Refik-Veseli-Schule in Berlin-Kreuzberg

Gelungener "School Turnaround"

Schüler in der Skalitzer Straße in Berlin-Kreuzberg
Schüler in der Skalitzer Straße in Berlin-Kreuzberg © Imago
Von Susanne Arlt |
Geringe Anmeldezahlen, wenig Lernbereitschaft, hohe Fehlquoten der Schüler und schwache Leistungsergebnisse: Weil es an zehn Berliner Schulen nicht rund lief, wurde das "School Turnaround"-Programm gestartet. Dass die Kombination aus besonders geschulten Lehrkräften und individualisiertem Unterricht hilft, zeigt das Beispiel der Refik-Veseli-Schule in Berlin-Kreuzberg.
"An euch hätte ich die Frage, was ist denn eigentlich Widerstand? Was meint ihr, was ist Widerstand …"
Ein kurzer, fragender Bick in die Runde.
"Sich gegen irgendwas zu wehren."
Fabian Schnedler nickt, will von den 16 Schülerinnen und Schülern wissen, gegen wen oder was man denn Widerstand leisten sollte. Diesmal kommt die Antwort nicht ganz so schnell.
"Vielleicht kann es ja sein, dass zum Beispiel hier in Kreuzberg früher die Gastarbeiter nicht so viele Rechte hatten und die haben protestiert dagegen. Das wäre ein Beispiel in der Geschichte, wo sich Menschen gewehrt haben… "
Der Dozent von der Akademie des Jüdischen Museums in Berlin wägt ab, deutet dann auf den Flip-Chart hinter ihm an der Wand. Auf einem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto sieht man eine aufgebrachte Menschenmenge.
Schüler der Refik-Veseli-Schule in Berlin-Kreuzberg.
Schüler der Refik-Veseli-Schule in Berlin-Kreuzberg.© Refik-Veseli-Schule
"Alicandes, was siehst du da?"
"Das Zeichen der Nazis."
"Aha, die Flagge, das Hakenkreuz. Was fällt auf? Ein Hakenkreuz mit drei Strichen durch, was soll das bedeuten?"
"Dass es so aussieht, als würden sie es gerade so runter reißen."
"Es sieht so aus, als ob die Leute gegen den Nationalsozialismus protestieren wollen, sie
wollen halt nicht mitmachen…"
Unterricht einmal anders. Jeden Montagnachmittag sitzen die 16 Schüler nicht wie gewohnt in ihren Klassenzimmern, sondern lernen in den Räumen der Akademie des Jüdischen Museums in Berlin. Geschichtswerkstatt heißt diese ungewöhnliche Schulstunde, die freiwillig ist. Im Unterricht geht es um jüdisches Leben oder jüdische Tradition, aber auch um Themen wie Diskriminierung, Vorurteile oder Ausgrenzung.

Jahrelanger Problemfall

Seit fünf Jahren verbindet die Refik-Veseli-Sekundarschule und das Jüdische Museum Berlin diese enge Bildungspartnerschaft. Beide Seiten würden voneinander lernen, betont Fabian Schnedler.
Was er nicht erwähnt: Die Sekundarschule in Berlin-Kreuzberg galt jahrelang als Problemfall.
"Vor ungefähr sechs Jahren gab es eine Studie vom jüdischen Museum, dass Antisemitismus hier ganz groß war."
Seit vier Jahren leitet Ulrike Becker die Refik-Veseli-Sekundarschule. Lange Zeit war es verpönt, diese Schule zu besuchen. 2010 war sie aus einer Zwangsfusion zweier Schulen entstanden. Dem Lehrerkollegium fiel das Zusammenwachsen damals schwer, um den Posten des neuen Schulleiters wurde gestritten und schließlich gerieten auch noch die Schüler in die Schlagzeilen: "Erste Schule in Deutschland ohne deutsche Schüler" titelten die Zeitungen. Oder "Unterrichtssprache: Türkisch".
Fakt ist: Fast 30 Prozent der Schüler schaffte keinen Abschluss, die Zahl der Neu-Anmeldungen ging drastisch zurück. Es kursierten viele Gerüchte, erinnert sich Schulleiterin Ulrike Becker.
"Dass hier sehr gewalttätige Schülerinnen und Schüler seien. In Nachbarbezirken wurde von Schulen gesagt, wenn du dich nicht benimmst, musst du in die Schule an der Skalitzer Straße. Es gab auch Äußerungen von Mitarbeitern von Ämtern, die gesagt haben, bevor ich mein Kind dahin schicken würde, würde ich es lieber zuhause lassen."

Brennpunktschulen wieder auf die Beine helfen

Ulrike Becker bewarb sich trotzdem um den vakanten Schulleiterposten und bekam den Job. Zeitgleich startet das Pilotprojekt "School-Turnaround". Die Robert-Bosch-Stiftung und die Berliner Bildungsverwaltung haben es gemeinsam entwickelt, um Brennpunktschulen wieder auf die Beine zu helfen. Neben der Refik-Veseli-Schule nehmen noch sechs andere integrierte Sekundarschulen und drei Grundschulen teil.
Alle haben ganz ähnliche Probleme: ein schlechtes Schulmanagement, viel Unterrichtsausfall, geringe Lernbereitschaft der Schüler, schlechte Abschlüsse und hohe Abbruchquoten. Ulrike Becker, eine ausgewiesene Inklusionsexpertin und für ihre innovativen Ideen bekannt, konnte die zusätzliche Hilfe gut gebrauchen. Zum Beispiel für die Fortbildung ihrer Lehrkräfte.
"Vorher gab es hier mehr Frontalunterricht, wie man es so klassisch kennt, wo alle im Gleichschritt lernen. Und da brauchten die Lehrer Fortbildungen, um umzustellen auf individualisierende Unterrichtsformen. Wo es darum geht, wie passt sich die Schule an, damit Schülerinnen und Schüler gut lernen können?"
Wer denkt, man würde damit das Pferd von hinten aufzäumen, der irrt, sagt Klaus Brunswicker. Er ist einer von zehn Experten, die im Rahmen des Turnaround-Programms den Schulen beratend zur Seite stehen.
Brunswicker, inzwischen pensioniert, war selber viele Jahre lang Schulleiter. Anfangs kam er zwei Mal in der Woche, inzwischen seien seine Besuche seltener geworden, sagt er.
"Ich glaube, wenn man eine etwas differenziertere Schülerschaft hat, dann geht man auch mit dem Programm wie individuelles Lernen anders ran. Wenn ich nur Schüler habe, die sehr schwach sind, die unter Umständen auch mit der deutschen Sprache hadern, dann schraube ich auch mein Niveau irgendwann runter und mache es mir sehr einfach. Jetzt sind aber auch die Lehrer aufgefordert, differenzierter zu arbeiten, stärker auf die Begabungsprofile der einzelnen Schüler zu achten und ich glaube, das macht auch einfach Schule aus, das ist ein ganz wichtiger Prozess."

Viele Lehrer waren frustriert

Zu Beginn des Programms haben er und Ulrike Becker viel darüber nachgedacht, wie man vor allem das Kollegium motivieren kann. Viele Lehrer waren frustriert, fühlten sich überfordert. Becker und Brunswicker etablierten darum ein mittleres Schul-Management.
"Ich denke, eine Schule braucht eine breit aufgestellte Verteilung von Verantwortlichkeiten. Es ist ein ganz wichtiger Punkt im Rahmen dieses Veränderungsprozesses gewesen, Lehrer als Leiter von Fachkonferenzen, als Fachbereichsleiter aufzustellen. Und was dann gelungen ist, Verantwortlichkeiten zu delegieren und dass eben nicht nur alles die Schulleiterin macht, sondern dass eine ganze Reihe von Kollegen in die Leitung dieser Schule miteingebunden werden."
Genauso eingebunden werden sollten aber auch die Schüler. Das neue Schulprogramm fußt darum auf Demokratie, Transparenz und Partizipation.
Zweimal im Monat tagt die sogenannte Assembly. Dann versammeln sich Schüler und Lehrer in der Aula. Die Teilnahme ist Pflicht, der Unterricht läuft aber ganz anders ab.
"Das, was am meisten da Spaß macht, ist, dass wir Schüler uns da hauptsächlich am meisten beteiligen. Was für Themen da jetzt besprochen werden sollen, entscheiden wir. Dass wir es selbst gestalten können."
Sagt Noura Mokahel, die gemeinsam mit sechs Mitschülern die Assembly moderiert. Auch die Themen bestimmen sie.
"Über die Welt, über Politik, den Musiker, der gerade gehypt wird, das Wunschvideo, also alle Themen, die auch Interesse wecken bei den Schülern, und dann wird das halt 40 Minuten moderiert von den Schülern. Es läuft da einfach eher lockerer ab im Assembly, so dass es Spaß macht. Uns, den Lehrern und den Schülern."

Einzigartiges Projekt in der Berliner Schullandschaft

Ein ziemlich einzigartiges Projekt in der Berliner Schullandschaft. Das Format sei identitätsstiftend, sagt die Schulleiterin. Viele Schüler seien stolz auf den demokratischen Ansatz an ihrer Schule.
"Und dann ist ganz wichtig, dass zum Beispiel Schülerinnen und Schüler selber Schulregeln erarbeiten, dass die Schüler den Umgang mit Handys in der Schule erarbeitet haben als Beitrag zur Schulordnung und jetzt aktuell wird gerade von Schülern erarbeitet, Regeln für den Umgang miteinander in sozialen Netzwerken."
Ihr oberstes Ziel aber bleibt: Den Teufelskreis der schulischen Segregation zu durchbrechen. Darum war es ihr so wichtig, die Sekundarschule um eine gymnasiale Oberstufe zu erweitern. Jede Schule sollte die soziale Struktur des Stadtteils widerspiegeln, sagt Becker.
"Als ich hierher kam, gab es einen deutschen Schüler an der Schule. Und jetzt ist die Schülerschaft schon sehr heterogen und wir haben Kinder mit Gymnasialempfehlung, aber genauso Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, auch Kinder mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung."
Hayat Omeirate hat fünf Kinder. Die drei jüngsten sind noch auf der Refik-Veseli-Schule. Die gebürtige Libanesin findet es gut, wenn nicht nur Türkisch, sondern auch Deutsch auf dem Pausenhof gesprochen wird.
"Auf jeden Fall, weil die Schüler kommen mit mehreren Sprachen an, dann wird hier Deutsch gesprochen, vielleicht da Türkisch, da drüben Arabisch, und das ist besser, wenn Deutsche dabei sind, das unterstützt sehr. Das ist meine Erfahrung."
Um den schlechten Ruf loszuwerden und die Segregation zu stoppen, mussten Ulrike Becker und ihr Kollegium ungewöhnliche Maßnahmen treffen. Sie luden die Eltern der benachbarten Grundschulen zur Zusammenarbeit ein, bildeten gemeinsam eine Schulentwicklungsgruppe, die bis heute regelmäßig tagt.
Ein Lehrer wechselte für zwei Jahre an die Fichtelgebirge-Grundschule und erleichterte so vielen Sechstklässlern den Übergang in die Sekundarschule. Bei Heike Fischer und ihrer zwölfjährigen Tochter ist der Plan aufgegangen.
"Was für mich als Elternteil auch wichtig ist, wenn ich das Gefühl habe, ich bin hier willkommen, ich darf mich hier einbringen, und darf auch meine Wünsche und Vorschläge machen. Ich kriege so von anderen Schulen mit, wo Elternarbeit gar nicht so erwünscht ist, wo die Schulleiter einfach ihr Ding machen und das ist, glaube ich, kontraproduktiv."

Tandems aus Lehrern und Sozialpädagogen

Eine heterogene Schülerschaft sei genauso wichtig wie eine heterogene Lehrerschaft, betont Schulleiterin Ulrike Becker. Inzwischen unterrichten an der Refik-Veseli-Schule Lehrer mit einer Real- und Hauptschulausbildung, Studienräte mit einer Gymnasialausbildung und Sonderpädagogen.
"Die bringen wir in Tandems und versuchen sozusagen immer ein Klassenlehrerteam aus Studienräten und pädagogisch erfahrenen, sprich Hauptschullehrern oder Sonderpädagogen zusammenzubringen. Das wirkt sich sehr positiv aus auf die Unterrichtsqualität, auf die Förderung der Schüler, aber auch vor allen Dingen auf die Zufriedenheit der Lehrkräfte, weil die so untereinander einen sehr guten Austausch haben und sich gegenseitig befruchten."
Nach vier Jahren ist der Turnaround gelungen, ist sich Schulexperte Klaus Brunswicker sicher. In Zahlen bedeutet das: Nicht mehr 30, sondern zehn Prozent der Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Nicht mehr dreizehn sondern 83 Neuanmeldungen liegen auf dem Tisch der Schulleiterin. Und für ihr soziales Klima erhält die Refik-Veseli-Schule inzwischen Bestnoten von der Schulinspektion.
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