl: Es gibt ja ganz viel Lokal- und Zeitkolorit in Ihrem Roman, Herr Schamoni: J.F. Kennedy, der Mauerbau, die "Spiegel"-Affäre, die große Flut, aber auch die Eröffnung des ersten Sexshops von Beate Uhse – Sie haben es schon gerade erwähnt. Wie haben Sie sich eigentlich so dieser Zeit genähert? Wie recherchiert man diese frühen Jahren der Reeperbahn, geht man da in ein Zeitungsarchiv oder?
Schamoni: Nee, ich hab einfach ein Stapel von 60 Büchern angesammelt, von verschiedensten Freunden, bekannten Leuten, unter anderem Fotobücher von Günter Zint und Popmusikbücher von Ulf Krüger, meinem ehemaligen Produzenten, und hab mir wahnsinnig viele Tipps geben lassen. Und dieses Sammelsurium an Büchern wurde immer breiter und größer, ich hatte also eine große Datenbank, wenn man so will, literarische Datenbank, auf die ich zurückgreifen konnte. Ich hab mir das alles durchgelesen, alle Fakten rausgeschrieben, an eine Wand gepinnt, eine fünf Meter breite Pinnwand, die Daten in kleinen Zettelchen dort angebracht, um einen Zeitstrahl zu haben, und hab so langsam so ein ziemlich schwieriges Geflecht an Ereignissen strukturieren können.
Scholl: Und nun stand auf einem dieser Zettel auch das Wort "cool".
Schamoni: Ja, das hatte ich immer im Hinterkopf, dass ich Amerikanismen am Anfang vermeiden muss, weil man schreibt selber, wenn man in Jugend- oder Szenesprache sich ausdrücken will, gerne in Amerikanismen, aber 1960 gab’s das noch nicht, da gab’s das Wort "cool" nicht. Da gab’s vielleicht "angesagt", aber nicht "cool".
Scholl: Das ist eine ganz hübsche Episode, wie Sie schildern, wie Wolli zum ersten Mal das Wort "cool" hört und sagt, was meinst denn du, was ist denn damit gemeint.
Schamoni: Genau.
Scholl: Es kommt natürlich im Zusammenhang mit der Musik, dem Rock’n’Roll, der auf der Großen Freiheit erstmals groß wird in Deutschland, kann man ja wirklich sagen, mit dem Star-Club dann am prominentesten, aber schon zuvor gab es mehrere Clubs: den Kaiserkeller, wo die Beatles erstmals auftraten zum Beispiel, den rufen Sie in Erinnerung. Wolli sieht die, die Beatles, und sagt, oh Gott, ne Kinderband, die werden nie was. War das tatsächlich so, hat er das Ihnen so erzählt?
Schamoni: Also die exakten Fakten und die Wortlaute mit den Beatles sind alle aus der Quelle Ikke Braun, der ja auch in diesem Buch mitspielt. Das ist ein alter Freund von mir, der jetzt auch schon über 80 ist und den ich mit 18 Jahren schon kennenlernen durfte in Lütjenburg an der Ostsee, und der hat mir diese ganzen Wortlaute übermittelt, auch die Gespräche, die teilweise in dem Buch stattfinden. Aber Wolli war eher jemand, der den Beatles quasi bei Konzerten begegnet ist, der hat die privat vermutlich nicht getroffen. Was ich weiß, ist, dass er Tourbegleiter für den Star-Club auf Tournee war, und die von mir beschriebenen Geschichten über die Begleitung auf Tournee bei Gene Vincent, die – hat er zumindest mir erzählt – hat es so gegeben.

"Dieses Hamburg gibt es nicht mehr"

Scholl: Und dann im Star-Club ist John Lennon tatsächlich einmal nur in Unterhosen mit einer Klobrille um den Hals aufgetreten?
Schamoni: Das sind Fakten aus Ulf Krügers Büchern. Das sind Fakten, die, glaube ich, in dem Fall hat das, glaube ich, Horst Fascher erzählt, der hat das erlebt und auch beobachtet.
Scholl: Hoddel Fascher.
Schamoni: Hoddel, genau, also eigentlich Horst, aber Hoddel Fascher, richtig, genau.
Eingang zum legendären "Star-Club" auf der Großen Freiheit in Hamburg-St. Pauli im Jahr 1964
Eingang zum legendären "Star-Club" auf der Großen Freiheit in Hamburg-St. Pauli im Jahr 1964© dpa / picture alliance / Lothar Heidtmann
Scholl: Es sind die frühen 1960er-Jahre, wie gesagt, und eben auch die frühen ersten Jahre von Wolli Köhler auf der Großen Freiheit, es ist aber auch ein Hamburg-Roman geworden, Herr Schamoni. Da haben Sie doch viel Zeit und Liebe drauf verwandt, diese Zeit noch mal ins Bild zu setzen.
Schamoni: Ja, ich will damit gar nicht Hamburg-Werbung machen und ich will auch allen Zuhörern sagen, wenn sie nach Hamburg kommen wollten, um dem auf den Grund zu gehen, was sie in dem Buch lesen, gelesen haben: Es gibt das alles nicht mehr. Ich gehöre nicht zum Hamburg-Tourismusmarketing, im Gegenteil, ich möchte warnen, das ist alles weg. Aber dieser Zeitpunkt, 1960 bis 1970 oder bis 75, das war ein sehr spannender Zeitpunkt, vor allen Dingen die frühen 60er, weil durch den Star-Club kamen Bands nach Hamburg, die es in dieser Formierung in Hamburg und in Deutschland nie wieder gegeben hat. Sie müssen sich vorstellen, der Star-Club war zu diesem Zeitpunkt einer der drei coolsten Clubs der gesamten Welt, verstehen Sie? Also das war nicht einfach nur in Deutschland ein okayer Club, sondern es sind die ganzen großen, die größten amerikanischen Stars bis auf Elvis Presley nach Deutschland gekommen, weil sie in diesem super, super, super angesagten Club spielen wollten. Das muss man sich mal vorstellen, das war auf Augenhöhe mit New York. Das war wirklich ein angesagtes Ding. Und das ist eine spannende Sache.
Scholl: Werden wir denn davon auch weiter lesen in den nächsten Bänden? Sie haben schon gesagt, es soll weitergehen mit Wollis Geschichte, soll eine Romantrilogie am Ende sein. Sitzen Sie schon an der Fortsetzung?
Schamoni: Ja, ich sitze an der Fortsetzung, am zweiten Teil, aber ich verirre mich am Anfang, wenn ich ein Buch anfange, häufig über Hunderte von Seiten und laufe in falsche Richtungen. Ich bin mir jetzt gar nicht sicher, ob die von mir bis jetzt geschriebenen 60 Seiten gut oder richtig sind, vielleicht muss ich wieder von vorne anfangen. Ich suche da ewig lange, bis ich den Ton gefunden habe. Begonnen habe ich.
Scholl: Dann drücken wir auf jeden Fall dafür die Daumen, aber erst mal Glückwunsch und alles Gute für diesen ersten Teil, Herr Schamoni! Die "Große Freiheit", der neue Roman von Rocko Schamoni, ist bei hanserblau erschienen, 288 Seiten der Umfang, 20 Euro der Preis.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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