"Das hier ist wie russisches Roulette"
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In Belarus wollen sich die Kritiker von Präsident Lukaschenko nicht mundtot machen lassen und demonstrieren weiterhin. Doch sie leben gefährlich. Zwei Frauen aus Minsk erzählen davon.
Mittwochabend vergangene Woche. Um 17.42 Uhr bekommen wir eine E-Mail. Betreff: "Können wir telefonieren? Bitte!" - unterzeichnet "LG S".
"S" steht für Sascha. Sie ist eine Freundin, Kollegin und Dolmetscherin. Sascha lebt in der Hauptstadt Minsk, wo zu diesem Zeitpunkt Polizei, Miliz und OMON-Spezialkräfte brutal gegen tausende friedliche Demonstranten vorgehen.
"Ich glaube, ich muss nicht sagen, wie schrecklich diese Tage hier sind", sagt Sascha.
Einige Stunden später können wir über eine sichere Online-Verbindung sprechen. Sascha ist eine junge, besonnene Frau. Jetzt ist sie aufgelöst, sucht nach Worten: "Ich muss euch nicht erklären, dass die Hälfte meiner Freunde und Kollegen geschlagen oder eingesperrt worden sind, sie sind wirklich zum Ziel geworden."
Kommunikationswege werden abgeschaltet
Polizei und Miliz gehen gezielt gegen Journalisten vor, Messenger-Dienste werden abgeschaltet, das Internet ist zeitweise lahmgelegt. Sascha hat Audioaufnahmen gemacht, Protestierende interviewt. Sie versucht, die Stimmung einzufangen.
Donnerstagnacht schickt sie uns Material. Verschlüsselt, über eine sichere Verbindung. Wir können es nicht überprüfen. Aber es deckt sich mit anderen Quellen. Viele friedliche, dezentrale Proteste, massive Polizeieinsätze, Tausende Verhaftete.
"Ich verlasse das Haus nur noch mit einer kleinen Tasche", erzählt Sascha. Darin ein Pullover, ein Stück Seife, ein Schokoriegel. Und eine Flasche Wasser. Für den Fall, dass sie verhaftet wird. "Das hier ist russisches Roulette", sagt sie.
Ganz in Weiß gekleidet, mit Blumen in den Händen
Am Freitag trifft Sascha in der Minsker Innenstadt Tatsiana, sie ist Mitte 20 und erzählt: "Heute Morgen war ich beim friedlichen Protest der Frauen. Jeden Tag bilden wir eine Kette. In jedem Bezirk. Das ist wunderbar. Alle Frauen stehen da, ganz in Weiß gekleidet, mit Blumen in den Händen. Die Leute versorgen uns mit Wasser und Nahrung, es gibt eine große Solidarität."
Nicht nur in Minsk gehen die Menschen jetzt auf die Straße. In Belarus hat ein Frauen-Trio geschafft, was männliche Oppositionskandidaten über Jahrzehnte nicht vermochten.
"Es fühlt sich so gut an", sagt Tasiana. "Hört ihr all die hupenden Autos?". Dann müssen sie das Interview abbrechen, Sicherheitskräfte tauchen auf.
Die Brutalität der Sicherheitskräfte sorgt international für Proteste. Sogar aus Russland. Noch am Freitag reagiert der belarusische Innenminister, entschuldigt sich, lässt 1000 Personen wieder frei. Zahllose Festgenommene sind zum Teil schwer misshandelt worden, sie dokumentieren ihre Verletzungen mit Fotos in den sozialen Netzwerken. Viele Tausende sitzen aber immer noch in den Arrestzellen. Mehr als 100 Demonstranten sind verschwunden, berichten Oppositionskreise.
"Nachts schlägt die Stimmung um"
Vor dem Wochenende rufen in einigen Staatsbetrieben Arbeiter zu Protesten auf. Die Demonstrationen gehen weiter. Polizei, Miliz und OMON, die gefürchtete Spezialeinheit zeigen Präsenz. Aber halten sich zurück.
Abends aber spüren viele Protestierende die Angst, sagt Tatsiana: "Minsk war noch nie so, wie in diesen Tagen. Das ist unglaublich. Es ändert sich von Tag zu Tag. In den ersten Tagen war hier viel Hoffnung und wir erleben die friedlichen Proteste. Nachts aber schlägt die Stimmung um. Da ist es schrecklich und du überlegst dir zweimal, ob du noch auf die Straße gehst."
Am Sonntag dann ist Tatsiana mit mehr als 100.000 Demonstranten auf die Straße gegangen. Präsident Lukaschenko mobilisierte für eine Gegenveranstaltung mehrere Tausend Anhänger. Zuvor hatte er Russland um Unterstützung gebeten. Ab heute dann ruft die Opposition zum Generalstreik auf. Und der Präsident versetzt das Militär in Alarmbereitschaft. Er betont, er werde nicht abtreten. Tatsiana wird weiter demonstrieren. Und Sascha versuchen, weiter die Proteste zu dokumentieren.
Sascha betont: "Der Zusammenhalt und die Solidarität der Menschen ist unglaublich. Und das wächst weiter. Ja, das hier ist ein Marathon, aber ich bin 100-prozentig sicher: Es gibt keinen Weg zurück! Es ist nur die Frage, wie grausam und gewalttätig es noch werden wird."