"Die Pflegeversicherung ist zu retten"
Elisabeth Scharfenberg von Bündnis 90 / Die Grünen misstraut den vollmundigen Versprechungen der großen Koalition hinsichtlich einer umfassenden Pflegeversicherungsreform. Ihre Fraktion bringt eigene Ideen in die Debatte ein.
Deutschlandradio Kultur: Unser Gast in dieser Ausgabe von Tacheles ist Elisabeth Scharfenberg, die pflegepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen. Schönen guten Tag Frau Scharfenberg.
Elisabeth Scharfenberg: Hallo.
Deutschlandradio Kultur: Frau Scharfenberg, kürzlich beging die Pflegeversicherung ihren 20. Geburtstag. Seit Jahren ist unumstritten, dass diese jüngste Sozialversicherung grundlegend reformiert werden muss. Geschehen ist aber außer vollmundigen Ankündigungen herzlich wenig. Alle reden längst vom Pflegenotstand. – Ist denn nach Ihrer Einschätzung die Pflegeversicherung überhaupt noch zu retten?
Elisabeth Scharfenberg: Sie ist zu retten, wenn man beherzt rangeht. Die Pflegeversicherung an sich ist je eine ganz gute Sache, eine hoch anerkannte Sozialversicherung bei uns in Deutschland, hilft auch unheimlich vielen Menschen. Ja, das an sich ist schon mal ein Wert. Aber man kann natürlich nicht Sozialversicherungen ins Leben rufen, wie die Pflegeversicherung vor 20 Jahren, und es dann vor sich hindümpeln lassen. Gerade wenn Gelder ausgezahlt werden und man in dieser Zeit auch einen Preisverfall natürlich hat, dann muss man sich auch drum kümmern, dass die Leistungen, die gezahlt werden, auch irgendwie dem realen Leben und dem realen Faktor angepasst werden. Und das ist wirklich verpasst worden.
Außerdem hat sich die gesellschaftliche Zusammensetzung geändert. Wir gehen mit Riesenschritten in einen demographischen Wandel rein. Wir werden immer älter. Die Medizin hat enorme Fortschritte gemacht. Und wir haben eine ganz große Menge Menschen, die an Demenz erkranken. Das hat man damals noch nicht mitgedacht und das holt uns heute ein.
Deutschlandradio Kultur: Um diese Herausforderungen, die Sie jetzt gerade beschrieben haben, zu bewältigen, haben Sie als Grüne plädiert für eine Bürgerversicherung auch in der Pflege, um endlich genug Geld zu haben in den Kassen. – Was ist denn der Unterschied zum jetzigen System?
Elisabeth Scharfenberg: Im Moment haben wir eine strikte Trennung zwischen sozialer Pflegeversicherung und privater Pflegeversicherung. Das heißt, alle Menschen, die in der Gesetzlichen Krankenkasse sind, die sind in der sozialen Pflegeversicherung. Und die Menschen, die privat krankenversichert sind, die sind in der privaten Pflegeversicherung. Unterm Strich, wenn man die Leistungen anschaut, die man bekommt, sind die bei beiden Versicherungen gleich, ob man privat pflegeversichert oder sozial pflegeversichert ist. Das ist ganz anders als bei der Krankenversicherung. Bei der privaten Krankenversicherung da hat man eine Chefarztbehandlung oder man kriegt ganz schnell einen Arzttermin - alles, was man so kennt. Bei der Pflegeversicherung ist das nicht so. Da bekommt jeder die gleichen Leistungen, wenn er den gleichen Anspruch hat.
Das heißt, auf dieser Seite haben wir eigentlich schon eine Bürgerversicherung, auf der Leistungsseite, aber auf der Einnahmenseite eben nicht. Das ist das Problem, weil, in der privaten Pflegeversicherung sind die Versicherten ganz anders aufgestellt. Da sind jüngere Menschen versichert. Da sind gesündere Menschen versichert. Da ist auch mehr Geld als in der sozialen Pflegeversicherung. Es sind weniger Menschen versichert und trotzdem ist mehr Geld in der privaten Pflegeversicherung. In der sozialen Pflegeversicherung, da werden alle, egal wie krank sie sind, egal, welchen finanziellen Status sie haben, versichert. Und das spiegelt sich auch dann nieder, wie pflegebedürftig die Menschen sind. Da sind einfach mehr Menschen, die Pflege brauchen, das heißt, größere Ausgaben.
Und deshalb sind wir der Auffassung, in einer Bürgerversicherung sollte man diese beiden Systeme zusammenziehen und eine Pflegebürgerversicherung machen, in die alle einzahlen und übrigens nicht nur Gelder oder Beiträge aus sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit. Das hat sich überholt. Viele Menschen leben von ihren Zinseinkünften oder von Vermietung und Verpachtung. Das muss sich einfach auch niederschlagen in den Beiträgen.
Deutschlandradio Kultur: Aber der Wahrheit die Ehre: Es gab mal drei Parteien, die für die Bürgerversicherung sich eingesetzt haben, die Linke, die Grünen und die SPD. Die SPD hat sich offenbar verabschiedet. Im Grunde genommen können Sie diese Idee, wie gut auch sie nur sein mag, vergessen.
Elisabeth Scharfenberg: Das ist im Moment ganz schwierig. Und realistisch sich vorzustellen, mit wem man das eigentlich umsetzen könnte, ist im Moment eng. Es wäre, glaube ich, auch nicht einfach geworden, wenn die drei Parteien, die eine Bürgerversicherung wollen oder eben auch die Pflegebürgerversicherung, da einen Konsens finden müssen. Weil, da gibt's auch ganz schön Abstimmungsbedarf.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt gibt's zumindest erstmal ein Konzept, was auf dem Tisch liegt, von der Großen Koalition für eine Pflegereform im Rahmen des bestehenden Systems. Bundesgesundheitsminister Gröhe von der CDU hat jetzt seine Vorschläge kürzlich vorgestellt. Noch vor der Sommerpause, da wird sie ja wohl dann in den Bundestag erstmal eingebracht. In einer ersten Reaktion nannten Sie dann, Frau Scharfenberg, die Pläne „die teure Simulation einer Reform". – Warum?
Elisabeth Scharfenberg: Ja, ich denke, es sind viele Worte, viel heiße Luft um erstmal relativ wenig. Wir werden am Ende des Tages sehen, was unterm Strich dabei rum kommt. Ich finde es halt schade, dass man sich nicht traut, ja sich die Pflegeversicherung anzuschauen und wirklich zu reformieren, grundlegend zu reformieren. Wir wissen ganz genau, wo die Schwachpunkte sind. Man müsste mutig rangehen und müsste wirklich auch sehr mutig die demenzkranken Menschen jetzt mit einbeziehen. Jeder spricht davon. Jeder spricht davon, die Demenzkranken müssen unbedingt in der Pflegeversicherung mit bedacht werden.
Deutschlandradio Kultur: Aber das kommt doch in der zweiten Stufe bei der Umstellung auf fünf Pflegestufen. Lassen Sie uns noch einen Moment bei anderen Argumenten verharren, denn da wollen wir auch noch hinkommen, gerade bei den Demenzkranken, auch das ist uns wichtig. Aber wenn wir jetzt mal so ein paar Aspekte durchgehen, ab 2015, also ab dem nächsten Jahr, sollen die rund zweieinhalb Millionen Pflegebedürftigen, die wir heute schon haben, um rund vier Prozent erhöhte Geld- und Sachleistungen bekommen. – Was ist dagegen zu einzuwenden, außer dass diese Anhebung lange überfällig ist, weil eben viele Leistungen, Sie haben es schon angedeutet, in den letzten 20 Jahren überhaupt nicht angepasst wurden. Aber im Grunde ist das doch erstmal okay, der richtige Weg. Es macht jetzt jemand was.
Elisabeth Scharfenberg: Es wird mehr Geld in die Pflege und in die Pflegeversicherung gepackt. Das ist erstmal richtig und wichtig, aber es ist noch kein Wert an sich. Die Frage ist: Wie werde ich das Geld verwenden?
Diese Dynamisierung, die Sie gerade angesprochen haben, die vier Prozent, es ist unterm Strich, wenn man die lange Zeit bedenkt, die da eigentlich abgefedert werden soll, 20 Jahre, ist es ein Tropfen auf den heißen Stein.
Deutschlandradio Kultur: Ja dann müsste man, konsequent zu Ende gedacht, über 30 Prozent erhöhen. Und das kann keiner bezahlen.
Elisabeth Scharfenberg: Nein. Aber wir müssen uns wirklich mal bewusst werden, was ist uns gute Pflege wert. Und da müssen wir auch ehrlich sein. Jeder schaut sich die Filme an, wo es um Pflegenotstand geht. Jeder liest die Zeitungsartikel, regt sich furchtbar auf. Und am Ende des Tages bedeutet es aber, diese Versicherung muss finanziell besser ausgestattet werden. Und es ist eine Versicherung. Das heißt, sie speist sich aus Versichertengeldern. Und das sind die Beiträge. Und wenn wir gute Pflege wollen und wenn wir auch ehrlich sind, dann muss da mehr Geld rein. Da kommen wir nicht dran vorbei.
Deutschlandradio Kultur: Benennen wir doch mal die Zahl, die jetzt im Raum steht. Also, 2,5 Milliarden Euro soll die erste Stufe der Reform kosten. Zur Gegenfinanzierung steigen dann die Beitragssätze in zwei Stufen Anfang kommenden Jahres um 0,3 Prozent, dann 2016 oder 2017 um weitere 0,2 Prozent. Das heißt dann: Am Ende der Legislaturperiode berappen dann Arbeitnehmer und Arbeitgeber 2,55 Prozent für die Pflegeversicherung, Kinderlose 2,8 Prozent. Geht das in Ordnung, dieser Unterschied?
Elisabeth Scharfenberg: Diese Debatte haben wir ja schon geführt und es hat sich letztendlich durchgesetzt. Ich war sehr überrascht, als diese Debatte wieder geführt wurde, das heißt, als man aus der Union wieder nach vorne kam und meinte, man müsste von den Kinderlosen jetzt nochmal erneut mehr Beiträge holen, weil eben die, die Kinder haben, ja quasi ihren Anteil schon an der Gesellschaft damit erledigen. Das ist eine Debatte, die kann man führen, aber ich glaube, das ist das falsche Schlachtfeld. Wir brauchen eine Solidarität in der Bevölkerung und nicht ein Gegeneinanderausspielen.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie halten den Unterschied für gerechtfertigt?
Elisabeth Scharfenberg: Na ja, er ist da. Ob er jetzt gerechtfertigt ist oder nicht, er ist akzeptiert. Und es gibt da ja auch einschlägige Urteile letztendlich dazu. Aber unterm Strich, finde ich, braucht man diese Kontroverse nicht nochmal aufzumachen und größer zu machen. Ich glaube, wir hätten andere Finanzierungssysteme, um mehr Geld ins System zu bringen. Und man muss nicht innerhalb der Gesellschaft Gruppen gegeneinander ausspielen. Weil, es gibt jede Menge Menschen, die gerne Kinder hätten und aus welchen Gründen auch immer kinderlos sind und sich dadurch einfach auch nochmal ein stückweit bestraft fühlen. Wir haben jetzt diesen Beitragshöhenunterschied. Der ist jetzt soweit in Ordnung, aber ich finde, man muss das Fass nicht erneut aufmachen.
Deutschlandradio Kultur: Wohlgemerkt das Votum einer Mutter von vier Kindern. - Jetzt kommen wir zu dem Punkt zurück, den wir eben schon ganz kurz gestreift haben. Ein ganz wesentliches Element der Pflegereform soll dann ab 2017 in der zweiten Stufe greifen, nämlich die Einführung von fünf Pflegestufen. Das klingt jetzt furchtbar technisch, ist aber immens wichtig. Denn mit der Umstellung von drei auf fünf Stufen wird es einen Paradigmenwechsel bei der Einstufung von Pflegefällen geben. Künftig werden körperliche Einschränkungen genauso berücksichtigt wie intellektuelle Defizite, wie etwa eine Demenz. Und von dieser Neuerung werden vor allem Alzheimerpatienten profitieren. – Hat die Koalition recht, wenn sie hier von einem wirklich großen Fortschritt spricht?
Elisabeth Scharfenberg: Wenn es denn kommt und wenn es denn umgesetzt wird in letzter Konsequenz, dann ist es ein großer Fortschritt. Ja, das ist das, was wir alle fordern, diesen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Das stellt im Grunde genommen die Pflege vom Kopf auf die Füße. Wir haben im Moment eine Pflegesituation und auch eine Ausrichtung der Pflege, die defizitorientiert ist. Das heißt, es wird geschaut, was kann wer nicht mehr. Daran orientieren sich die Pflegestufen. Kann ich noch alleine aufstehen? Kann ich alleine essen? Kann ich mich alleine waschen?
Deutschlandradio Kultur: Und der Demenzkranke weiß ja gar nicht, warum er sich waschen soll.
Elisabeth Scharfenberg: Richtig. Und der Demenzkranke kann alleine aufstehen. Er kann alleine essen und kann sich alleine waschen. Aber er braucht jemand, der ihn pausenlos dazu anleitet. Demenzkranke haben einen enormen Bewegungsdrang, insbesondere nachts. Das bedeutet einen ganz anderen Aufwand, der sich aber überhaupt nicht in der Pflegeversicherung oder in der Einstufung findet. Da muss unbedingt rangegangen werden.
Das System des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist folgendes: Man will sich nicht mehr an dem Defizit orientieren, sondern an der Teilhabe, also nicht, was kann wer nicht mehr, sondern was kann wer noch und, ganz wichtig, wie können wir das aktiv am Leben halten. Wie können wir im Grunde genommen jemand unterstützen, dass er auch die Möglichkeit zur Teilhabe hat? Also, über allem steht die Teilhabe. Und das ist ein ganz, ganz wichtiger Aspekt und der spielt ja für alle Pflegebedürftigen, nicht nur für die Demenzkranken, eine Rolle.
Wenn es denn also soweit kommt, dass dieser Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt wird, dann freue ich mich und bin zufrieden. Dann haben wir wirklich ein ganz großes Stück geschafft. Aber ich sehe das einfach noch nicht. Weil, es ist im Grunde genommen ein riesig dickes Brett, was da gebohrt werden muss. Im Grunde genommen müssten wir die Sozialgesetzbücher umschreiben. Denn das betrifft nicht nur das SGB XI, also alles, was Pflegeversicherung ist. Das betrifft den Bereich SGB V. Es betrifft auch den Behindertenbereich. Also, das ist eine richtig große Nummer. Ich sage immer: Es ist in der Pflegelandschaft ein wirkliches Erdbeben, was uns da bevorsteht, und auch ein Umdenken. Weil, man geht letztendlich ganz anders ran an das Thema Pflege. Man geht ganz anders ran an die Pflegebedürftigen. - Im Moment haben wir diese Minutenpflege, die auch hoch kritisiert ist.
Deutschlandradio Kultur: Ändert sich da was?
Elisabeth Scharfenberg: Das soll sich dann ändern. Es soll im Grunde genommen eine neue Einstufung kommen. Es soll differenzierter eingestuft werden. Im Moment haben wir drei Pflegestufen. Wir werden dann fünf Bedarfsgrade haben. Und eben auch solche Dinge sollen sich abbilden wie: Was ist an Teilhabebedarf in Form zum Beispiel, was brauche ich an sozialer Unterstützung? Ist mein Bedarf, den ich beispielsweise als Demenzkranke habe, ein Spaziergang am Nachmittag?
Deutschlandradio Kultur: Da wird wieder ein Schuh draus hinsichtlich Ihrer Skepsis, wenn ich das recht verstehe. Wenn man sich nämlich tatsächlich von der Minutenpflege verabschieden würde, verabschieden sollte, würde das ja zwangsläufig bedeuten, dass man deutlich mehr Geld ins System hineinpumpt. Denn anders kann das ja gar nicht aufgehen...
Elisabeth Scharfenberg: ...Ja. Und Sie haben ja vorhin auch gesagt, dass diese Beitragssatzerhöhung in zwei Stufen laufen soll. Und für die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sind dann eben 0,2 Prozentpunkte. Und das wird einfach nicht reichen.
Deutschlandradio Kultur: Das sind zwei Milliarden Pi mal Daumen.
Elisabeth Scharfenberg: Genau. Ich kann jetzt keine Summe nennen, aber das wird nicht reichen. Und die Frage ist: Wird das reichen, was jetzt eingestellt wird für alles, was man jetzt machen will? Oder ist man da im Grunde genommen schon übern Durst? - Also, Bedenken, die ich habe, sind, dass es auch an der Finanzierung scheitern könnte, weil, das wird richtig teuer.
Deutschlandradio Kultur: Die Reformpläne des Bundesgesundheitsministers sehen auch Verbesserungen für pflegende Angehörige vor. Ebenso wichtig sind die Maßnahmen im Bereich der Pflegekräfte. Heute kümmern sich rund 24.000 Fachkräfte in Heimen um besonders schwere Fälle wie Demenzkranke, Behinderte, psychisch Kranke. Die Zahl dieser Fachkräfte soll auf 45.000 steigen. So viele werden gebraucht. – Woher will man diese Fachkräfte bekommen, Frau Scharfenberg?
Elisabeth Scharfenberg: Die Frage hat mir, ehrlich gesagt, auch noch niemand beantwortet. Nur in den Raum zu stellen, ich werde jetzt die Fachkräfte verdoppeln, das ist gut gemeint und eine nette Aussage, aber man muss auch die Strukturen schaffen, dass junge Menschen Lust haben, diese Ausbildung zu machen, und dass die, die schon im Beruf sind, auch Lust haben, im Beruf zu bleiben oder überhaupt im Beruf bleiben können.
Wir haben im Moment eine Verweildauer im Bereich der Pflegeberufe in der Altenpflege etwa bei acht Jahren, in der Krankenpflege bei zwölf, dreizehn Jahren. Da geht uns unheimlich viel an Fachwissen verloren unterwegs. Und da reicht es nicht nur, von unten aufzustocken. Das heißt, die Strukturen, die wir im Moment im System haben, müssen für die, die schon da sind, auch attraktiv sein.
Deutschlandradio Kultur: Was glauben Sie denn, warum sind die Leute weg nach acht Jahren?
Elisabeth Scharfenberg: Weil sie ausgebrannt sind, weil es ein sehr, sehr anstrengender Job ist, weil die Bezahlung oft nicht ausreichend ist.
Deutschlandradio Kultur: Bruttolöhne um die 2.000 Euro in Vollzeitstellen.
Elisabeth Scharfenberg: Ja. Das ist eine große Hürde. Und es ist eben auch so: Die Pflege an sich ist weiblich. Wir haben unheimlich viel Frauen, die in Pflegeberufen arbeiten und dann natürlich auch in der Zeit, wo die Familienphase ist, da brechen auch viele Frauen weg.
Es hat auch was mit den Aufstiegschancen zu tun. Ein Beruf wird attraktiv, wenn man auch die Möglichkeit hat aufzusteigen, wenn man die Möglichkeit hat ja am Ende des Tages nach Hause zu gehen und zu sagen: Ich hab einen richtig guten Job heute gemacht. Ich bin zufrieden und kann heute in den Spiegel gucken und alles ist gut. – Und das geht eben vielen, die in dem Bereich arbeiten, nicht so.
Es hat auch was mit den Aufstiegschancen zu tun. Ein Beruf wird attraktiv, wenn man auch die Möglichkeit hat aufzusteigen, wenn man die Möglichkeit hat ja am Ende des Tages nach Hause zu gehen und zu sagen: Ich hab einen richtig guten Job heute gemacht. Ich bin zufrieden und kann heute in den Spiegel gucken und alles ist gut. – Und das geht eben vielen, die in dem Bereich arbeiten, nicht so.
Deutschlandradio Kultur: Das ist interessant, was Sie jetzt sagen, weil, das ist für mich gerade ein Déjà-vu. Der Kollege Zantow und ich haben das erlebt. Der Minister Bahr seinerzeit hat uns diese Antwort gegeben. Herr Rösler hat mir diese Antwort gegeben. Herr Westerfellhaus, selber ein ausgebildeter Pfleger, hat mir diese Antwort gegeben. Man kann das noch möglicherweise an der Stelle kurz ergänzen, um das zu illustrieren: Wir haben derzeit fast eine Million Pflegekräfte, klingt furchtbar viel. Aber die meisten davon sind eben in Teilzeit unterwegs und nicht in Vollzeit, die da stationär oder ambulant arbeiten. Schon jetzt fehlen 130.000. Schätzungen zufolge werden in 17 oder in 16 Jahren, wenn die Zahl der Pflegefälle deutlich zugenommen haben wird, etwa eine halbe Million Pflegerinnen und Pfleger fehlen. Jeder weiß es, aber es geschieht nichts.
Was meinen Sie? Was müsste denn jetzt konkret getan werden, damit wir da nicht in die absolute Katastrophe laufen, sehenden Auges laufen?
Elisabeth Scharfenberg: Das ist eine Sache, die sich auf vielen Mosaiksteinen zusammensetzt.
Deutschlandradio Kultur: Mal fokussiert auf den Beruf der Pfleger, der Fachkräfte, wie auch der Pfleger, die nur die Grundpflege machen...
Elisabeth Scharfenberg: Ich glaube, auch da ist der Dreh- und Angelpunkt der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, wenn man sich neu aufstellt, was ist Pflege und wie wollen wir pflegen, wenn dieser Zeitdruck wegfällt, wenn auch Arbeitgeber bereit sind, spannende Arbeitsplätze zu schaffen. Ich möchte ganz kurz von einer Pflegeeinrichtung bei mir im Wahlkreis berichten, die für mich so einen Leuchtturmcharakter hat.
Da war ich zu einem Rollentausch. Das heißt, ich wurde eingeladen als Politikerin, einfach mal einen Tag mitzuarbeiten. Und ich habe da eine ganz hohe Zufriedenheit erlebt bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Und die sind so aufgestellt, dass sie ihr Haus in vier Wohngruppen aufgeteilt haben. In diesem Haus gibt's zum Beispiel in jeder Wohngruppe einen Holzofen. Der brannte, als ich im Januar da war – undenkbar in einer Pflegeeinrichtung. Es sind überall Teppichböden. Es wird in jeder Gruppe jeden Tag frisch gekocht. Die Menschen machen mit. Die waschen ihre Wäsche selbst – jedem multiresistenten Keim zum Trotz. Die haben sie nämlich nicht, weil das alles sehr kleinräumig läuft. Die Menschen haben Zeit. Die Hauswirtschafterin steht am Herd und brät Buletten und um sie rum sitzt die Gruppe Menschen. Die riechen das, die sehen das. Die mischen mit. Und das war eine unglaublich hohe Zufriedenheit. Es war kein Zeitdruck. Es war kein Stress.
Und ich hab dann wirklich auch mich mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterhalten und ich glaube, der Betreiber dieser Einrichtung ist einfach sehr mutig. Allein im Januar da hinzukommen und zu sagen, was riecht denn hier so. Ich wohne in einer sehr ländlichen Region. Da sind Holzöfen, Holzfeuer ist da üblich, aber nicht in so einer Einrichtung. Und der Holzofen brannte und das war so angenehm. Und neben dem Sofa lag ein Hund und es roch nach Kuchen, der gerade im Rohr war. Es war ein Zuhause, was da organisiert wurde und nicht eine Einrichtung, die unter Zeitdruck funktioniert hat.
Ich glaube, da muss einfach auch ein Umdenken stattfinden. Ich kenne viele, die unter den gleichen Bedingungen wie alle anderen auch super tolle Arbeitgeber sind, die also sich um ihre Leute kümmern, die Gesundheitsmanagement machen, die dafür sorgen, dass die Auszeiten haben, dass sie gesund bleiben, dass sie sich fortbilden können.
Und dann gibt's eben auch die schwarzen Schafe. Und da brennt man dann eben auch aus.
Und dann gibt's eben auch die schwarzen Schafe. Und da brennt man dann eben auch aus.
Deutschlandradio Kultur: Eine andere Frage, die immer wieder auftaucht bei unserer Diskussion, was Pflegekräfte angeht: Stichwort ausländische Pflegekräfte. Ist das ein Weg, der auch Sinn macht, wenn wir aus Osteuropa oder Asien jetzt sehr viele Leute hierher holen - ich sag's mal sehr salopp und sehr bewusst -, deren fremde Kulturen auf hoch betagte Senioren und Pflegefälle loslassen. Ich denke nur an die sprachlichen Barrieren.
Elisabeth Scharfenberg: Also, ich denke, uns allen muss klar sein, Deutschland ist ein Einwanderungsland. Wir werden auch bei unserer gesellschaftlichen Entwicklung über kurz oder lang ja auf Einwanderung angewiesen sein. Aber das wird unser Pflegeproblem überhaupt nicht lösen. Da müssen wir wo ganz anders hingucken. Denn die Pflegekräfte, die aus Osteuropa kommen und aus anderen Ländern, die haben auch ganz andere Arbeitsmöglichkeiten. Die ziehen an uns vorüber nach Skandinavien. Die ziehen nach Großbritannien. Die ziehen in die Schweiz, weil sie dort einfach bessere Arbeitsmöglichkeiten vorfinden, bessere Bezahlung, einen besseren Job. Und von daher wird das Modell so nicht tragen.
Die sprachliche Barriere spielt natürlich eine ganz, ganz große Rolle.
Die sprachliche Barriere spielt natürlich eine ganz, ganz große Rolle.
Es gibt Pflegekräfte aus Spanien beispielsweise, die in Deutschland arbeiten, die hier zutiefst frustriert sind, weil sie in Spanien wesentlich qualifizierter arbeiten dürfen als eine qualifizierte Altenpflegekraft hier. Da haben sie wesentlich höhere Möglichkeiten, ihr Fachwissen einzusetzen. Die sagen, hier kann ich gar nicht all das einbringen, was ich als Fachkraft kann. Und das bringt natürlich auch Frustration. Und diese Kräfte, die gehen dann wirklich in Länder, wo sie bessere Arbeitsplatzsituationen vorfinden.
Deutschlandradio Kultur: Frustrationen, die haben sicherlich auch einige, wenn sie die Angst haben vor der Pflege. Denn das bedeutet auch für viele oft Armut. Also, 440.000 Menschen müssen bereits über die Sozialhilfe unterstützt werden, zum Beispiel rund ein Drittel aller Heimbewohner. – Wie könnte man denn da Abhilfe leisten über die Regierungspläne hinaus, auch jenseits der angesprochenen Bürgerversicherung? Frau Scharfenberg, wie kann man das Armutsrisiko, wenn man auf die Pflege zusteuert, eindämmen?
Elisabeth Scharfenberg: Also, ich glaube, es beginnt schon im eigenen Arbeitsleben im Grunde genommen. Gute Löhne sichern auch eine Rente, von der man leben kann, und sichern natürlich dann auch ein Auskommen im Alter und auch bei Pflege. Und bei diesem Tarifgebaren oder bei dem Lohnniveau, was wir teilweise eben haben, da ist eine Altersarmut schon vorprogrammiert. Da können wir drauf warten. Dass viele Menschen, die im Grunde genommen in ihrem Arbeitsleben schon kaum zurechtkommen, dass die im Alter nicht zurechtkommen werden, das ist einfach klar. Das hängt absolut zusammen und da wird auch eine Welle auf uns zukommen. Da bin ich ganz, ganz sicher.
Dennoch, ich bin sehr froh, dass diese Menschen genauso gut gepflegt werden wie andere auch. Und das ist in den Pflegeeinrichtungen überhaupt nicht bekannt, wer da letztendlich Sozialhilfe bekommt oder nicht. Das wissen die auf den einzelnen Gruppen überhaupt nicht. Das weiß die Kraft, die die Abrechnung macht oder die die Rechnungen schickt oder die halt mit dem Bezirk, wie es in Bayern ist, verhandelt. Aber für die Person an sich in der Pflegesituation spielt das erstmal keine Rolle.
Deutschlandradio Kultur: Frau Scharfenberg, wir haben das Gespräch mit dem Hinweis begonnen, dass die politisch Verantwortlichen das Thema umfassende Pflegereform seit Jahren nicht anpacken, nicht angepackt haben – nicht Ex-Minister Rösler von der FDP und auch nicht sein Parteifreund und Nachfolger Daniel Bahr, den Sie ja einmal als Drückeberger bezeichnet haben.
Hand aufs Herz: Was trauen Sie Christdemokrat Hermann Gröhe, dem neuen Bundesgesundheitsminister, zu?
Elisabeth Scharfenberg: Ja, er macht zumindest jetzt mal mehr als alle anderen davor. Das rechne ich ihm hoch an. Er hat das Thema nach vorne gebracht. Das finde ich auch sehr gut. Die Republik spricht darüber. Das ist schon mal gut. Wir werden am Ende des Tages sehen müssen, was umgesetzt werden wird, was wirklich dabei rauskommt. Und daran wird er sich messen lassen müssen. Wir haben ja auch einen riesengroßen Anteil an pflegenden Angehörigen, die drauf angewiesen sind und drauf warten, dass sie Unterstützung bekommen. Und ich glaube, dass diese Menschen und auch die Pflegenden, die professionell Pflegenden es einfach nicht mehr hinnehmen werden, hingehalten zu werden und vertröstet zu werden und mit warmen Worten da bedacht zu werden. Die brauchen Unterstützung, die Professionellen wie die Familien.
Deutschlandradio Kultur: Denn sonst droht die Armut. Das haben wir gerade schon angesprochen. Es gibt unhaltbare Zustände im Pflegesystem, in Heimen. Mehrere Millionen Menschen haben hierzulande direkt oder indirekt mit der Pflege zu tun, sei es als Pflegefall, als Pflegepersonal, als pflegende Angehörige. – Warum nur, Frau Scharfenberg, wird dieses brisante Thema, was wir jetzt hier 25 Minuten lang besprochen haben, von so vielen immer noch stiefmütterlich behandelt in der Politik?
Elisabeth Scharfenberg: Nicht nur in der Politik. Wir ducken uns alle weg.
Deutschlandradio Kultur: Warum?
Elisabeth Scharfenberg: Weil es einfach ein Thema ist, was weh tut. Das ist ein Thema, was uns sehr direkt betrifft, was uns täglich ereilen kann. Pflege ist keine Frage des Alters. Ich mache auf Michael Schumacher aufmerksam. Das kann sehr flott und sehr schnell passieren. Es ist ein Thema, wo man an die eigenen Grenzen kommt, wo man Angst davor hat, dass man unwürdig behandelt wird, dass man das nicht mehr selbst alles organisieren kann.
Ich erlebe das auf meinen Veranstaltungen, wenn ich Veranstaltungen zum Thema Pflege mache oder Leben am Lebensende. All diese Themen, da kriege ich die Hallen nicht mit voll. Das sind andere Themen, mit denen man sich gerne befassen möchte.
Ich erlebe das auf meinen Veranstaltungen, wenn ich Veranstaltungen zum Thema Pflege mache oder Leben am Lebensende. All diese Themen, da kriege ich die Hallen nicht mit voll. Das sind andere Themen, mit denen man sich gerne befassen möchte.
Und ich bin der festen Überzeugung, solange wir auch nicht selbst bereit sind, uns mit diesem Thema zu befassen, ist es relativ begrenzt, was auch Politik bewegen wird.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank Frau Scharfenberg.