Referendum in Tunesien

Was bleibt vom Arabischen Frühling?

10:28 Minuten
Tunesiens Präsident Kais Saied, begleitet von seiner Ehefrau und mehreren Leibwächtern, geht durch eine mit Wimpeln geschmückte Straße auf die Kamera zu.
Griff nach mehr Macht: Tunesiens Präsident Kais Saied mit seiner Ehefrau Ichraf Chebil am Tag des Referendums © picture alliance / AA / Tunesian Presidency / Handout
Sarah Mersch und Amor Ben Hamida im Gespräch mit Gabi Wuttke · 25.07.2022
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Tunesiens Präsident Kais Saied will mit einem Verfassungsreferendum seine Macht vergrößern. Die Journalistin Sarah Mersch fürchtet um Errungenschaften des Arabischen Frühlings. Der Schriftsteller Amor Ben Hamida befürwortet den Plan des Präsidenten.
Rekord-Inflation, steigende Preise für Energie und Lebensmittel, eine lahmende Wirtschaft, immense Arbeitslosigkeit: Tunesien hat mit vielen Problemen zu kämpfen. Präsident Kais Saied erklärte im Sommer 2021 den Notstand und setzte die Regierung ab. Nun hat er seine Bevölkerung aufgerufen, einer Verfassungsänderung zuzustimmen, die seine Macht gegenüber dem Parlament erheblich stärken soll.

Machtkonzentration an der Spitze

Für das Referendum zeichnet sich eine breite Mehrheit ab, bei allerdings schwacher Wahlbeteiligung. Kritiker befürchten, dass der Präsident sich mit Hilfe der neuen Verfassung zu einem neuen Diktator aufschwingt . Tatsächlich wolle Saied ein anderes Herrschaftssystem einführen, das mehr Entscheidungsgewalt in der Person des Präsidenten konzentriere, sagt die Journalistin Sarah Mersch.
Nachdem der frühere Machthaber Ben Ali im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 gestürzt wurde, habe Tunesien sich bewusst für ein hybrides System entschieden, das die Macht zwischen Parlament und Präsident verteile, "damit es eben nicht mehr so einen starken Herrscher an der Spitze des Staates geben wird", erklärt Mersch. Die neue Verfassung würde dem Präsidenten wieder sehr viel mehr Rechte zubilligen und sie sehe nicht einmal die Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens vor.
Gerade die tunesische Kulturszene sei seit dem Arabischen Frühling aufgelebt, sagt Mersch. Nach dem Wegfall der Zensur habe sich eine große Kreativszene mit alternativer Musik, Theater, Dokumentarfilm und Galerien für zeitgenössische tunesische Kunst entwickelt, vor allem in der Hauptstadt Tunis, aber auch in anderen Städten. Nun befürchtet Mersch den Verlust solcher Errungenschaften.
Dem Referendum am 25. Juli gingen Proteste voraus, dezidiert kulturelle Initiativen habe sie jedoch nicht beobachtet, so die Journalistin. In der Bevölkerung finde Präsident Saied mit seinen Plänen im Übrigen durchaus Zustimmung. Viele Menschen seien frustriert wegen fehlender Arbeit und steigender Preise, manche sehnten sich deshalb sogar nach der Regentschaft Ben Alis zurück. Hinzu komme eine jahrelange Blockadepolitik zwischen Präsident und Parlament, die einen Neuanfang verhindert habe.

Noch nicht reif für die Demokratie?

Der in der Schweiz lebende tunesische Schriftsteller Amor Ben Hamida hält Kais Saieds Vorhaben vor diesem Hintergrund für "absolut richtig". Der Versuch, nach 2011 eine Demokratie nach europäischem Vorbild einzuführen, sei gescheitert. Das sei traurig, "aber ich glaube, wir sind noch nicht reif dafür", so Hamida.
In den letzten zehn Jahren habe Tunesien elf oder zwölf Regierungen kommen und gehen sehen. Eine Mehrheit in der Bevölkerung glaube deshalb nicht mehr an den Erfolg des parlamentarischen Systems und sage: "Wir müssen jemanden haben mit harter Hand", beobachtet Hamida. "Das Wort 'harte Hand' wird so oft ausgesprochen, dass es mir einerseits Sorge macht", sagt der Schriftsteller. "Auf der anderen Seite sage ich: Wenn es nicht anders geht, müssen wir diesen Weg vielleicht nochmal versuchen."
(fka)

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