An der Sache vorbei

In ihrer ersten Regierungserklärung nach der Bundestagswahl verspricht eine präsidiale Kanzlerin mehr Gerechtigkeit mit Mindestlohn und Rentenpaket. Weniger Eigenlob hätte der Rede gutgetan, kommentiert Frank Capellan.
"Manches ist erreicht, vieles ist zu tun!" Originalton Angela Merkel. Eine präsidiale Kanzlerin. Eine Frau der Ankündigungen. Eine Vorsitzende des Eigenlobs. "Mutti der Nation" wird sie mal spöttisch, mal respektvoll genannt. Sie hat nichts gegen diesen Titel. Eine, die sich kümmert, möchte sie sein. In diesem Sinne hat sie eine geschlagene Stunde lang den Koalitionsvertrag referiert. Nüchtern, leidenschaftslos. Große Visionen hat diese Frau nicht.
Energiewende und Rente – das sind die beiden zentralen Projekte dieser Koalition. Letzteres hat ihre Regierung heute in die Spur gesetzt. Mütterrente und Rente mit 63 haben Union und SPD ihren Wählern versprochen, bis zum Sommer will Merkel liefern, doch statt zum Aushängeschild könnte beides bald zum Fanal von Schwarz-Rot werden. "Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich im Umgang mit Schwachen," sagt sie, "wenn sie alt sind, wenn sie krank sind". Wer könnte das in Abrede stellen?
Merkel redet an der Sache vorbei. Daran, dass sie gerade einen Generationenkonflikt schürt. Für eine minimale Rentensteigerung wird den künftigen Beitragszahlern in die Tasche gegriffen. Steuererhöhungen lehnt sie ab. Doch nur mit Steuergeld dürfte die Mütterrente finanziert werden. Warum sollen sich Beamte und Selbstständige nicht daran beteiligen, wenn es darum geht Erziehungsleistungen zu finanzieren? Die Rente mit 63 wiederum könnte der Kanzlerin schnell aus der Hand gleiten, wenn es Arbeitsministerin Nahles nicht gelingt, ihr Gesetz gerichtsfest zu machen. Wie sie bei der Berechnung der 45 notwendigen Versicherungsjahre Langzeitarbeitslose ausschließen will, ohne dass es zu einer Klagewelle kommt, kann die Sozialdemokratin nicht beantworten. Zudem droht eine Frühverrentungswelle: Arbeitnehmer könnten mit 61 entlassen und zwei Jahre später nach dem Bezug von Arbeitslosengeld 1 in die abschlagsfreie Rente geschickt werden.
Mit diesem Klein-Klein aber gibt sich die Kanzlerin nicht ab. Sie übt sich wegen der NSA-Affäre in scharfen Warnungen an Washington. Vertrauen wurde zerstört, Misstrauen gesät – klingt plausibel, ist aber nur die halbe Wahrheit. Dass Merkel selbst die Abhörpraxis der Amerikaner viel zu lange schöngeredet hat, dass niemand aus ihrer Regierung den Mut hat, mit Edward Snowden zu reden, dass es immer noch kein Ermittlungsverfahren gibt, dass es hier auch um Wirtschaftsspionage geht – über all das verliert sie kein einziges Wort. Stattdessen weitere Ankündigungen – etwa von der Notwendigkeit einer Stärkung der europäischen Institutionen. Konkretes haben wir da seit Monaten schon nicht mehr von ihr gehört, und was die Belebung des deutsch-französischen Verhältnisses angeht, erweist sich momentan wohl eher Außenminister Steinmeier als treibende Kraft. Ironie des Wahlergebnisses, dass die Sozialdemokraten der Chefin nun applaudieren müssen. Vor Monaten noch hätten sie ihr diese Regierungserklärung um die Ohren gehauen. Jetzt sind sie mit im Boot. Es bleibt viel zu tun, packt es endlich richtig an!