Reflex des Fremdschämens
"Ja, mein Name ist Uwe Wöllner. Auf den folgenden Seiten werde ich Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen. Krasses Affenwerk, Menschenskind!"
Uwe Wöllner spricht wie ein Sechstklässler, der cool wirken will. Genauer gesagt: wie ein Sechstklässler aus den Achtzigern, der mit Sprücheklopferfilmen aufgewachsen ist – den Prügelkomödien von Bud Spencer und Terrence Hill zum Beispiel. Uwe schaut naiv in die Welt, er ist meistens gut drauf. Am Anfang seiner Lebensgeschichte allerdings nicht.
"Gleich wär´n alle zu Hause. Alle außer Mama. Mama war tot. Eine Hockeykugel hatte ihr am Nachmittag den Schädel zertrümmert. Unverzüglich macht sich die Last im Hals wieder breit. Ich nahm erneut einen Zug Asthmaspray. Es wummerte im Kopf und in den Beinen."
Uwe wüsste gerne Einzelheiten: Wie das Gesicht seiner Mutter aussieht, wo genau sie der Hockeyball getroffen hat. Er malt sich alle Möglichkeiten in seiner Fantasie aus. Das ist natürlich morbid, skurril, ein bisschen verrückt. Aber dahinter steckt ein ernsthaftes Bedürfnis: Uwe will Abschied nehmen. Der Tod seiner Mutter löst mehr aus als er selbst denkt.
Uwe wagt sich in die Welt hinaus. Sein Vater besorgt ihm einen Job bei einem Bestattungsunternehmer. Uwe will einer von Trauer gezeichneten jungen Frau helfen, sie – ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen – ermutigen sich die Leiche ihres Vaters noch einmal anzusehen.
"Der Witz ist ja, fügte ich hinzu, dass die Hinterbliebenen zwar noch lebendig sind, aber genau wie Sie gerade voll das Wrack. Also jetzt optisch. Und Ihr Vater ist tot, sieht aber aus wie das blühende Leben. Verstehen Sie?"
Uwe kennt keine Pietät, keine Höflichkeit, keinen Respekt vor der Privat- oder Intimsphäre des Anderen. Deshalb wirkt er oft peinlich. Die Menschen in seiner Umgebung verzweifeln bei dem Versuch ihn zu erziehen. Aber Uwe weigert sich. Er ist ein Anarchist, ein Desperado in der Welt der Umgangsformen. Einmal formuliert er so etwas wie einen philosophischen Leitgedanken:
"Alle, die angeblich ihr Leben in den Griff bekommen, sind lediglich im Griff des Lebens. Das Leben hält sie am Adamsapfel fest und lässt sie in der Luft baumeln."
Christian Ulmen findet für Uwes eher unterkomplexen Geist so viele Zwischentöne, dass man das über vierstündige Hörbuch problemlos am Stück laufen lassen kann, ohne sich zu langweilen. Die anderen Charaktere – den Vater, den Bestattungsunternehmer, die Prostituierte – setzt Ulmen deutlich ab, gibt ihnen aber keine Facetten, die über die Wahrnehmung seines Antihelden hinaus gehen. Alle kommen nur vor, weil sie zu Uwes Welt gehören.
Vordergründig setzt Ulmen auf den Reflex des so genannten Fremdschämens. Auf den wohligen Schmerz, den der Leser oder Hörer empfindet, wenn sich Uwe hemmungslos in extrem peinliche Situationen begibt – und man sich ein ganz kleines Stück doch mit ihm identifiziert. Doch Uwe Wöllner ist mehr als eine Knallcharge, sondern ein reiner Tor, der die Welt auf seine Weise wahrnimmt. Als Uwe erstmals ein Bordell betritt, betrachtet er die Menschen dort ohne jedes Vorurteil.
"Bist du auch eine prostituierte Mitarbeiterin des Hauses?, fragte ich weiter.
- Nee, ich bin die Köchin und die gute Seele von dat Janze hier.
Ursula wischte mit einem Stück Küchenpapier über den Esstisch.
Und warum bist du keine Prostituierte?, fragte ich nach.
- Oooch, ich bin zu alt.
Man ist immer so alt wie man sich fühlt.
- Jaja.
Also, für mich könntest du gut noch als Nutte durchgehn."
Das ist für Uwe ein ernst gemeintes Kompliment. Und es kommt bei Puffmutter Ursula auch so an. Uwe Wöllner gehört wie die anderen Charaktere, die Christian Ulmen erschaffen hat, zu einem neuen Genre, das sich vielleicht als "authentische Comedy" bezeichnen lässt. Komiker konzipieren Kunstfiguren, suchen den Kontakt mit echten Menschen, verzerren ihren Alltag, bringen sie in ungewohnte Situationen. Manchmal geschieht das in aufklärerischer Absicht wie bei Sascha Baron Cohen als kasachischer Journalist Borat oder Modeschwuchtel Brüno. Auch Hape Kerkeling deckt als niederrheinischer Lokalzeitungsprolet Horst Schlämmer Funktionsweisen von Politik und Medien auf.
Uwe Wöllner ist bei aller Lust an Provokation und Ekel menschenfreundlicher. Er hat auch tragische und poetische Seiten. Uwe verliebt sich im Bordell, gibt sein ganzes Geld für Malina aus und muss deshalb eine Woche lang von 15 Erdnussflips leben.
"Jeder Flip hatte elf Kilokalorien, das stand auf der Tüte. Ich beschloss, mit einer Tagesration von zwei Flips auszukommen. Darum blieb einer übrig, den ich für den Notfall im Badezimmerschrank zurücklegte."
Da zwei Erdnussflips nur ein Hundertstel dessen enthalten, was ein Mensch pro Tag essen sollte, reduziert Uwe alle Tätigkeiten und bleibt im Bett. In seiner Gedankenwelt verhält er sich logisch. Wenn man in sie eintaucht, schimmert hinter den grotesken Momenten eine zarte, traurige Liebesgeschichte durch.
"Am fünften Tag musste ich so sehr an Malina denken wie an keinem anderen Tag. Ich hatte jede Nacht von ihr geträumt. Ich beschloss, nicht zur Toilette zu gehen, nicht den Ferni anzumachen, noch weniger nachzudenken. Ich wollte alle Energiereserven aufsparen, um heute einmal onanieren zu können."
Besprochen von Stefan Keim
Christian Ulmen: "Für Uwe" (Hörbuch)
Gelesen von Uwe Wöllner.
Argon Verlag, 2009
Laufzeit 268 Minuten, 19,95 Euro
"Gleich wär´n alle zu Hause. Alle außer Mama. Mama war tot. Eine Hockeykugel hatte ihr am Nachmittag den Schädel zertrümmert. Unverzüglich macht sich die Last im Hals wieder breit. Ich nahm erneut einen Zug Asthmaspray. Es wummerte im Kopf und in den Beinen."
Uwe wüsste gerne Einzelheiten: Wie das Gesicht seiner Mutter aussieht, wo genau sie der Hockeyball getroffen hat. Er malt sich alle Möglichkeiten in seiner Fantasie aus. Das ist natürlich morbid, skurril, ein bisschen verrückt. Aber dahinter steckt ein ernsthaftes Bedürfnis: Uwe will Abschied nehmen. Der Tod seiner Mutter löst mehr aus als er selbst denkt.
Uwe wagt sich in die Welt hinaus. Sein Vater besorgt ihm einen Job bei einem Bestattungsunternehmer. Uwe will einer von Trauer gezeichneten jungen Frau helfen, sie – ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen – ermutigen sich die Leiche ihres Vaters noch einmal anzusehen.
"Der Witz ist ja, fügte ich hinzu, dass die Hinterbliebenen zwar noch lebendig sind, aber genau wie Sie gerade voll das Wrack. Also jetzt optisch. Und Ihr Vater ist tot, sieht aber aus wie das blühende Leben. Verstehen Sie?"
Uwe kennt keine Pietät, keine Höflichkeit, keinen Respekt vor der Privat- oder Intimsphäre des Anderen. Deshalb wirkt er oft peinlich. Die Menschen in seiner Umgebung verzweifeln bei dem Versuch ihn zu erziehen. Aber Uwe weigert sich. Er ist ein Anarchist, ein Desperado in der Welt der Umgangsformen. Einmal formuliert er so etwas wie einen philosophischen Leitgedanken:
"Alle, die angeblich ihr Leben in den Griff bekommen, sind lediglich im Griff des Lebens. Das Leben hält sie am Adamsapfel fest und lässt sie in der Luft baumeln."
Christian Ulmen findet für Uwes eher unterkomplexen Geist so viele Zwischentöne, dass man das über vierstündige Hörbuch problemlos am Stück laufen lassen kann, ohne sich zu langweilen. Die anderen Charaktere – den Vater, den Bestattungsunternehmer, die Prostituierte – setzt Ulmen deutlich ab, gibt ihnen aber keine Facetten, die über die Wahrnehmung seines Antihelden hinaus gehen. Alle kommen nur vor, weil sie zu Uwes Welt gehören.
Vordergründig setzt Ulmen auf den Reflex des so genannten Fremdschämens. Auf den wohligen Schmerz, den der Leser oder Hörer empfindet, wenn sich Uwe hemmungslos in extrem peinliche Situationen begibt – und man sich ein ganz kleines Stück doch mit ihm identifiziert. Doch Uwe Wöllner ist mehr als eine Knallcharge, sondern ein reiner Tor, der die Welt auf seine Weise wahrnimmt. Als Uwe erstmals ein Bordell betritt, betrachtet er die Menschen dort ohne jedes Vorurteil.
"Bist du auch eine prostituierte Mitarbeiterin des Hauses?, fragte ich weiter.
- Nee, ich bin die Köchin und die gute Seele von dat Janze hier.
Ursula wischte mit einem Stück Küchenpapier über den Esstisch.
Und warum bist du keine Prostituierte?, fragte ich nach.
- Oooch, ich bin zu alt.
Man ist immer so alt wie man sich fühlt.
- Jaja.
Also, für mich könntest du gut noch als Nutte durchgehn."
Das ist für Uwe ein ernst gemeintes Kompliment. Und es kommt bei Puffmutter Ursula auch so an. Uwe Wöllner gehört wie die anderen Charaktere, die Christian Ulmen erschaffen hat, zu einem neuen Genre, das sich vielleicht als "authentische Comedy" bezeichnen lässt. Komiker konzipieren Kunstfiguren, suchen den Kontakt mit echten Menschen, verzerren ihren Alltag, bringen sie in ungewohnte Situationen. Manchmal geschieht das in aufklärerischer Absicht wie bei Sascha Baron Cohen als kasachischer Journalist Borat oder Modeschwuchtel Brüno. Auch Hape Kerkeling deckt als niederrheinischer Lokalzeitungsprolet Horst Schlämmer Funktionsweisen von Politik und Medien auf.
Uwe Wöllner ist bei aller Lust an Provokation und Ekel menschenfreundlicher. Er hat auch tragische und poetische Seiten. Uwe verliebt sich im Bordell, gibt sein ganzes Geld für Malina aus und muss deshalb eine Woche lang von 15 Erdnussflips leben.
"Jeder Flip hatte elf Kilokalorien, das stand auf der Tüte. Ich beschloss, mit einer Tagesration von zwei Flips auszukommen. Darum blieb einer übrig, den ich für den Notfall im Badezimmerschrank zurücklegte."
Da zwei Erdnussflips nur ein Hundertstel dessen enthalten, was ein Mensch pro Tag essen sollte, reduziert Uwe alle Tätigkeiten und bleibt im Bett. In seiner Gedankenwelt verhält er sich logisch. Wenn man in sie eintaucht, schimmert hinter den grotesken Momenten eine zarte, traurige Liebesgeschichte durch.
"Am fünften Tag musste ich so sehr an Malina denken wie an keinem anderen Tag. Ich hatte jede Nacht von ihr geträumt. Ich beschloss, nicht zur Toilette zu gehen, nicht den Ferni anzumachen, noch weniger nachzudenken. Ich wollte alle Energiereserven aufsparen, um heute einmal onanieren zu können."
Besprochen von Stefan Keim
Christian Ulmen: "Für Uwe" (Hörbuch)
Gelesen von Uwe Wöllner.
Argon Verlag, 2009
Laufzeit 268 Minuten, 19,95 Euro