Regisseur Mike Leigh

"Wir sind sterblich und alles andere als perfekt"

Regisseur Mike Leigh bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes.
Regisseur Mike Leigh bei den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen von Cannes. © ALBERTO PIZZOLI / AFP
Moderation: Susanne Burg |
In seinem neuen Spielfilm "Mr. Turner – Meister des Lichts" porträtiert Regisseur Mike Leigh den britischen Maler William Turner. Im Interview erklärt er, warum sein Film trotz der Schönheit der Kunst sehr viel Hässlichkeit zeigt.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben früher viel Theater gemacht, aber Sie hat das Flüchtige frustriert, haben Sie mal gesagt. Und Sie haben sich dem Film zugewandt, der bleibender ist. Was hat das mit Ihnen angestellt, sich nun mit einem Meister auseinanderzusetzen, dessen Werke, sagen wir mal, plus/minus 200 Jahre alt sind?
Mike Leigh: Wir wissen nicht, was man über Turners Gemälde in 10.000 Jahren oder in einer Million Jahren denken wird, das weiß man nicht. Man weiß nur, dass es sich um große Kunst handelt. Und wenn man sich das anschaut, spürt man einfach: Turner lebt. Der ist lebendig, wenn man ihn sich anschaut, macht das etwas mit dir als Betrachter. Du fängst an, über dich selbst, über deine eigene Existenz nachzudenken. Also, wenn man sich ein Gemälde von Turner anschaut, wenn man davorsteht und das auf sich wirken lässt, dann sieht man kein altes Kunstwerk, sondern es ist der Ausdruck unserer Existenz auf der Erde.
Deutschlandradio Kultur: Im Film zeichnen Sie William Turner als einen sehr dicken, mürrischen, wortkargen, aber auch sehr hoch sensiblen Menschen und vor allem als einen sehr eigenständigen Kopf. Wie zentral waren diese Charaktereigenschaften für seine Kunst?
Leigh: Na ja, das Ding bei Turner ist - und das ist auch so faszinierend -, das ist, dass er auf der einen Seite eben so leidenschaftlich war, dass er mit dieser großen Intensität gearbeitet hat und dabei voller Fehler natürlich auch war. Einige Fehler sind sympathisch, andere vielleicht etwas weniger. Und auf der anderen Seite steht dann eben dieses spirituelle und auch epische Werk. Und auch diese Spannung, dieses Spannungsfeld zwischen den beiden Extremen, das hat mich so interessiert.
"Zwei Jahre einen Lehrer an die Seite gestellt"
Deutschlandradio Kultur: Timothy Spall spielt William Turner. Wie viel Timothy Spall steckt in William Turner?
Leigh: Nun, in Timothy Spall kommt mehreres zusammen. Erstens, wir haben schon öfter miteinander gearbeitet, ich weiß, wie ernst er sich als Schauspieler nimmt, wie sehr ihn diese Arbeit ausfüllt. Zweitens, er ist ein echter Londoner, er stammt wirklich aus der Arbeiterklasse, er versteht den Geist, er versteht den Sinn auch dieser Sprache und dieser Zeit. Drittens ist er ein wahrhafter Dickens-Experte, er hat unglaublich viel über Charles Dickens gelesen, er kennt sich sehr gut aus in diesem 19. Jahrhundert, in dieser Sprache und auch in diesem Feeling, in diesem Geist, der damals herrschte.
Und viertens, ich wusste, dass er so auf einem gewissen Level auch ein Amateurmaler ist. Das hat natürlich nicht ausgereicht, zwei Jahre lang haben wir ihm einen Lehrer an die Seite gestellt, damit er gelernt hat, wirklich ordentlich zu malen.
Timothy Spall als der Maler William Turner in dem Film "Mr. Turner - Meister des Lichts".
Timothy Spall als der Maler William Turner in dem Film "Mr. Turner - Meister des Lichts".© picture alliance / dpa / PROKINO Filmverleih GmbH
Deutschlandradio Kultur: Sie erklären ja nicht wirklich viel, also, es gibt ja keine Jahreszahlen in dem Film, man muss sich den Kontext so ein bisschen selber auch überlegen. Was man aber weiß oder was auch durchkommt: Turner war Jugendlicher, als die Französische Revolution stattfand, in England erlebt er die Industrielle Revolution mit. Wie viel wollten Sie diesen historischen Kontext mit erzählen, ohne dass der Film jetzt zum Geschichtsunterricht wird?
Leigh: Nun, die Handlung dieses Films erstreckt sich von 1825 bis 1851, bis zum Tod von Turner. Und in der Zeit hat sich England wirklich sehr verändert, von King George bis hin zu Queen Victoria. Und man sieht ja auch, wie die junge Königin Victoria Turners Arbeit hasst. Man sieht auch in diesem Film, am Anfang reisen alle noch in Pferdekutschen und dann so langsam, am Ende sieht man, dass sie in Zügen reisen und so etwas wie die Fotografie plötzlich auftaucht. Aber ich wollte die Zeit nicht durch Label erklären, ich wollte nicht irgendwo hinschreiben, in welchem Jahr man sich befindet, ich wollte es ein bisschen subtiler machen, ich wollte, dass die Übergänge fließen. So spürt man schon, man sieht auch, dass Turner natürlich altert.
Damit wollte ich eben keine Geschichtslektion erteilen. Die Zeit ist trotzdem sehr akkurat und sorgfältig konstruiert worden. Es gibt gewisse Dinge, die damals sehr wichtig waren wie die Schlacht um Trafalgar, die historisch gesehen damals eine sehr große Bedeutung hatte, über all das wird geredet. Also, wir haben schon einen Sinn für Geschichte, aber wir wollen keine akademische Geschichtsstunde geben.
"Das war damals revolutionär"
Deutschlandradio Kultur: Und manche Sache, wie Sie eben sagten, erwähnen Sie ja auch sehr direkt. Zum Beispiel wollte William Turner, dass seine Bilder an einem Ort ausgestellt werden, dass nicht lauter Privatleute die Bilder kaufen und überall im Land verteilen. Er wollte, dass die Bilder gratis zugänglich sind, und deswegen wollte er sie auch an die britische Nation vermachen. Wie revolutionär war das?
Leigh: Das war damals revolutionär. Das einzige Museum der Welt, was wirklich Gemälde ausgestellt hatte, war damals der Louvre. Die National Gallery in London kam sehr viel später. Und so ein Konzept von einem öffentlichen Museum, in das man hineingehen könnte, um sich Bilder kostenlos anzuschauen, das gab es nicht. Damals sind alle Bilder privat gekauft worden. Und ich habe es in dem Film nicht weiter behandelt, aber es stimmt einfach historisch: Am Ende seines Lebens hat Turner seine Bilder wieder zurückgekauft. Und das, was man heute sehen kann in London - also in der Tate Gallery oder in der National Gallery -, das beruht auf dieser Kollektion, auf dieser Sammlung von Turner.
Deutschlandradio Kultur: Sie zeigen im Film auch Landschaften, die Turner fasziniert haben. Es sind wunderschöne Landschaften, selbst wie ein Gemälde. Aber Sie zeigen sie nur für einige Sekunden. Können dann die filmischen Landschaften doch kein Äquivalent sein zur Malerei? Oder anders gefragt: Welches Verhältnis haben die Naturbilder im Film zu der Natur von William Turner?
Leigh: Was wir in dem Film ganz bewusst gemacht haben, ist, wir wollten diesen Look, wir wollten diesen Geist, wir wollten diese Atmosphäre, die Turner geschafft hat. Die wollten wir in gewisser Weise schon wiederherstellen, indem wir für den Film die Farbpalette Turners benutzt haben. Also, mein großartiger Kameramann Dick Pope hat es, glaube ich, sehr schön geschafft, und auch mein Designer.
William Turners Bilder in der Tate Gallery in London.
William Turners Bilder in der Tate Gallery in London.© picture alliance / dpa / EPA/ANDY RAIN
Wir wollten damit die Arbeiten Turners evozieren, eben auch die Art, wie wir Landschaft filmen, wie wir das Meer filmen. Wir haben gedacht, das ist sehr viel spannender zu machen als jetzt einfach nur nachzustellen, wie Turner etwas malt. Das wäre nicht sehr interessant geworden und das hätte auch den Fluss des Films und den Fluss der Geschichte unterbrochen. Insofern ist es schon da, man sieht es in dem Film, aber wir wollten es jetzt nicht besonders herausstellen.
"Das ist das Paradox unserer Existenz"
Deutschlandradio Kultur: Sie erwähnten die Schönheit der Natur. Es ist aber auch interessant, es gibt sehr viel Hässlichkeit in dem Film. William Turner hat faulige Zähne, seine Haushälterin kranke Haut. Der Film zeigt Schönheit bei größter Hässlichkeit. Welches Verhältnis haben für Sie diese beiden Pole, Schönheit und Hässlichkeit?
Leigh: Ja, das ist eines der Themen des Films. Wir sind sterblich, wir sind alles andere als perfekt. Wir werden alt, wir verfallen langsam und wir sterben. Und im 19. Jahrhundert, da gab es eben so etwas nicht wie Zahnhygiene, und diese Frau hat eben massive Hautprobleme. Und das ist auch von allen Zeitgenossen damals so beschrieben worden. Und vielleicht im 20. oder 21. Jahrhundert hätte man ihre Hautkrankheit heilen können, aber damals eben noch nicht.
Und was wir im Film zeigen, ist eben ein Künstler, aber in seiner täglichen Arbeit. Und die ist schmutzig, die ist dreckig, er muss sich die Ärmel hochkrempeln und erst mal sein Handwerk industriell herstellen, das ist ein Prozess. Auf der anderen Seite hat Turner eben auch diese unglaublich subtilen, poetischen Bilder geschaffen und dieses Werk gemacht, was von der Schönheit der Welt handelt. Das ist eben das Paradox unserer Existenz.
Deutschlandradio Kultur: Sie zeigen ihn als einen sehr freien Geist. Natürlich ist der Film jetzt keine Fabel mit einer Moral oder mit einer Übertragbarkeit, aber inwieweit ist es dann doch auch ein Plädoyer für eine Freiheit des Geistes, auch ein bisschen die Verpflichtung eines Künstlers zu einer eigenen Vision, so einer Art unkorrumpierbaren Unabhängigkeit?
Leigh: Nun, dieser Film verhandelt zwei Probleme. Einerseits geht es um den Künstler, es geht um seine Visionen, es geht darum, wie wichtig es ist für ihn als Künstler, etwas zu schaffen. Das ist der eine Aspekt. Aber dann - und das ist wahrscheinlich der wichtigere Aspekt dieses Films und davon handeln irgendwo auch all meine Filme - ist, dass man sich selbst treu bleibt, dass man versucht, sich nicht anzupassen, Fragen von Anpassung und Nichtanpassung spielen in meiner Arbeit eine große Rolle, dass man sich die individuelle Freiheit nimmt in einem sozialen Kontext, dass man einerseits versucht, bourgeoisen Ideen konform zu werden, andererseits auch wieder aus diesen bourgeoisen Ideen ausbrechen kann. Ich glaube, das ist ein Thema, was sich durch alle meine Filme zieht.
Deutschlandradio Kultur: Mike Leigh, vielen Dank!
Leigh: Thank you, thank you.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.