Fünf Jahre Reform des Sexualstrafrechts
Laut Bundesjustizministerium gab es zwischen 2015 und 2019 fast 20.000 mehr Ermittlungsverfahren zur sexuellen Selbstbestimmung – insgesamt fast 57.000. © imago / Christian Mang
Die Bilanz fällt ernüchternd aus
08:07 Minuten
2016 wurde das Sexualstrafrecht reformiert. „Nein heißt Nein“ war der Leitgedanke. Opfer sollten besser geschützt und Täter konsequenter bestraft werden. Nach fünf Jahren hat sich für Betroffene aber nur wenig verbessert.
Ein aufgedrängter Kuss. Der Griff zwischen die Beine beim Geschäftsessen. Eine Vergewaltigung, gegen die sich das Opfer körperlich nicht zur Wehr setzt. Bis vor fünf Jahren war all das nicht strafbar. Seit 2016 heißt es nun: Nein heißt Nein. Susanne Bunke ist Referatsleiterin für Sexualstrafrecht im Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz und war aktiv an der Reform beteiligt.
„Die sexuelle Selbstbestimmung ist eben nicht nur dann verletzt, wenn ein Täter einen entgegenstehenden Willen mit Nötigung überwindet, also Gewalt oder mit Drohung mit Gewalt. Wir haben auch weitere Straftatbestände geregelt. Das sind Straftatbestände, in denen das Opfer gar nicht in der Lage ist, Nein zu sagen, weil zum Beispiel ohnmächtig oder unter Drogen oder nicht zumutbar, weil es zum Beispiel unter Druck gesetzt worden ist durch Drohung mit einem empfindlichen Übel.“
Massive Lücke im Strafgesetzbuch
Das heißt: Auch ohne Gewaltanwendung, wenn die Tat überraschend war oder das Opfer sich nicht gewehrt hat, kann es nun zu Verurteilungen kommen. Hinzu kommt ein ganz neuer Straftatbestand: die sexuelle Belästigung. Anwältin Christina Klemm ist immer noch fassungslos, dass es so lange gedauert hat.
„Den Ladendiebstahl haben wir im Strafgesetzbuch immer gehabt. Oder die einfache Körperverletzung. Wir hatten immer Straftatbestände, die wurden als solche angesehen – aber massive sexualisierte Gewalt fiel da nicht rein. Und allein, um das klarzustellen, hat sich diese Reform gelohnt.“
Nur minimaler Anstieg von Urteilen
Laut Bundesjustizministerium gab es zwischen 2015 und 2019 fast 20.000 mehr Ermittlungsverfahren zur sexuellen Selbstbestimmung – insgesamt fast 57.000. Auch die Zahl der Urteile ist angestiegen. Doch nur minimal. 2019 gab es etwas mehr als 3500. Doch die Dunkelziffer ist groß, Studien schätzen, dass nur 13 Prozent der Fälle angezeigt werden.
Und von diesen 13 Prozent führen wiederum nur neun Prozent zu Verurteilungen. Viel ist seit der Reform also nicht passiert. Ein Grund: Täter können sich immer noch sicher fühlen, so Katharina Göpner vom Bundesverband Frauen gegen Gewalt.
„Viele der Verfahren werden eingestellt. Das heißt, genau diese „Nein heißt Nein“-Fälle landen gar nicht vor Gericht. Das führt zu Enttäuschungen bei Betroffenen, die uns auch zurückgemeldet haben, dass sie nicht noch mal eine Anzeige erwägen würden.“
Aussage steht gegen Aussage
Bei der Polizei fehle schlicht das Personal, das so viele Fälle bearbeiten könnte. Ein weiterer Grund: Es braucht Beweise. Kriminaldirektor Lutz Mädler:
„Das Schwierige bei Sexualdelikten liegt darin, dass die Angaben des Opfers den Angaben des möglichen Täters gegenüberstehen. Und in einem Verfahren gibt es neben der Unschuldsvermutung auch immer die Pflicht be- und entlastend zu ermitteln. Das heißt, bezüglich der Angaben zu prüfen, ob diese auch objektiviert werden können.“
Beweise, wie zum Beispiel klinische Dokumentationen. Doch sehr oft gibt es die einfach nicht, weil die Tat entweder länger zurückliegt, oder eben nicht zu äußeren Verletzungen geführt hat. Vor allem aber, weil die allermeisten Täter aus dem direkten sozialen Umfeld des Opfers kommen. Dann steht Aussage gegen Aussage. Und das bietet viel Interpretationsspielraum. Viola Butzlaff vom Frauennotruf in Leipzig:
„Wenn man sich dann eine Betroffene anguckt und die erzählt zum Beispiel ganz regungslos von der Tat und wir Beraterinnen oder Therapeuten wissen: Ja ok, die Gefühle sind abgespalten, das ist eine ganz normale Reaktion nach einem Trauma. Und vielleicht eine nicht so erfahrene Person, die involviert ist in das Strafverfahren, denkt: Ja, der bedeutet das ja gar nichts, wenn sie jetzt nicht in Tränen ausbricht, das müsste doch die logische Konsequenz sein. Also da ist es natürlich total wichtig, die Auswirkungen von Trauma zu kennen.“
Schlecht geschulte Ermittler, Anwälte und Richter
Auch, wenn es gute und sensibilisierte Ermittler und Ermittlerinnen gibt – die meisten sind es nicht, sagt Anwältin Christina Klemm.
„Es gibt wirklich viele und auch nicht weniger werdende schlechte Erlebnisse mit den Ermittlungsbehörden. Ich mache das ja nun seit vielen Jahren und ich höre immer noch, und das höre ich schon seit 20 Jahren von Mandantinnen, wie unsäglich schlecht sie behandelt werden, wenn sie Anzeige erstatten.“
Und selbst, wenn es ein Fall bis vor das Gericht schafft: Auch Anwält*innen und Richter*innen fehlt das Wissen, um Macht- und Gewaltdynamiken, Traumareaktionen und Begriffe wie freeze reponse – also das Erstarren aus einem Überforderungs- oder Schockzustand heraus.
Freispruch, weil Frau sich nicht genug wehrte
Anwältin Christina Klemm nennt ein typisches Beispiel aus der Praxis. Ein angeklagter Physiotherapeut hatte eine Patientin an die Brüste gefasst und sogar für einige Sekunden mit dem Finger penetriert. Das Gericht sprach den Mann frei. Die Begründung, so Klemm: Die Frau habe sich nicht ausreichend zur Wehr gesetzt:
„Da es nach den Urteilsfeststellungen nicht zum Einsatz von Nötigungsmitteln gekommen war, wäre aber schon bei dem Griff an den Hosenbund, bei lebensnaher Betrachtung, eine sofortige, gleichsam reflexartige Reaktion des Opfers in Form von körperlicher Abwehr oder Ausweichbewegungen und/oder mindestens einer Äußerung zu erwarten gewesen.“
Von Opfern wird ein gewisses Verhalten erwartet
Ein anderes Beispiel: Eine Frau lernt über eine Dating-App einen Mann kennen, den sie später wegen sexueller Nötigung anzeigt. Das Urteil: Es sei nicht eindeutig festzustellen, dass der Angeklagte gegen den Willen der Frau gehandelt habe, denn sie habe nach dem Vorfall die Dating-App weiterhin benutzt und noch andere Männer getroffen.
„Das heißt: Es wird ein bestimmtes Verhalten von Opfern erwartet, damit sie als glaubwürdig gelten. Am Ende heißt es: im Zweifel für den Angeklagten. Und der Zweifel wird genährt durch die sogenannten Vergewaltigungsmythen: Opfer sexualisierter Gewalt seien verzweifelt, hätten es auf den sexuellen Kontakt angelegt. Oder hätten nicht deutlich genug Nein gesagt. Sehr hartnäckig hält sich auch die Vorstellung, dass Frauen vorsätzlich anzeigen.“
Es gibt viele Beispiele dafür, dass Frauen ein gewisses Verhalten nachteilig ausgelegt wird. Ganz besonders, wenn der Täter aus dem direkten Umfeld des Opfers kommt, was bei sexualisierter Gewalt meistens der Fall ist. Was heißt das nun für die Reform? Susanne Bunke vom Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz:
„Das macht das BMJV immer, dass wir bei größeren Reformen beobachten: Was passiert mit den Normen in der Praxis, ist das praxistauglich, was sagt die Rechtsprechung dazu. Und gegebenenfalls steuern wir da auch nach.“
Nachbesserungen gefordert
Für den Bundesverband für Frauen gegen Gewalt gibt es so einiges nachzubessern. Verpflichtende Schulungen für alle am Prozess beteiligten, mehr Ausstattung und Personal für die Polizei, mehr Ressourcen für Beratungsstellen und vor allem: mehr Forschung.
Nach wie vor werde sexualisierte Gewalt selten als solche gesehen, daher bleibe die Dunkelziffer bei den Anzeigen groß, nur wenige Täter würden verurteilt, kritisiert der Bundesverband für Frauen gegen Gewalt. Für Anwältin Christina Klemm muss deswegen vor allem eins passieren: Die Männer müssen mit ins Boot geholt werden.
„Wir müssen endlich die Männer adressieren. Wir müssen über Männlichkeit reden. Und das ganz früh. Das müssen wir in der Erziehung, ín den Kitas, in den Schulen. Über Männlichkeitsbilder, die dazu führen, dass es dieses riesige Phänomen der geschlechtsspezifischen Gewalt gibt.“
Dann heißt es vielleicht nicht mehr: Es liegt an dir, ob du Opfer wirst, sondern: Es liegt an dir, ob du Täter wirst.