Regisseur Oleg Senzow in russischer Haft

Hungern hinterm Polarkreis

Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow vor dem russischen Militärgericht im Nord-Kaukasus, aufgenommen im August 2015
Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow vor dem russischen Militärgericht im Nord-Kaukasus, aufgenommen im August 2015 © imago/ITAR-TASS
Von Inga Lizengevic |
Der ukrainische Filmregisseur Oleg Senzow sitzt seit vier Jahren in russischer Lagerhaft - er gilt als politischer Gefangener. Seit einem Monat ist er im Hungerstreik. Der soll aufmerksam machen, dass Dutzende seiner Landsleute in einer ähnlichen Situation sind.
Ein sonniger Tag in Kiew. Auf dem Maidan haben sich rund tausend Leute versammelt. Viele halten Fotos von Oleg Sentsov in die Höhe.
"Für uns ist die Senzow-Frage der Dreh- und Angelpunkt der Krim-Frage."
Das sagt ein Mann Anfang 50, der ein T-Shirt mit Senzow-Portrait trägt. Die Demonstranten fordern die Freilassung des ukrainischen Filmregisseurs Oleg Senzow. Der 41-Jährige verbüßt eine 20-jährige Haftstrafe in einem russischen Straflager hinter dem Polarkreis.
Seit dem 14. Mai befindet sich Oleg Senzow in einem unbefristeten Hungerstreik.Wie viele Künstler und Intellektuelle nimmt er im Winter 2013/14 an den Maidan-Protesten teil. Als er im Februar 2014 auf die Krim zurückkehrt, hat die russische Invasion bereits begonnen.
Ich besuche Anna Sandalowa. Sie erinnert sich an die Krim-Annexion.
"Damals wurden die Militäreinrichtungen auf der Krim blockiert. Die Menschen kamen nicht mehr heraus. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung hat Oleg mich kontaktiert. Das war Anfang März."
Im Frühjahr 2014 ermöglicht sie gemeinsam mit Oleg Senzow die Flucht tausender ukrainischer Armee-Angehöriger von der Krim.
"Er hat bei den Regimentsleitungen geklärt, wie viele Plätze nötig sind. Wie viele Kinder dabei sind. Wie viel Gepäck. Er hat die Busse organisiert, und wir haben sie empfangen und bezahlt."

Annexion der Krim rechtfertigen

Auf der Kundgebung tritt jetzt Natalia Kaplan ans Mikrofon. Natalia ist Oleg Senzows russische Cousine.
"Oleg setzt seinen Hungerstreik fort. Ich hoffe, dass wir es mit eurer Unterstützung schaffen, ihn da herauszuholen. Und auch die anderen ukrainischen politischen Gefangenen."
Nach der Kundgebung lädt Natalia mich zu sich nach Hause ein. Natalia ist 37, vier Jahre jünger als Oleg Senzow. Ihre schmalen Schultern hängen etwas nach vorn. Sie wirkt erschöpft.
"Ich habe seit vier Jahren keinen Urlaub gehabt."
Seit vier Jahren, seit der Festnahme Olegs durch russische Behörden, kämpft sie unermüdlich für ihren Cousin.
"Er wurde gefoltert. Aber selbst unter Folter hat er nicht ausgesagt. Dann wurde ihm mitgeteilt, OK, wir machen dich zum Rädelsführer, du wirst am meisten bekommen. Er sollte zugeben, Terroranschläge vorbereitet zu haben, seine Zusammenarbeit mit dem 'Rechten Sektor'. Das, was man brauchte, um die eigene Propaganda zu unterfüttern. Man wollte ja die Annexion der Krim rechtfertigen."
Wir sitzen in der kleinen Küche von Natalias Kiewer Wohnung. Moskau hat sie vor zwei Jahren verlassen – nach dem ihre Konten gesperrt wurden, die Bespitzelung offensichtlich und die politische Lage für sie unerträglich wurde.

Weitere Ukrainer als politische Gefangene

Am 10. Mai 2014, erzählt sie, wird Oleg vor seinem Haus in Simferopol verhaftet und von einem russischen Militärgericht wegen angeblicher terroristischer Aktivitäten verurteilt. Der Kronzeuge widerruft später seine Aussage und gibt an, er sei gefoltert worden.
Aus einem Moskauer Gefängnis wird Senzow in Etappen zum Gericht nach Rostow gebracht. Nach dem Urteil folgen weitere Etappen. Olegs Cousine Natalia zieht kräftig an ihrer Zigarette.
"Die Etappe ist in Russland eine legale Folter. Menschen werden von einem Gefängnis in ein anderes gebracht. Die Verpflegung ist schlecht, die Waggons sind stickig und eng. Unterwegs gibt es provisorische Gefängnisse. Vier Betten, sechs Personen. Stellen sie sich das vor. Ein kleines Zimmer, fensterlos, vier Schlafplätze, sechs Männer und ein Klo, mitten im Zimmer. Danach kam Oleg ins fernöstliche Jakutien. Dort gab es Protestaktionen. Daraufhin wurde er nach Labytnangi geschickt, hinter den Polarkreis."
Oleg wird von russischen und internationalen und Menschenrechtsorganisationen als politischer Gefangener anerkannt. Die Ukraine fordert mehrfach seine Auslieferung. Doch seine Chancen stehen schlecht. Als Einwohner der Krim wird der Ukrainer von Russland automatisch als russischer Staatsbürger betrachtet.
"Der nächste Schritt muss von der Politik kommen. Von der internationalen Politik. Die Ukraine schafft das nicht."
In Russland ist der Fall Senzow Chef-Sache. Putin persönlich hat sich mehrfach dazu geäußert. Mit seinem Hungerstreik möchte Senzow auf mindestens 64 Ukrainer aufmerksam machen, die wie er aus politischen Gründen in Russland in Haft sitzen.
"Oleg hat gesagt: Wenn ich während der Fußballweltmeisterschaft sterbe, wird mein Tod Resonanz haben. Das bringt Aufmerksamkeit für die anderen politischen Gefangenen. Das ist seine Haltung."
(abr)
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