"Es gibt zu wenig Filme aus weiblicher Perspektive"
Als Schnittassistent hat Andrew Haigh bereits bei den ganz großen Blockbustern mitgewirkt. In seinen eigenen Projekten bevorzugt der Regisseur eine natürlichere Filmsprache und stellt Menschen in den Mittelpunkt. Sein neuer Film mit Charlotte Rampling oder Tom Courtenay verzichtet bewusst auf eine männliche Perspektive.
Susanne Burg: Mister Haigh, die Vorlage für den Film, die stammt von einer Kurzgeschichte von David Constantine, "In Another Country". In Ihrem Film ("45 Years") jetzt sind die Protagonisten jünger, und Sie erzählen die Geschichte auch aus der Perspektive von Kate. Warum haben Sie sich für diese leichten Abwandlungen entschieden?
Andrew Haigh: Mir war es sehr wichtig, diese Geschichte ein wenig heutiger, ein wenig zeitgenössischer zu erzählen, weil in dem Buch ist es ein älteres Ehepaar, das schon weit über 80 ist, und da spielt dann auch die Geschichte in der Vergangenheit, im Zweiten Weltkrieg. Und deswegen wollte ich, damit es ein bisschen moderner, ein bisschen zeitgenössischer wird, dass dieses Paar ein wenig jünger ist und dass eben die Geschichte aus der Vergangenheit in den 60er-Jahren spielt. Das erschien mir wichtig, auch, damit ein breiteres Publikum sich für diese Geschichte in irgendeiner Form interessiert.
Und die Idee, es aus Kates Perspektive zu erzählen, das war Absicht, das war von Anfang an das, was ich wollte, weil ich der Meinung bin, es gibt so viele Filme und Bücher, die uns von den Krisen der Männer erzählen, wenn sie älter werden, von ihren Zweifeln. Man muss ja nur ein Philipp-Roth-Buch aufschlagen, und schon hat man diese Geschichte. Und da habe ich mir gedacht, wie kommt es eigentlich, dass man solche Geschichten nicht auch aus der weiblichen Perspektive erzählt, warum eigentlich nicht?
Auch Frauen haben ihre Zweifel, was gewisse Fragen angeht, was Beziehungen angeht, und trotzdem gibt es so wenig Filme, und ich habe das nie verstanden, warum es so wenig Filme aus weiblicher Perspektive gibt. Und genau deshalb wollte ich einen drehen.
"Eifersüchtig auf etwas, das vor der Beziehung lag"
Burg: Und die Geschichte, die Sie erzählen, ist die, dass Kate plötzlich auch eifersüchtig wird, weil sie eben diese Geschichte erfährt, die ihr Mann erlebt hat, bevor sie verheiratet waren. Sie ist eifersüchtig auf etwas, das vor der Beziehung mit Jeff lag. Sie selbst sagt, darauf darf sie eigentlich nicht eifersüchtig sein, aber die Frage ist ja auch, ist es wirklich das oder vielmehr die Einsicht, dass da etwas ist, von dem sie nie so wirklich wusste, dass sie ihren Mann eigentlich doch nicht so richtig kannte.
Haigh: Ja, das stimmt. Es ist wirklich so, dass man ja doch Beziehungen nach dem definiert, wer man ist. Und eine Beziehung entwickelt sich so letztendlich dann auch weiter, wenn man meint, den anderen zu kennen und sich auch so definiert hat in dieser Beziehung, und durch diese neue Information wird diese Beziehung plötzlich etwas brüchig. Sie ist nicht mehr so stabil. Und sie kriegt plötzlich raus, Kate, dass ihr Mann einst sehr, sehr verliebt war, und in gewisser Weise ist das Fundament, auf dem diese Beziehung gestanden hatte, dieses Fundament bröckelt, weil die beiden es auf etwas basiert haben, was auf einer Unehrlichkeit beruht.
Sie haben sich nicht wirklich die ganze Wahrheit gesagt, auch wenn das in der Vergangenheit stattgefunden hat. Und plötzlich, wenn man an der Beziehung zweifelt, dann ist das so, man fängt an der eigenen Existenz an zu zweifeln. Man stellt sich neue Fragen, man wird introvertierter und hat diese schrecklichen Ängste, die dann plötzlich sind, das ist, als würde man den Boden unter den Füßen verlieren und diese ganze Bodenhaftung, die so eine Beziehung eben auch haben kann, plötzlich verlieren.
Sie verfällt in ein ruhiges, inneres Chaos. Und auch wenn diese alte Liebesgeschichte so lange her ist und keinen wirklichen Einfluss eigentlich auf die heutige Beziehung hat, reagiert sie so.
"Langzeitbeziehungen geben einem Bequemlichkeit"
Burg: Die Beziehung, muss man auch sagen, ist ja eigentlich eine sehr gute, die die beiden haben, sie kennen sich gut, Kate weiß genau, wie viele Kopien vom Kierckegaard-Buch ihr Mann besitzt, wie viele er davon gelesen hat. Sie sind sehr nett zueinander, verständnisvoll, haben Spaß, und doch kommt ihre Beziehung dann ins Schleudern. Glauben Sie nicht an so was wie langlebige Beziehungen?
Haigh: Ich glaube durchaus an Langzeitbeziehungen. Sie geben einem ja auch eine gewisse Bequemlichkeit, eine gewisse Liebe, und man fühlt sich dann weniger allein. Das ist, glaube ich, auch genau der Grund, warum wir letztendlich dann doch immer auf Beziehungen abzielen und in Beziehungen enden, weil man eben diese große Angst davor hat, einsam zu sein. Und in diesem Fall – Kate liebt ihren Mann noch, und sie weiß durchaus, dass er sie auch liebt, aber sie fühlt sich dann plötzlich eben doch wieder allein. Und das ist unglaublich schwer, diese Einsamkeit, die man immer wieder empfinden kann, auch wenn man in einer Beziehung lebt, das zu akzeptieren.
Wir versuchen, dieser Einsamkeit immer zu entfliehen, durch Jobs, durch Freunde, eben durch Beziehung, aber es kommt immer wieder zu dem Punkt, wo wir allein sind. Und dann stellen wir uns Fragen nach dem Sinn des Lebens, ob wir all das erreicht haben, was wir uns vorgenommen haben, und das sind sehr schmerzliche Fragen, die man sich dann stellt, und diese Wahlfreiheit, die man hat, diese schier unmögliche Anzahl von Wahlmöglichkeiten macht uns plötzlich eine Riesenangst.
Burg: Und Sie zeigen ja wirklich, wie die beiden eigentlich zu diesem Bewusstsein gelangen, dass sie doch alleine sind. Sie versuchen das auch zu besprechen, sie sprechen viel miteinander, aber eben dann doch nicht genug. Es geht in Ihrem Film viel um das, was die beiden auch nicht artikulieren können. Wie schwer war es, genau das in ein Drehbuch zu schreiben und dann auch auf die Leinwand zu bringen?
"Vieles findet im Unterbewusstsein statt"
Haigh: Das ist natürlich sehr schwer. Und die Frage ist auch immer, wenn wir kommunizieren – wie kommunizieren wir das, was wir kommunizieren? Es gibt Dinge, die wir ganz gern und ganz bereitwillig erzählen, und dann haben wir aber auch diese Geheimnisse oder diese Dinge, vor denen wir Angst haben, es dem Partner zu sagen. Und das geschieht hauptsächlich mit den Leuten, die wir wirklich lieben, die uns wirklich nahestehen, zu denen wir wirklich echte Gefühle haben. Aber es ist eben schwer, alles auszudrücken.
Und der Film, den ich davor gemacht habe, da ging es um eine neue Beziehung, die sich gerade definierte. Und da waren die Protagonisten offener miteinander, weil sie sich neu gefunden haben. Aber hier reden wir ja von einer Langzeitbeziehung, und da ist alles so ein bisschen zementiert, die Rollen, die man spielt, die Zustände, die man erlebt, und dann ist immer die Frage, wie viel soll man dem Publikum letztendlich verraten. Was soll der Zuschauer genau wissen? Und im Drehbuch gab es vielleicht noch mehr Erklärungen für die Vergangenheit, für die Art der Beziehung, aber wenn man dann Schauspieler wie Charlotte Rampling oder Tom Courtenay hat, wo so viel in den Gesichtern geschieht, dann verzichtet man eben auch auf die eine oder andere Erklärung. Mir geht es dann wirklich darum, dass vieles auch im Unterbewusstsein stattfindet, und dass der Zuschauer am Ende nach Hause geht und nicht so genau weiß, was er von diesem Ende halten soll, noch mal drüber nachdenkt, vielleicht mit seinem Partner darüber redet.
Und damit man das erreichen kann, dass dieser Film sozusagen anhält in seiner Wirkung und auch in seinen Fragen, da muss man natürlich ein bisschen unklarer sein und nicht alles auserzählen und nicht alles erklären.
"Würde mich niemals mit Ingmar Bergman vergleichen"
Burg: Ist interessant, was Sie sagen. Häufig setzt ja – Kino will ja auch Gefühle evozieren und tut das eben mit anderen Mitteln. Ihre Geschichten wirken immer sehr im Leben verwurzelt. Sie haben eben "Weekend" erwähnt von 2011 oder auch bei der HBO-Serie, die Sie geschrieben haben, "Looking", die im letzten Jahr rauskam, war das so, dass eben diese Beziehungen sehr, sehr echt wirken. Soll für Sie Kino sich mehr nach echtem Leben anfühlen?
Haigh: Definitiv versuche ich das. Mir geht es letztendlich auch darum, zu zeigen, was für eine Unordnung letztendlich in unserem Leben ist, was für ein Chaos da auch herrscht. All diese Dinge, die uns verwirren, die wir nicht so recht erklären können, die uns auch als Menschen die ganze Zeit immer umtreiben. Diese Gefühle, die wir uns nicht erklären können, die wir versuchen zu rationalisieren, zu intellektualisieren, aber es ist ganz schwer, das wirklich auszudrücken. Und so sehen wir dann die Welt, so sehen wir dann uns selbst, aber es ist eben nicht so leicht zu erklären.
Und genau das versuche ich, irgendwie in meinen Geschichten und in der Art, wie ich filme, drehe, auszudrücken. Deswegen mag ich es nicht, wenn ich zu stark erkläre, wenn ich zu stark dem Zuschauer vorgebe, wie er was zu denken hat, weil ich sehe die Welt einfach so komplex und auch verwirrend und versuche es deshalb so naturalistisch, wie es geht, immer in dem gegebenen Projekt, das ich gerade realisiere, auch umzusetzen.
Burg: Da würden mich jetzt auch Ihre Vorbilder interessieren. Ich musste ja immer so ein bisschen an Ingmar Bergman denken.
Haigh: Man kann sich einen Film über dieses Thema ohne Ingmar Bergman eigentlich gar nicht vorstellen. Die größten Filme aller Zeiten stammen auch von ihm, wenn es darum geht, existenzielle Fragen auch anzusprechen, auch, was in uns stattfindet. Und er hat das ja immer in einer Art und Weise inszeniert, ohne es zu übertreiben, und ich würde mich in Millionen Jahren noch nicht mit Ingmar Bergman vergleichen wollen. Aber es sind die Regisseure, die sich für die Innenwelten interessieren, und nicht so stark für die Plots, für die Storys, die mich letztendlich mehr inspirieren, und davon gibt es mittlerweile ja so viele und auch so viele gute. Das sind die Regisseure, die mir dann als Vorbild dienen.
Burg: Und Sie haben renommierte Schauspieler gewinnen können für den Film. Charlotte Rampling und Tom Courtenay, die auch sehr, sehr, naturalistisch spielen. Wie haben Sie mit denen gearbeitet?
"Ich könnte Charlotte Rampling stundenlang ins Gesicht schauen"
Haigh: Für mich, wenn ich jetzt versuche, eine Art natürliche, naturalistische Sprache fürs Kino zu finden, dann geht es letztendlich natürlich erst einmal darum, die richtigen Schauspieler dafür auszuwählen, eben Schauspieler, die nicht schauspielern. Und da muss man natürlich auch das richtige Umfeld schaffen. Tom Courtney und Charlotte Rampling und ich, wir haben dann schon auch lange über den Look des Films diskutiert, wie er aussehen sollte, wie sich dieser Film auch anfühlen sollte, und wir haben mit einer relativ kleinen Crew von insgesamt nicht mehr als 30 Leuten gedreht.
Es war uns wichtig, dass es kein künstliches Licht in den Innenräumen gibt, sondern wir haben wirklich nur so beleuchtet, durch das Licht, das durch die Fenster kommt. Es war wichtig, beim Sounddesign auf natürliche Toneffekte zu achten. Es gibt keine Musik in dem Film. Dann ist der Film chronologisch gedreht worden, und wir haben auch nicht so klassisch gedreht, erst die Totale, dann die Nahaufnahmen, sondern wir haben uns immer in den Dienst der Geschichte gestellt, und dann muss man einfach sagen, diese beiden Schauspieler sind einfach so gut, sie sind einfach, anstatt, dass sie spielen, und ich könnte Charlotte Rampling stundenlang einfach nur ins Gesicht schauen, all das, was sie damit ausdrückt, das ist die pure Magie, das ist einfach perfekt.
Burg: Sie haben eigentlich in einem ganz anderen Genre gelernt, angefangen. Sie haben bei Blockbustern als Schnittassistent gearbeitet. Sie haben bei "Gladiator" oder "Black Hawk Down" gearbeitet, Filme, die erst mal nicht so sehr viel mit Ihren eigenen Werken zu tun haben scheinen. Was haben Sie von dieser Erfahrung als Cutter in Ihrer Arbeit als Regisseur mitgenommen?
Haigh: Der Filmschnitt ist einfach so elementar wichtig, und es gibt so viele Missverständnisse, wenn es um den Schnitt als solchen im Film geht, weil jeder Schnitt wirklich auch den Tonfall eines Films bestimmt. Und diese großen Blockbuster, an denen ich gearbeitet habe, diese großen Mainstreamfilme, da habe ich irgendwie gelernt, da waren eben so viele Schnitte drin. Und ich hatte dann einfach nur Lust, alles wieder zu vereinfachen, weniger Schnitte zu setzen, eine einfachere Filmsprache zu finden, zumindest für die Dinge, die mich persönlich interessiert haben als Filmemacher.
Das heißt nicht, dass ich die großen Filme nicht mag. Ich sehe auch mal gern "Avengers", und ich erinnere mich sehr gut, dass ich bei dem Film "Shanghai Nights" mit Jackie Chan drei Monate lang in Prag war als Assistent des Schnittmeisters. Tagsüber habe ich diese Blockbuster geschnitten, und dann abends – ich hatte 30 DVDs von Bergman-Filmen und habe mir dann abends die Bergman-Filme angeschaut. Und ich brauche beides, ich brauche beide Filmwelten. Einmal dieses sehr populäre Kino, das einfach nur unterhält, und dann eben auch das Kino, das wirklich etwas bedeutet.
Bei vielen Filmen über ältere Menschen hat es an Respekt gefehlt
Burg: In den letzten Jahren scheinen sehr viele Filme aus England gekommen zu sein, die sehr, sehr eigen, sehr sehr erfolgreich waren in ihrer Welt. Von Ihnen, von Paddy Considine, Andrea Arnold. Viele von denen unterstützt vom British Film Institute und von Channel Four. Gibt es da so etwas wie eine Bewegung junger Filmemacher?
Haigh: Also ich weiß nicht, ob man jetzt regelrecht von einer Bewegung reden kann. Wichtig ist allerdings, dass wir sehr gute Fördermechanismen haben, die es eben auch Regisseuren erlauben, ihre ganz eigene Stimme miteinzubringen, ihren ganz eigenen Weg zu gehen. Lange Zeit war das britische Kino wirklich fixiert auf romantische Komödien einerseits und Gangsterfilme andererseits. Viel was anderes haben wir nicht gemacht. Und jetzt plötzlich ist es eben auch möglich, dass die von Ihnen erwähnten Andrea Arnold oder auch Lynne Ramsey, die schon lange dabei ist, dass das Regisseurinnen und natürlich auch Regisseure sind, die neue Wege gehen können, die auch neue Aspekte der englischen Kultur, der britischen Kultur ausloten und dafür eben auch unterstützt werden.
Und das Schöne daran ist, dafür braucht man nicht diese großen Budgets, und dann sind eben solche Unterstützer wie Film Four oder das BFI, das British Film Institute, sehr, sehr wichtig, damit diese anderen Geschichten erzählt werden können.
Burg: Es gibt in der letzten Zeit auch viele Filme, die ältere Menschen im Zentrum haben. Bei uns ist jetzt etwa gerade vor Kurzem "Saint Vincent" mit Bill Murray angelaufen. Was halten Sie von der Darstellung von alten Menschen im Kino?
Haigh: Ich glaube, da hat sich auch vieles verändert, und das ist auch gut so. Es hat einfach zu viele Filme über ältere Menschen gegeben, wo ich sagen würde, da hat es doch ein wenig an Respekt gefehlt. Und ich möchte eben auch Leute zeigen, die schon älter sind, die aber eben noch die Welt verstehen, die sich selbst verstehen, die noch neugierig sind und die nicht nur komisch sind und nicht nur irgendwelche Klischees bedienen.
Und dann kommt natürlich hinzu, das Publikum wird älter und möchte auch Geschichten sehen, die mit ihrem eigenen Leben etwas zu tun haben, möchte diese Geschichten auch auf der Leinwand sehen und nicht immer nur Filme über Leute, die 20 sind. Auch ich möchte nicht immer nur Filme über Leute sehen, die so um die 20 sind, auch wenn ich das ab und zu mal gerne anschaue, aber mir geht es einfach darum, dass man die Wahl hat, dass man Filme über Menschen in ganz verschiedenen Altersgruppen eben auch sehen kann.
Burg: Andrew Haigh, vielen Dank, thank you very much!
Haigh: Thank you very much!
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