Der Hexenmeister des deutschen Films
36:02 Minuten
Für seine Bild- und Ton-Mixturen braucht Dietrich Brüggemann die Freiheit zum Experiment. Im Februar gibt es einen "Tatort" von ihm mit dem Titel "Murot und das Murmeltier". Brüggemann sagt: "Politische Überzeugungen sind Zielscheibe des Humors."
In seiner Familie sei er "der Spaßvogel" gewesen, sagt Dietrich Brüggemann. Vor allem mit seinen jüngeren Schwestern Anna und Clara habe er sich viel beschäftigt, erzählt der Filmemacher, Komponist und Drehbuchautor. Mit seinen Eltern und drei Schwestern lebte er von 1984 bis 1988 zur Zeit der Apartheid in Johannisburg in einem privilegierten Viertel für Weiße.
"Südafrika war Apartheid und Steinzeit in einem. Einerseits war das toll und spannend und super und da scheint immer die Sonne. Aber Johannesburg ist eine endlose Suburb-Stadt, so ähnlich wie Los Angeles, und jedes Haus hat einen Swimming-Pool hinten dran. Andererseits war es für Kinder erstaunlich unprivilegiert, denn der Aktionsradius war null. Du lebst in diesem Bungalow und alle Deine Freunde sind sehr, sehr, sehr weit weg. Da saß ich dann fest mit meinen drei Schwestern und habe viel gelesen und Flugzeug-Modelle gebaut."
Mit allen möglichen Künsten "herumdilettiert"
Als Kind und Jugendlicher habe er viel gemalt, gezeichnet, fotografiert und geschrieben, erzählt Brüggemann. "Ich habe in allen möglichen Künsten herumdilettiert. Und Musik war immer extrem wichtig. Mit 13 habe ich die Fotografie für mich entdeckt und war total begeistert davon. All das zusammengenommen, ist ja beim Film auch wichtig. Film ist ja ein Kessel Buntes, da haben alle Künste ihren Platz."
Brüggemanns Film "Heil" löste eine Kontroverse aus, als er 2015 in die Kinos kam. Eine Komödie über Neonazis zu machen, erregte die Gemüter in der deutschen Öffentlichkeit. Seiner Überzeugung nach dürfe man über alles Witze machen, was Menschen sich aus freien Stücken aussuchten, also auch über Neonazis, meint Brüggemann. "Bei mir wird man nie Witze finden über körperliche Merkmale oder sexuelle Orientierung. Aber politische Überzeugungen und Verhalten im Alltag sind Objekte freier Entscheidungen und damit auch Zielscheibe des Humors."
"Keine Lust, mich über Neonazis lustig zu machen"
Es sei ihm bei seinem Film "Heil" nicht um eine historische Aufarbeitung gegangen, sondern um die Debatte von heute, sagt Brüggemann. "Da war gerade der NSU-Komplex in den Medien groß explodiert. Man las sich das so durch und dachte, das ist ja eine völlige Farce, diese ganzen Verfassungsschutzämter, die nichts voneinander wissen."
Zugleich habe aber vor allem der Modus der Auseinandersetzung mit dem NSU in ihm das Gefühl hervorgerufen, dass das "total faschistoid" ist: "Es gab eine gewisse Engstirnigkeit und Betonköpfigkeit auf beiden Seiten der Debatte. Wenn diese Engstirnigkeit und Betonköpfigkeit das beherrschende deutsche Element ist und wir die Inhalte mal weglassen, dann kommt man relativ schnell bei 'Heil' raus."
In den meisten deutschen Filmen, die in der Zeit des Nationalsozialismus spielten, erkenne er einen "typisch deutschen Abspaltungsreflex", sagte Brüggemann. "Ich habe keine Lust, mich über Neonazis lustig zu machen. Das hat schon wieder so einen Abspaltungsreflex, dass man sich mit Neonazis auseinandersetzt und dann die Gemeinsamkeiten auslöscht, die Unterschiede betont und sie sich dann gegenüberstellt als etwas, mit dem ich rein gar nichts zu tun habe."
Die Suche nach der eigenen Verführbarkeit
Er interessiere sich viel eher für die Frage, warum Millionen Menschen Hitler wählten und was sie an ihm fasziniert habe: "Wo wäre meine eigene Verwundbarkeit dafür gewesen? Wenn Leute sich selber in diese Zeit hineindenken, dann sehen sie sich alle als Widerstandskämpfer. Aber was wären sie denn realistischerweise gewesen? Was war denn überhaupt geil daran, auf dem Königsplatz zu stehen und den Hitler-Gruß zu machen? Das aufklärerische Potenzial liegt doch da: Die Verführbarkeit an sich selber zu finden!"
Dietrich Brüggemann setzt seine ungewöhnlichen Drehbücher mal mit formaler Strenge, dann wieder mit anarchischem Vergnügen in Szene. In seinem Film-Universum kämpft ein pubertierendes Mädchen aus erzkatholischer Familie gegen ihr "sündiges Ich" ("Kreuzweg", 2014), marschieren Neonazis in Polen ein ("Heil", 2015) und ein Kommissar sucht den gewaltfreien Ausweg aus einer nicht enden wollenden Wiederholungsschleife von Morden ("Murot und das Murmeltier", 2018). Brüggemann wuchs mit drei Schwestern in einer streng religiösen Familie auf und versteht sich heute als Materialist. Auf dem neuen Album seiner Band "Theodor Shitstorm" singt und spielt Dietrich Brüggemann gemeinsam mit Desiree Klaeukens über "Schuld", "Depression" und "Kunst".