Martin Tschechne fährt Fahrrad. Zumindest, wenn es nicht allzu heftig stürmt und schüttet – was in seinem Wohnort Hamburg allerdings vorkommt. Der Journalist und promovierte Psychologe wurde mit dem Medienpreis der Deutschen Gesellschaft für Psychologie ausgezeichnet. 2010 erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern (Verlag Ellert & Richter).
Lenken, leiten, locken
Martin Tschechne sieht seine Bewegungsfreiheit im Straßenverkehr immer mehr durch paternalistische Eingriffe beschränkt. Zu den üblichen Ge- und Verbotsschildern gesellen sich freundliche Ermahnungen und Appelle an Vernunft. Wer blickt da noch durch?
Der Weg zum Arbeitsplatz oder in den Supermarkt ist jetzt ein bisschen weniger, sagen wir: abenteuerlich. Wo bislang eine Kreuzung zweier Straßen Aufmerksamkeit gebot und die abrufbare Kenntnis der Grundregel: Rechts hat Vorfahrt, wer von links kommt, muss warten – da regelt nun ein Kreisel den Verkehr. Busfahrer dürfen zeigen, was sie können, indem sie sich auf enger Spur darum herumzirkeln. Autofahrer tasten sich langsam ruckelnd in den Kreislauf vor.
Und siehe da: Auch in der gemächlichen Ruhe eines Wohnviertels am Stadtrand lässt sich ein veritabler Metropolenstau erzeugen. Multipliziert mit dem Faktor X, denn der Kreisel mit Wildpflanzenbiotop in der Mitte gilt längst als Königsweg in die Zukunft der Mobilität. Flächendeckend. Der Weg von A nach B führt im Kreis herum. Oder weniger ironisch ausgedrückt: Die Lösung eines Problems, das keines war, hat neue Probleme erst erzeugt. Denn vor dem Kreisel steht der Verkehr nun Schlange, stößt Wolken von Feinstaub und CO2 aus, belästigt Anwohner durch Lärm – das volle Programm.
Emoticons mit einer Mimik wie Merkel
Wer es schafft, seinen Weg dennoch fortzusetzen, der erlebt ein Crescendo an immer neuen Versuchen, ein strukturelles Problem durch Patentlösungen aus dem Bastelmarkt zu beheben. Poller, Leitplanken und eingefasste Fahrspuren, Noppen, Schwellen quer über die Straße, künstliche Hindernisse oder in zornigem Rot aufblitzende Emoticons, die dem Verkehrsteilnehmer mit dem Gesichtsausdruck einer Angela Merkel signalisieren, erstens, dass er ein Tempolimit übersehen oder missachtet hat, und zweitens, dass jede seiner Regungen beobachtet und verzeichnet wird.
Im Jahr 2017 wurde der Amerikaner Richard Thaler mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet. Sein Konzept des Nudging gilt als freundlicher Kompromiss, das Leben in einer Gemeinschaft zu regulieren, ohne die Autonomie des Einzelnen allzu sehr durch Verordnungen und Verbote einzuschränken. Nudging, also: sanftes Stupsen hin zu einem erwünschten Verhalten, erinnert Raucher daran, dass sie sich ihre Unsitte eigentlich abgewöhnen wollten. Es ermahnt zu sparsamem Umgang mit Ressourcen, es hilft, die Zahl der freiwilligen Organspender zu erhöhen. Und es bringt Raser dazu, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen – einfach durch ein Schild am Straßenrand, auf dem der Betrag steht, auf Euro und Cent präzise, den andere Raser an genau dieser Stelle im vergangenen Jahr als Strafe bezahlen mussten.
Eingeschränkte Entscheidungsarchitektur
Genial! Das Problem ist nur, dass dem fürsorglichen und oft sehr einfallsreichen Paternalismus kaum Grenzen gesetzt werden. Schnell kommt bei den einen das Gefühl auf, in den Mauern dieser Entscheidungsarchitektur eingesperrt zu sein, bevormundet zu werden. Während die anderen meinen, ach, das geht so schnell und reibungslos, dass sie immer noch einen weiteren Stein drauf legen können.
Bis hin zur Superkreuzung im neuen Design, für die eigentlich eine Prüfung in höherer Geometrie abgelegt haben sollte, wer sie ohne Schwindelgefühl passieren möchte. Eine Fahrradspur geradeaus, mitten durch ein Chaos an weißen Strichen, Pfeilen, Kurven und Haltelinien. Eine Busspur mit Haltestelle rechts daneben. Eine Spur für Rechtsabbieger, die beide, Fahrrad- und Busspur in einer Kühnheit kreuzt, dass Autofahren dann doch wieder zum Abenteuer wird. Haltelinien für Linksabbieger, als sollten die erst dort den Gegenverkehr ins Auge fassen. Und ganz rechts raus die Radfahrer, denen eine eigene Nische in den Gehweg gekerbt wurde, um von dort – gewissermaßen mit Anlauf – nach links abbiegen zu können. Verwirrend? So soll es wohl sein. Oder so wird es, wenn der Blick fürs Ganze verloren geht in der Lust, möglichst jedes Detail zu regulieren.