Ohne Zäune, Gitter und Schlösser
Im dänischen Familiengefängnis Engelsborg wird seit zehn Jahren der sogenannte "familiensensible Strafvollzug" praktiziert. Die Idee: Straftäter, die lange von ihren Familien getrennt waren, sollen sich wieder aneinander gewöhnen.
Gleich nachdem Marlene ihre Tochter Mila im Kindergarten eingesammelt hat, brechen beide auf. 45 Minuten stramm zu Fuß. Vorbei an schmucken Einfamilienhäusern und Villen in Richtung Gefängnis.
"Anfangs war das Wohnen dort für Mila noch ein Abenteuer, mittlerweile aber reagiert sie auf all die neuen Leute, den Wechsel der Umgebung. Ein Wochenende hier, dann wieder eins in unserem richtigen Zuhause. Das ist ganz schön viel für sie."
Mutter und Tochter leben seit September gemeinsam im Familiengefängnis Pension Engelsborg am Rand von Kopenhagen. Und das heißt, nicht umsonst "Pension", denn hier gibt es keine Gitter, keine Zäune und keine schweren Schlösser.
Marlene sitzt wegen Fahrerflucht. 19 Monate. Jene Nacht im September 2013 stellt das ganze Familienleben der Krankenschwester auf den Kopf.
"Ich habe meinen Nachbarn angefahren! Und wir wohnten in einem ganz kleinen Ort, wo jeder jeden kennt. Ich musste mit den Kindern weg dort, dann kam auch noch die Scheidung. Seitdem wohnen wir in einem komplett neuen Umfeld, aber nur für drei Monate, und dann kam ich hierher."
Ein gutes Zeichen
Marlene hat dafür gekämpft in Engelsborg ihre Strafe abzusitzen. Weil sie Mila mitnehmen konnte in den familiensensiblen Strafvollzug. In Engelsborg will die 39-Jährige den Unfall verarbeiten, zurück in ihr altes Leben finden. Vor allem aber will sie mithilfe der Therapeuten und Pädagogen das Vertrauen von Matilde, ihrer großen Tochter, zurückgewinnen. Die wollte nach dem Unfall nichts von ihr wissen, sie nicht mal besuchen. Das hat sich in letzter Zeit geändert. Und wie. Heute schreit Matilde ihre Mutter an, knallt Türen, weint sehr oft. Ein gutes Zeichen, findet Marlenes Therapeutin Rikke Betak.
"Auch wenn Marlene manchmal nicht weiß, wie sie mit der Wut ihrer Tochter umgehen soll, ich als Therapeutin klatsche gerade in die Hände. Nächsten Mittwoch kommt Matilde und bringt uns einen Brief mit, den sie an ihre Wut geschrieben hat, die sie im Moment total kontrolliert. Matilde ist ok und es ist gesund, wenn sie auf all das reagiert."
Marlene kümmert sich jetzt um ihre kleine Tochter. Rikke führt durch das Familienhaus. Statt Zellen gibt es fünf kleine Wohntrakte. Unten Platz für drei, oben für zwei Familien. Gekocht wird zusammen.
Außer Vergewaltigern und Männern und Frauen, die Kindern etwas angetan haben, können alle Kriminellen in den letzten Monaten ihrer Haft Teil des Programms werden und mit ihren Kindern und Partnern in Engelsborg einziehen. Vorausgesetzt sie wollen.
"Wir stellen sicher, dass die Familien wissen, auf was sie sich da einlassen, wenn sie hier einziehen, es ist nämlich verdammt harte Arbeit hier zu leben. Plötzlich all die Verantwortung wieder zurückzubekommen und in einem Haus ohne Zäune zu leben - da liegt es dann bei dir, ob du ausbrichst und abhaust oder dich der Verantwortung stellst."
Chance genutzt
Ausgebrochen ist aus Engelsborg bislang niemand. Und nur drei oder vier Familien haben in den vergangenen zehn Jahren das Programm abgebrochen, weil sie mit der Tagesstruktur, den Regeln nicht klargekommen sind. Alle anderen, sagt Rikke, haben ihre Chance genutzt.
"Sie stehen morgens auf, frühstücken in ihren Familien, bringen ihre Kinder zur Schule, dann haben sie Aufgaben, zum Beispiel Brot backen für den nächsten Morgen. Das kann Gartenarbeit sein oder auch für sich und die anderen Familien etwas kochen. Sie müssen an der Therapie mit den Kindern teilnehmen, es gibt Elterngruppen, wo wir darüber sprechen, was Kinder brauchen."
Rikke geht nach oben, bleibt vor einem Regal stehen, das einen gemütlichen kleinen Raum mit Dachschräge teilt. Und erzählt von einem Vater, der mit seinen drei Kindern hier fast ein halbes Jahr lang gewohnt hat.
Im Spätsommer hätten die vier unten im Garten Gemüse angebaut und Blumen gepflanzt - am Ende wollte der Häftling gar nicht weg aus dem Familienknast. Im Behandlungszimmer der Familientherapeutin wird schnell klar, dass es bei dem weltweit einzigartigen Projekt vor allem um das Wohl der Kinder geht.
"Wir versuchen das Chaos, das in den Familien herrscht, herzunterzufahren. Viele der Kinder hier haben ja ganz früh Verantwortung übernommen Sobald sie hier einziehen, beobachten wir, wie langsam das Kind sein wieder in den Mittelpunkt ihres Lebens rückt."
Das Leben der Väter kommt Rikke manchmal vor wie ein wilder Fluss, in dem sie jahrelang stromabwärts gerissen werden. Die meiste Zeit mit dem Kopf unter Wasser.
"... und wir ziehen sie an Land. Bieten ihnen an, ein Stück weit mit ihnen zu gehen. Sie zu unterstützen, aber auch ein wenig zu schubsen, in die richtige Richtung."
Marlene muss Rikke nicht mehr viel schubsen, sagt sie als sie später noch einmal bei ihr vorbeischaut. Beide haben einen Antrag gestellt, dass Marlene schon im April wieder mit ihren beiden Töchtern zusammen ziehen kann.
Und auch wenn Marlene das Kapitel Gefängnis abhaken möchte, nach Engelsborg kehrt sie vielleicht doch nochmal zurück.
Das Familiengefängnis Engelsborg gilt als Vorbild gilt für die JVA in Meppen, aus der am Sonntag live unsere Sendung "Deutschlandrundfahrt" kommt. Um 11.05 Uhr im Deutschlandradio Kultur.