"Reformpädagogen haben echt ein Problem"

Christian Füller im Gespräch mit Dieter Kassel |
Warum hat man nicht schon viel früher in den Nachlass eines bekannten Pädophilen geschaut? Der Fall der jetzt entdeckten Pornografie-Sammlung beweise die "Naivität" nicht nur der Wiesbadener Helene-Lange-Schule, meint der Journalist Christian Füller.
Dieter Kassel: Im Nachlass des Kunstlehrers und Fotografen Hajo Weber im Wiesbadener Stadtarchiv haben Journalisten der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" kinderpornografische Fotos entdeckt. Selbstgemachte, in großen Mengen. Und in diesem Zusammenhang wurde auch öffentlich bekannt, dass eben dieser Hajo Weber Ende der 80er-Jahre an der Schule, an der er damals beschäftigt war, mehrere Jungen sexuell missbraucht hat.

Diese Schule, das war nicht irgendeine, sondern das war die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, heute unter anderem Versuchsschule des Landes Hessen und seit langem eine der wenigen staatlichen Schulen, die zu den Vorzeigeobjekten der Reformpädagogik gehören. Und Leiterin der Helene-Lange-Schule war damals, 1989, als der Missbrauch entdeckt wurde, Enja Riegel, und auf ihr lastet jetzt der Vorwurf, na ja vielleicht nicht gleich der Vertuschung, aber doch der mangelhaften Bereitschaft, da sofort etwas zu unternehmen, denn damals wurde der Lehrer zwar vom Unterricht entfernt, aber eine Anzeige zum Beispiel, die gab es 1989 nicht.

Christian Füller ist Journalist bei der "TAZ" und berichtet seit Langem über diverse Bildungsthemen, und im Februar erscheint voraussichtlich sein Buch "Sündenfälle", wo es um genau diese Probleme des sexuellen Missbrauchs eben auch an Reformschulen geht. Und er ist jetzt ganz aktuell nicht zu Hause, sondern in Bad Boll, weil da heute eine Tagung der Evangelischen Akademie zum Thema Reformpädagogik und Demokratie zu Ende geht. Deshalb ist er am Telefon. Schönen guten Tag!

Christian Füller: Ja, hallo, grüße Sie!

Kassel: Man würde erwarten, und das ist auch die erste Frage an Sie, dass die eigentliche Tagesordnung in Bad Boll eigentlich völlig über den Haufen geworfen wurde, weil alle über diesen Fall Hajo Weber und diesen Fall Helene-Lange-Schule reden wollten – ist das so gewesen?

Füller: Ja, leider nicht, muss ich sagen, das ist ein bisschen bitter. Also die Reformschulen sind ja eigentlich in der Lage, ihre Stundenpläne ganz schnell umzuwerfen und auf Aktuelles einzugehen, hier war das nicht der Fall. Also das Thema Enja Riegel und Helene-Lange-Schule und sexueller Missbrauch hat hier allenfalls auf den Fluren eine Rolle gespielt, da wurde es natürlich heiß diskutiert, aber es wurde jetzt kein extra Podium eingerichtet. Das war hier, sage ich mal – ich bin seit drei Tagen hier – teilweise schon etwas schwierig, wie man sich niedergekniet hat in der Kirche der Reformpädagogik und die hohen Werte hochgehalten hat, aber nicht mehr die soziale Realität betrachtet hat.

Kassel: Spielte denn die Odenwaldschule eine Rolle, also der Missbrauch an der Odenwaldschule?

Füller: Der Missbrauch an der Odenwaldschule spielte jetzt hier eine Rolle, also es gab eine sehr muntere Abschlussdiskussion. Da wurde dann wirklich mal thematisiert, dass es – also die Odenwaldschule war ja zum Beispiel die demokratischste Schule in Deutschland, zumindest hat sie sich so immer selber genannt. Diese Tagung hieß "Reformpädagogik und Demokratie", und da wird dann natürlich immer festgestellt, auch wenn die Schule super demokratisch war, sie konnte es nicht verhindern, dass sich zumindest in einem Haus wirklich Pädophile breitgemacht haben in dieser Schule. Das besteht ja aus mehreren Häusern, mehreren Internatsfamilien, wo wirklich der pädagogische Eros im Mittelpunkt stand. Das wurde jetzt am Schluss diskutiert und auch kritisch diskutiert, aber es gab hier Kritik von Leuten, die gesagt haben, warum kommt das jetzt erst am Schluss der Tagung zur Sprache. Und die hatten Recht.

Kassel: War es denn überhaupt ein Thema, dass ja im Fall Odenwaldschule und ja, nun gut, letzten Endes jetzt auch in diesem Fall Helene-Lange-Schule das an die Öffentlichkeit bringen, das überhaupt darüber Diskutieren-Wollen ja nun wirklich nicht von der Reformpädagogik selber ausging?

Füller: Ja, das ist ein ganz schwerer Mangel, den sich die Reformpädagogen da vorwerfen lassen müssen, weil bei ihnen steht im Programm, das Kind ist im Mittelpunkt. Und auch im Odenwald hat man 1998/99, als der Fall zum ersten Mal hochkam, nicht das Kind in den Mittelpunkt gestellt und das Opfer, den Betroffenen, sondern die Institution, also sozusagen die Institution sollte, weil sie ja so tolle Prinzipien hat, aufrechterhalten werden. Die Prinzipien sind auch toll, aber man muss genau hinschauen, und das müssen die Reformpädagogen in einer bitteren Trauerarbeit und Selbstkritik jetzt, glaube ich, auch mal tun – zu sehen, dass man viele Instrumente ziemlich leicht missbrauchen kann, zum Beispiel die größere Nähe zum Kind.

Kassel: Nun scheint gerade dieser Fall, er mag nicht – das müssen wir der Fairness halber sagen – er mag nicht das Ausmaß haben des Missbrauchs an der Odenwaldschule, aber dieser Fall in Wiesbaden hat andererseits doch ganz andere unglaubliche Züge. Wenn wir uns das angucken, Hajo Weber, dieser Lehrer, 2008 ist er gestorben, er war eben auch Fotograf und sein fotografischer Nachlass landete im Stadtarchiv, alles schön und gut. Aber jetzt haben Journalisten entdeckt, dass da kinderpornografische Aufnahmen dabei waren. Stehen nicht auch selbst Sie – Sie haben ja einiges schon gehört vermutlich in Ihrem Berufsleben – da ein bisschen mit offenem Mund da?

Füller: Also ich muss sagen, ich finde, dass Enja Riegel 80 Prozent nur richtig gemacht hat damals. Der Fall ist nämlich nicht so neu, und ich habe mir das jetzt noch mal genau angeschaut. Also das ist unglaublich und es kann überhaupt nicht sein, dass man jetzt auch noch sozusagen die Produkte dieser Pädophilie, also die Fotos verbreitet. Aber: Die drei Lehrer und Enja Riegel, als die gesagt haben, wir wollen den Nachlass von diesem Mann retten, die haben nicht kinderpornografische Fotos gesehen und die haben auch nicht an die gedacht. Das war ein relativ guter Fotograf, der ziemlich viele Ausstellungen in Wiesbaden gemacht hat – Startbahn West, Nepal, Kolumbien und so. Aber natürlich ist es auch ein bisschen naiv, das muss man sagen, zwei verschraubte Holzkisten von einem anerkannten Pädophilen, der ein guter Fotograf war, der oft Kinder nach Hause zu sich eingeladen hat in seine Sauna und in sein Fotostudio, also da nicht mal reinzugucken. Das haben die nicht gemacht, das zeigt, wie naiv die Gesellschaft und wie naiv auch die Reformschulen mit institutionellem Missbrauch umgehen.

Kassel: Aber wenn Sie das naiv nennen, Herr Füller, dann frage ich mich doch, war es wirklich naiv oder war es nicht auch ein bisschen ein Verhalten nach dem Motto: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß? Denn Sie haben es ja selber gesagt, der war halt als Pädophiler ja identifiziert Ende der 80er-Jahre.

Füller: Gut, aber da muss man der Ehrlichkeit halber sagen, Herr Kassel, damals hat Enja Riegel innerhalb von zehn Tagen 1000 Leute informiert. Die Frau hat ihn sofort suspendiert, die Frau hat sofort den Schulrat informiert und die Eltern. Jetzt wird ihr natürlich vorgeworfen in der Zeitung ganz oft, dass sie den nicht angezeigt hat und dass sie sozusagen den wieder beschäftigt hat. Also sie kann ihn nicht rauswerfen, es ist keine Privatschule. Ich glaube, Enja Riegel hätte ihn rausgeworfen. Ich will jetzt Enja Riegel nicht sozusagen in ein gleißendes Licht als Aufklärungskönigin hinstellen, aber es ist sozusagen eine Spur zu viel, zu sagen, sie habe nichts gemacht.

Was uns das lehrt, heißt, wenn man mit so einem Fall zu tun hat, muss man vor allen Dingen mit den Betroffenen und mit den Opfern sprechen. Man muss verstehen, was ist euch wirklich genau passiert, und man muss natürlich ganz klar 100 Prozent richtig machen. Das ist natürlich jetzt Schlaubergerei im Nachhinein, aber es geht natürlich nicht, dass jemand, der schon einmal pädophil aufgefallen ist, der Kinder missbraucht hat, anschließend wieder als Fotograf, und sei es nur zeitweise, an die Schule zurückkehrt. Das geht nicht.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit dem Fachjournalisten Christian Füller über Missbrauch an Reformschulen. Anlass ist zwar dieser jetzt in die Öffentlichkeit gelangte Fall an der Helene-Lange-Schule in den späten 80er-Jahren, aber das Problem, das die Reformschulen, Herr Füller, ja jetzt irgendwie haben, zumindest was ihr öffentliches Image angeht, das geht ja weit über diese beiden Fälle Odenwaldschule und Helene-Lange-Schule hinaus. Ist man denn – und da sind wir auch wieder bei der Tagung jetzt in Bad Boll, aber auch bei anderen Dingen, die Sie festgestellt haben – ist man denn überhaupt bereit, das eben nicht als Einzelfall zu sehen, sondern so ein Grundproblem in vielleicht gewissen Strukturen der Reformpädagogik zu entdecken, das diesen Missbrauch stark vereinfacht?

Füller: Ja, also damit haben die Reformpädagogen, das ist natürlich jetzt eine Vereinfachung, es gibt die nicht so als festgesetzte Gemeinde, aber diese vielen, die aus verschiedenen Strömungen kommen, haben echt ein Problem. Ich glaube nicht, dass es typisch ist für die Reformpädagogik, und ich glaube auch nicht, dass es strukturell angelegt ist. Aber besonders die Landerziehungsheime, die in Deutschland sozusagen der Container, das Gedächtnis der Reformpädagogik sind, die immer die Vorreiterrolle hatten, und ganz an der Spitze die Odenwaldschule – kein Kongress, bei der nicht die Odenwaldschule, kein pädagogischer, als besonders mustergültig hingestellt wurde. Jedenfalls diese Reformpädagogik enthält ein paar Elemente, nämlich die besondere Nähe zum Kind, nämlich bei den Landerziehungsheimen das Prinzip der Internatsfamilie, das heißt, ein Lehrer oder zwei Lehrer wohnen und lernen mit Kindern zusammen und leben mit ihnen in einer Familie.

Wenn man da nicht genau hinschaut, dann wird es schwierig. Solche Elemente muss die Reformpädagogik, glaube ich, jetzt wirklich gründlich anschauen, weil in der Öffentlichkeit ist es nicht zu vermitteln, dass man zum Beispiel, wie es hier auf der Tagung geschieht, einen anerkannten Päderasten wie Gustav Wyneken, den Gründer der Freien Schulgemeinde in Wickersdorf, was jetzt ganz lange her ist, aber der wird da hier als Superdemokrat gefeiert, und es war einfach einer, der war super pädophil. Das verstehen die Eltern natürlich überhaupt nicht, dass man sozusagen Pädophile weiter pädagogisch argumentieren lässt. Und da muss einfach eingegriffen werden, und da ist viel Selbstkritik gefordert.

Kassel: Ist denn – ich sag jetzt noch mal, Sie haben ja selber zu Recht drauf hingewiesen, das kann man ja eigentlich nicht sagen, aber den Reformpädagogen, ist zumindest denen, die sich da in Bad Boll zusammengefunden haben, klar, wie groß die Gefahr ist, denn man merkt ja auch bei der aktuellen Berichterstattung über die Funde im Wiesbadener Stadtarchiv schon, dass gewisse Zeitungen, die der Reformpädagogik nie besonders viel abgewinnen konnten, ja auch deutlich kritischer berichten als andere. Man merkt ja, was da passiert.

Füller: Na klar. Die "FAZ" hat sich sozusagen die Odenwaldschule vorgeknöpft, weil sie sozusagen die ganze linksliberale Kamarilla, die evangelische Mafia, die protestantische, wie immer gesagt wird, vorknöpfen will. Aber trotzdem war die "FAZ" total wichtig bei der Aufklärung, weil die "FAZ" hat viele Opferberichte gebracht, wo man erst mal gesehen hat, um was es geht. Ich würde sagen, man darf jetzt die Reformpädagogen und die Reformschulen, also diese tollen Schulen, die vom Deutschen Schulpreis ausgezeichnet werden, die würde ich, ehrlich gesagt, nicht in einen Topf werfen.

Also die Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund oder die jetzt ausgezeichnete Sophie-Scholl-Schule in Hindelang, das sind keine Schulen, die irgendeinen pädagogischen, reformpädagogischen Gott anbeten. Die haben wichtige Elemente, dass sie sagen, wir arbeiten viel in Teams, wir machen viel Freiarbeit, wir setzen das individuelle Fördern in den Mittelpunkt. Die haben nicht mehr diesen, sage ich mal, reformpädagogischen Schmock der Landerziehungsheime. Aber, bei den Landerziehungsheimen, die tun sich im Moment wahnsinnig schwer, damit umzugehen. Die haben diese ganzen alten Prinzipien, und die haben das, was man Gelegenheitsstruktur nennt: dass man sehr nah zusammengluckt, und die kontrollieren ziemlich wenig.

Kassel: Sagt Christian Füller, der Fachjournalist ist gerade in Bad Boll, wo heute eine Tagung der Evangelischen Akademie zum Thema Reformpädagogik und Demokratie zu Ende geht. Christian Füller hat ein Buch zum Thema geschrieben, "Sündenfälle" heißt es und es wird voraussichtlich im Februar erscheinen. Herr Füller, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Füller: Danke, tschüss!
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