Mit einem Film die Trauer und den Schmerz teilen
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Hao Wu hat von New York die Arbeit an der Dokumentation "76 Days" über das Leben und Sterben im abgeriegelten Wuhan gestartet. Zwei Co-Regisseure filmten vor Ort und sind sogar in Hospitäler hineingekommen. Einer will aus Furcht nicht genannt werden.
Susanne Burg: Die Pandemie begleitet uns nun schon ein gutes Jahr. Wir wissen inzwischen sehr viel mehr über Covid-19 als Ende Januar, als der Lockdown in Wuhan als erster Stadt der Welt begann. Wie hat es sich für Sie verändert, sich das Material über dieses Jahr hinweg anzusehen?
Hao Wu: Ich habe Anfang Februar angefangen, an dem Film zu arbeiten, Anfang April habe ich mit dem Schnitt begonnen. Ich habe viel Material gesichtet und nach einem Zugang gesucht. Das alles war ein schmerzhafter Prozess, weil die Bilder von der Corona-Front im Krankenhaus von Wuhan so brutal und bewegend waren. Aber inzwischen sehe ich es als eine Art Therapie an, die Trauer und den Schmerz mit anderen in einem Film zu teilen und auch dafür zu sorgen, dass es nicht vergessen wird.
"Nicht verstanden, wie ernst die Situation war"
Burg: Es ist inzwischen historisches Material. Lassen Sie uns an die Anfänge gehen. Sie waren in Schanghai während des Lockdowns in Wuhan. Sie haben versucht, Informationen aus Wuhan zu bekommen. Welches Bild haben Sie sich damals machen können und wie war das im Vergleich zur Atmosphäre in Schanghai, wo es noch keinen Lockdown gab?
Hao Wu: Ich bin am 23. Januar von New York aus nach Schanghai geflogen. Wir hatten die Tickets schon lange und wollten das chinesische Neujahr mit meinen Eltern und meiner Schwester verbringen. 24 Stunden vor der Abfahrt erfuhren wir vom Lockdown in Wuhan. Wir haben damals nicht ganz verstanden, warum die chinesische Regierung das tat und wie ernst die Situation in Wuhan war.
Auch wenn Schanghai weit von Wuhan ist, sobald Wuhan im Lockdown war, ist der Rest Chinas in einen freiwilligen Shutdown gegangen. Die Atmosphäre in Schanghai war gespenstisch. Zum chinesischen Neujahr gab es keine Menschen auf der Straße, kaum Autos, alle sind zu Hause geblieben und haben über die sozialen Medien versucht, herauszubekommen, was los ist. Es gab noch nicht so viele Informationen von den staatlichen Medien.
Zugang zu den Krankenhäusern
Burg: Sie gingen dann wieder zurück nach New York, haben recherchiert und zwei Filmemacher beziehungsweise Reporter in Wuhan gefunden, mit denen Sie kommuniziert und den Film entwickelt haben. Sie haben in vier verschiedenen Krankenhäusern in Wuhan gedreht, auf den Covid-19-Stationen. Wie kam es, dass sie dort drehen durften?
Hao Wu: Ich habe in New York versucht, in Krankenhäuser zu kommen, und habe es nicht geschafft – alleine schon wegen der Privatsphäre der Patienten und Haftungsfragen. In Wuhan war der Zugang zu den Krankenhäusern beschränkt auf Patienten, das medizinische Personal und Reporter.
Zum Glück sind meine beiden Co-Regisseure Reporter: Weixi Chen arbeitet für Esquire in China, er ist aber auch Filmemacher. Er ist auf eigene Faust in die Krankenhäuser gegangen, um die Situation festzuhalten. Er hatte Kontakte zu medizinischem Personal in China, das nach Wuhan zur Unterstützung gesendet wurde, und ist auf diesem Weg auf die Stationen gekommen.
Mein anderer Co-Regisseur, der anonym bleiben will, ist Fotojournalist für eine lokale staatliche Zeitung. Er kannte alle Krankenhäuser, hat mit dem Direktor gesprochen und kam so hinein, um Fotos zu machen und zu filmen. Die Entscheidung lag bei den einzelnen Krankenhäusern.
Am Anfang, als absolutes Chaos in Wuhan herrschte und die Krankenhäuser dringend Schutzkleidung brauchten, haben sie Reporter eingeladen, damit die Menschen außerhalb von Wuhan sahen, wie dramatisch die Situation war. Sie hofften so, Hilfe zu bekommen. Als meine Co-Regisseure dann einmal drin waren, hatte niemand die Zeit und Energie, auf sie zu achten. Sie konnten sich ziemlich frei bewegen.
Kleine, menschliche Gesten
Burg: Die Situation war dramatisch. Im Film zeigen Sie auf den Covid-19-Stationen sehr konzentriert arbeitendes Personal, von Kopf bis Fuß in Schutzkleidung. Es gibt eine Szene, in der sie die Tür zum Warteraum öffnen und man sieht, wie voll es draußen ist. Die Leute versuchen, hineinzukommen. Da versteht man die Dramatik. Wie schwierig war es mit dem Material, das Sie hatten, die Dramatik der Situation zu zeigen?
Hao Wu: Gute Frage. Ich konnte ja nur mit dem Material arbeiten, das ich hatte. Als wir mit dem Schnitt begannen, haben wir viel darüber diskutiert, ob wir Handyvideos von anderen Menschen aus den sozialen Netzwerken mit einbauen sollten, um zu zeigen, wie groß die Panik in der Stadt war. Aber ich hatte das Gefühl, diese Bilder sind schon zu bekannt und letztendlich haben wir unserem eigenen Material vertraut, dass es auch diese Angst und Panik vor dem Unbekannten vermitteln kann.
Burg: Die Patienten und Ärzte in ihrer Schutzkleidung, die aussieht, als würden sie auf eine Weltraummission gehen, vermitteln schon eine große Bedrohung. Mir scheint es so, als wollten Sie in dieser chaotischen Situation aber auch die kleinen menschlichen Gesten zeigen.
Hao Wu: Meine Perspektive auf den Film hat sich im Laufe der Zeit verändert, als ich sah, wie sehr alle Regierungen damit kämpften, Maßnahmen gegen die Pandemie zu entwickeln. Meine Co-Regisseure hatten viele Details aufgenommen, wie Menschen sich dabei helfen, die Pandemie zu überleben – und sei es nur, dass eine Krankenschwester versucht, die Uhr einer Verstorbenen an die Angehörigen zurückzugeben, die aber nicht in Wuhan wohnen. Das wollte ich zeigen.
Ich habe das auch aus Mailand, Madrid oder hier aus New York gehört. Und vielleicht gerade, weil die Menschen von Kopf bis Fuß in Schutzkleidung stecken und man noch nicht mal ihr Gesicht sehen kann, kann man sich auf ihre Taten, ihre Bewegungen, ihre Worte konzentrieren.
Hoffnung und Angst der Co-Regisseure
Burg: Sie waren von Anfang an recht skeptisch, was die Reaktion der chinesischen Regierung auf den Ausbruch der Krankheit angeht. Ab wann und wie hat die chinesische Regierung ihrer Meinung nach versucht, das Narrativ um die Pandemie zu steuern?
Hao Wu: Die Art und Weise, wie die Regierung auf die Medien eingewirkt hat, was die Covid-19-Berichterstattung angeht, änderte sich schrittweise. Ende Januar und Anfang Februar gab es eine ziemlich große Freiheit in der Berichterstattung, weil die Situation einfach so chaotisch war. Mehrere chinesische Zeitschriften haben investigative Recherche betrieben und versucht rauszufinden, wie sich das Virus verbreitet hat.
Im März hat die Regierung dann sehr stark begonnen, alles zu kontrollieren. Es gab viele internationale Schuldzuweisungen, vor allem vonseiten der Trump-Regierung, die immer vom "chinesischen Virus" sprach – und das führte zu großen Spannungen in den Beziehungen Chinas und der USA.
Burg: Wie Sie eben sagten: Ab März begann die Regierung, stärker zu kontrollieren. Ihre Co-Regisseure hörten auf, mit Ihnen zu arbeiten. Was mussten die beiden fürchten und wie haben Sie sie dennoch dazu gebracht, dass Sie das Material nutzen durften?
Hao Wu: Ich habe meine beiden Co-Regisseure nie persönlich kennengelernt. Für sie war es schwer, mir zu vertrauen. Wir haben nie zusammengearbeitet. Ich kenne sie nur über Bekannte. Ich wohne in den USA. Sie wussten nicht, ob mein Blick auf die Situation der gleiche ist wie ihrer. Was, wenn ich ihr Material nehme und damit irgendetwas tue, was überhaupt nicht ihren Intentionen entspricht?
Ich habe mich also hingesetzt, sehr schnell einen Rohschnitt fertiggestellt und ihn beiden den gezeigt. Daraufhin sind sie doch wieder an Bord gekommen und haben mir erlaubt, den Film mit ihrem Material fertigzustellen.
Burg: Warum will einer anonym bleiben und der andere nicht?
Hao Wu: Weixi Chen arbeitet und lebt in Peking. Er ist ein angehender Dokumentarfilmer. Er will Teil dieses Projektes sein. Der andere, der Anonyme, arbeitet als Fotojournalist für eine staatliche Zeitung. Er arbeitet im System und hat Angst vor potenziellen Angriffen, vonseiten der Regierung und von "patriotischen" Internettrollen, die gefährlich sind und dir deinen Job kosten können. Er sagte also: Lasst mich da raus. Ich will nur sicherstellen, dass ich meine Arbeit behalte und dass es meiner Familie gut geht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.